Besuch bei Buzzfeed: Katzenvideos und Investigativ-Recherche
„Ist das die Zukunft des Journalismus? Querfinanzierung über Katzenvideos und Kochbücher?“, fragt Veronika Wulf in der Süddeutschen Zeitung nach einem Besuch in der Berliner Redaktion von Buzzfeed. Drei Mitarbeiter arbeiten für die Reichweite (Tipps für Analsex, Quiz, Rezepte), vier Reporter betreiben investigative Recherchen (Kosten für den Podcast von Kanzlerin Angela Merkel, Mobbing-Vorwürfe gegen Direktorin eines Max-Planck-Instituts). Chefredakteur Daniel Drepper will von anderen Medien zitiert werden, was ihm auch gelingt. Sein Motto: „Wilde Ideen ermutigen.“
Quelle: Süddeutsche Zeitung, Medien, 29. Januar 2019
Berthold Flöper und die Zeitung der Zukunft: Lokal durchkomponiert
Die „Drehscheibe“-Redaktion hat für Berthold Flöper, der Ende 2018 in den Ruhestand gegangen ist, eine Sonder-Drehscheibe herausgegeben, in der Weggefährten auf Begegnungen und Projekte mit ihm zurückblicken. Berthold L. Flöper war seit Mitte der 90er Jahre Leiter des Lokaljournalistenprogramms der „bpb“.
Paul-Josef Raue erinnerte sich in der Extra-„Drehscheibe“ an einen Kongress und ein Buch über die Zukunft der Zeitung, zusammen mit Flöper 1994 organisiert:
„Wir brauchen die Tageszeitung mehr denn je – um zu verstehen, was die Mächtigen vorhaben; um mitwirken zu können in der Demokratie, die ja Sache aller Bürger ist.“ So leiteten wir vor knapp einem Vierteljahrhundert einen Kongress ein, zu dem hundert Chefredakteure, Verleger, Journalisten, Wissenschaftler und „Datenverarbeitungs-Experten“ gekommen waren; Berthold Flöper und Paul-Josef Raue organisierten und moderierten in Königswinter: „Zeitung der Zukunft – Zukunft der Zeitung“.
Wir standen am Beginn der digitalen Medienära, schauten erstaunlich klar und selbstbewusst in die Zukunft und wussten schon: „Die Zeitung wird sich in vielem ändern müssen. Das jedenfalls werden Publikumserwartungen und neue Medien gleichermaßen provozieren.“ Das E-Paper, die Hoffnung der Branche, hieß noch „Bildschirmzeitung“: „Sie scheint trotz aller Skepsis eine aussichtsreiche Zukunft zu haben – vor allem wegen ihrer handwerklichen Benutzbarkeit.“ Erinnern wir uns überhaupt noch an die klobigen Rechner im Jahr 1994?
Schwergewichte aus der Branche sprachen – und einige prophetisch:
- „Journalistisch mitreißend sollten sie sein, innovativ und leidenschaftlich engagiert“, forderte Gerd Schulte-Hillen, der Gruner+Jahr-Chef – und meinte die Verleger, die sich ändern müssten. Erst zwei Jahrzehnte später hat Julia Jäckel bei G+J die Forderung eingelöst.
- „Journalisten sollen Ordnung in die Welt bringen. Wir brauchen keine Missionare“, ermahnte Dieter Jepsen-Föge, Chefredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“, als keiner „Lügenpresse“, AfD und Pegida auch nur ahnen konnte.
- „Das Problem sind nicht die Leser, sondern die Schreiber“, analysierte Art Nauman, Ombudsmann der Hauptstadt-Zeitung aus Kalifornien. Erst vor wenigen Wochen ist die deutsche Ombudsleute-Vereinigung in Deutschland gegründet worden.
- „Journalisten sind weder Politiker noch Pädagogen. Sie haben die Leser nicht an die Hand zu nehmen“, mahnte Dieter Golombek, Chef des Lokaljournalisten-Programms der Bundeszentrale für politische Bildung. Ihm folgte Berthold Flöper nach.
- „In meiner Zeitung werden die Machenschaften der Politik zu wenig aufgedeckt“, war einer der heftigsten Vorwürfe der Leser in der „Opus“-Forschungsmethode, die Cornelia Tomaschko, Redakteurin aus Karlsruhe, vorstellte. „Opus“, wie ein Spiel aufgezogen, war ein analoger Vorläufer des digitalen „Lesewert“ aus Dresden, mit dem Lesequoten in Zeitungen ermittelt werden und Redakteure erstmals erfahren, was überhaupt gelesen wird.
Berthold Flöper schloss mit der Forderung nach einer „nach dem lokalen Prinzip durchkomponierten Zeitung“. Was wir bekommen haben sind Synergien und Zentralredaktionen.
Paul-Josef Raue führte in seiner Kress-Journalismus-Kolumne ein Interview: „Flöpers Plädoyer für einen öffentlich-rechtlichen Lokaljournalismus“, ebenso das Medium-Magazin in Heft 7/2018: „Die Totgesagten leben noch heute“.
Leyendecker: Alltag eines Lokalredakteurs ist schwieriger als der eines Spiegel-Reporters
Im Journalismus gibt es unterschiedlichste Formen von Leistungsdruck. Wenn ein Redakteur in der Lokalredaktion täglich drei Seiten füllen muss, dann ist das für mich echter Druck. Ein Lokalredakteur muss ja nicht nur die Beiträge von nicht einmal freien Mitarbeitern völlig umbauen, sondern am Ende des Tages müssen drei Lokalseiten mit möglichst interessanten News gefüllt sein. Welchen Druck hat im Vergleich dazu derjenige, der beim Spiegel fünf Wochen lang an einem Ort verweilen kann, um eine anständige Geschichte zu liefern?
Hans Leyendecker im Interview mit dem journalist auf die Frage: „Relotius soll nach seiner Enttarnung gesagt haben: ,Es ging nicht um das nächste große Ding. Es war die Angst vor dem Scheitern.‘ Spricht so ein Statement für einen extremen Leistungsdruck im Journalismus?“
Journalisten wie Relotius, so Leyendecker, seien „verdammt privilegiert“:
Der Alltag eines Lokalredakteurs ist dagegen viel schwieriger, viel komplizierter, aber genügend Leute meistern den tagtäglichen Parforceritt mit Bravour. Ein Relotius hat in meinen Augen keine Ahnung davon, was Druck wirklich bedeutet.
„JOURNALISMUS!“ – Das waren die Themen des Kolumnenjahres 2018
Ein Kolumnen-Jahr in Zahlen: „Journalismus!“ auf „kress.de“ erschien 50 Mal mit 65.000 Wörtern und fast einer halben Million Zeichen. Das waren die Themen (die Zahl vorweg ist die Gesamt-Zählung: Am Ende des Jahres waren 127 Kolumnen seit 2016 erschienen):
78 – Ein etwas anderer Rückblick: Was nicht zum Thema wurde
- Januar 2018 – https://kress.de/mail/news/detail/beitrag/139310-ein-etwas-anderer-rueckblick-was-nicht-zum-thema-wurde.html
79 – Leute, Ihr müsst Euch ändern! Das erste Interview mit dem jungen Verleger der „New York Times“
80 – Die vier goldenen Regeln der journalistischen Qualität – Medienprofessor Bucher im Gespräch
81 – Die Renaissance der Zeitschriften
82 – Grubenhund und Konjunktionen: Die zehn wichtigsten Bücher über Zeitungen
- Februar 2018 – https://kress.de/news/detail/beitrag/139497-grubenhund-und-konjunktionen-die-zehn-wichtigsten-buecher-ueber-zeitungen.html
83 – Was ist eigentlich Haltung im Journalismus?
84 – Wie Journalismus jeden einzelnen, die Gesellschaft und die Demokratie retten kann
- Februar 2018 – https://kress.de/news/detail/beitrag/139608-wie-journalismus-jeden-einzelnen-die-gesellschaft-und-die-demokratie-retten-kann.html
85 – Wie „Main Post“-Chefredakteur Michael Reinhard mit einem Recherche-Fehler umging
86 – Trend 2018: Wie Zeitungen immer „magaziner“ werden
- März 2018 – https://kress.de/news/detail/beitrag/139713-trend-2018-wie-zeitungen-immer-magaziner-werden.html
87 – Zeitungen als Genossenschaft: Macht Leser zu Eigentümern!
- März 2018 – https://kress.de/news/detail/beitrag/139765-zeitungen-als-genossenschaft-macht-leser-zu-eigentuemern.html
88 – Herr Gniffke, sind Sie objektiv?
89 – Lokaljournalismus nach dem Krieg: „Da hing mal ein Hitler-Porträt“
90 – Der Thriller-Bestseller-Autor, der seine Karriere als Lokalredakteur begann
91 – Alle Geschichten sind lokal: Wie Facebook Redaktionen umgarnt
92 – El Salvador: Journalist im Land mit der höchsten Mordrate der Welt
93 – Zur Nachahmung empfohlen: „SZ“-Redakteure gehen zu Werkstattgesprächen in Schulen
94 – Was zeichnet einen „Lokaljournalisten par excellence“ aus?
95 – „1968“: Wie der „Stern“ Fotos manipulierte
96 – Navid Kermani, Denk-Verbote und eine Langzeit-Reportage
97 – Ein außergewöhnlicher Ombudsmann: Domprediger Hempel
98 – Im Paradies der Lokalzeitung: Starke Leser und starkes Design
99 – Tanit Koch über den Unsinn eines Journalismus-Studiums und von Frauen-Quoten
100 – Der Konjunktiv: Wie Journalisten ihn richtig nutzen – und meiden können
101 – Der Merkel-Trump-Schnappschuss und die Wahrheit des Journalismus
102 – Journalismus der Zukunft: Es geht um alles – Demokratie und freie Presse
103 – 11 Punkte zur Gründung eines Online-Magazins: Das Modell „Neon“
104 – Lesewert-Forscher: Wir müssen die Zeitung neu denken
- Juli 2018 – https://kress.de/mail/news/detail/beitrag/140655-lesewert-forscher-wir-muessen-die-zeitung-neu-denken.html
105 – Die 15 besten Lesewert-Tipps für die Zeitung der Zukunft
106 – Warum Paul-Josef Raue zur Sommer-Lektüre von „Evian 1938“ rät
106 a – „TA“-Chefredakteur Johannes M. Fischer entschuldigt sich für antisemitischen Kultur-Artikel
107 – Wie Lokalredakteure die Demokratie retten
- Juli 2018 – https://kress.de/news/detail/beitrag/140796-wie-lokalredakteure-die-demokratie-retten.html
108 – Wenn Lokalzeitungen Politik machen: „Verschwörerisch“ vor der OB-Wahl
109 – WAZ-Lokaljournalismus nach dem Krieg: „Kumpel Anton“ mit „verdorbenem Deutsch“
110 – Warum der „San Francisco Chronicle“ die Anti-Trump-Kampagne nicht unterstützte
111 – Die Ergebnisse der größten Untersuchung deutscher Lokalteile
112 – Sarrazin im „Stern“ – ein misslungenes Interview
- September 2018 https://kress.de/news/detail/beitrag/141014-journalismus-kolumne-sarrazin-im-stern-ein-misslungenes-interview.html
113 – Lokaljournalismus in Chemnitz: „Es bedarf keiner Dramatisierung“
- September 2018 https://kress.de/news/detail/beitrag/141060-paul-josef-raue-ueber-lokaljournalismus-in-chemnitz-es-bedarf-keiner-dramatisierung.html
114 – Interview mit Ulrich Wickert: „Ein Journalist muss erklären, warum die Menschen Trump gewählt haben“
115 – Ex-„Spiegel“-Reporter Dieter Bednarz und die Angst vor dem Vorruhestand: „Älter als 35 ist alt“
116 – Lokal-Journalisten in der DDR: Am Tisch der Mächtigen
- Oktober 2018 – https://kress.de/mail/news/detail/beitrag/141229-lokal-journalisten-in-der-ddr-am-tisch-der-maechtigen.html
117 – „Wir hassen Langeweile!“
- Oktober 2018 – https://kress.de/news/detail/beitrag/141275-journalismus-kolumne-wir-hassen-langeweile.html
118 – Darf Facebook nach Gusto löschen? Nein, sagt der Jurist
- Oktober 2018 – https://kress.de/mail/news/detail/beitrag/141381-journalismus-kolumne-darf-facebook-nach-gusto-loeschen-nein-sagt-der-jurist.html
119 – Die „Landeszeitung“ in Lüneburg wird zur Wundertüte
120 – Ist der Journalismus mit „Online first“ zu retten?
5.November 2018 https://kress.de/mail/news/detail/beitrag/141479-paul-josef-raue-kolumne-ist-der-journalismus-mit-online-first-zu-retten.html
121 – Warum die arte-Doku „Mission Wahrheit“ stärker als „House of Cards“ ist
122 – Wie bekämpft man „Fake News“ wirksam?
- November 2018 https://kress.de/news/detail/beitrag/141595-journalismus-kolumne-wie-bekaempft-man-fake-news-wirksam.html
123 – Zu Besuch in Colby, einer kleinen Lokalzeitung in den USA
- November 2018 – https://kress.de/news/detail/beitrag/141638-journalismus-kolumne-zu-besuch-in-colby-einer-kleinen-lokalzeitung-in-den-usa.html
124 – Twitter als Recherche-freie Zone: Grüne verbieten den Adventskranz!
- Dezember 2018 – https://kress.de/mail/news/detail/beitrag/141685-twitter-als-recherche-freie-zone-gruene-verbieten-den-adventskranz.html
125 – Flöpers Plädoyer für einen öffentlich-rechtlichen Lokaljournalismus
126 – Wie Karl Kraus die Fake News erfand
- Dezember 2018 – https://kress.de/news/detail/beitrag/141804-journalismus-kolumne-wie-karl-kraus-die-fake-news-erfand.html
127 – Die Relotius-Fälschungen: Kein Fehler im System, aber ein Fiasko der Qualitätssicherung
Donnerstag, 20. Dezember 2018 – https://kress.de/mail/news/detail/beitrag/141817-die-relotius-faelschungen-kein-fehler-im-system-aber-ein-fiasko-der-qualitaetssicherung.html
Altersgrenze beim Deutschlandfunk: Nach 75 ist Sendeschluss
Der emeritierte Prof. Hans-Jürgen Benedict, ehemals Dozent an der Evangelischen Hochschule für Diakonie, erzählt von der Altersgrenze für Autoren beim Deutschlandfunk:
„Ich musste vor zwei Jahren aufhören, als Theologe beim Deutschlandfunk Kultur in Berlin kirchliche Rundfunksendungen zu verfassen. Dort gibt es bei den Verkündigungssendungen die Regel, dass man mit 75 Jahren aufhört. Man soll so jüngeren Kollegen die Gelegenheit eröffnen, in diese Rundfunkarbeit hineinzuwachsen. Ich gebe zu, dass es für mich nicht ganz einfach war, auf diese Mitarbeit zu verzichten. Ich war ja noch nicht senil geworden oder dazu nicht mehr in der Lage. Aber auf einmal gehörte ich zum „alten Eisen“. Das ist nicht so einfach hinzunehmen. Aber es gab auch neue Freiheiten. Weniger Stress wegen der Anfertigung, der Redaktion und der Aufnahme einer Sendung. Und: Weil ich immer in Berlin die Aufnahmen machte, hatte ich auf einmal mehr Zeit für meine dort lebenden Enkel.“
Immerhin kann Hans-Jürgen Benedict noch beim NDR seine Beiträge veröffentlichen wie diesen in den „Glaubenssachen“ am Sonntagmorgen. Denn:
„Noch bin ich wie andere Senioren aktiv. Aber kann ich auch eine Resignation im positiven Sinne üben? Das heißt, man resigniert nicht verbittert und vorwurfsvoll, sondern mit der Haltung: es ist Zeit etwas niederzulegen und abzugeben. Zum Beispiel bei einem altgewordenen Politiker oder Firmenchef die Macht abzugeben und sich zurückzuziehen. Der Zauberer Prospero in Shakespeares Drama „Der Sturm“ gibt zum Schluss die Herrschaft über seine Insel auf. Wer nicht von selbst in diesem positiven Sinne ‚resignieren‘ kann, wird dann oft von den Jüngeren dazu gezwungen.“
„Endzeitstimmung“ in den Medien
Jörg Seewald entdeckt bei den Münchner Medientagen „eine gewisse Endzeitstimmung mit Blick auf die rasant in alle Geschäftsfelder wachsende Künstliche Intelligenz“. (FAZ 25.10.2018) Der Autor Andrew Keen („How to fix the future“) setzte noch drauf: „Wenn wir nicht die Zukunft gestalten, gestaltet sie uns. Nur weil das Silicon Valley in den letzten dreißig Jahren nicht reguliert wurde, konnten sich dort die Monopolisten etablieren. Wird jetzt nichts unternommen, wird die KI-Revolution die letzte Erfindung der Menschheit sein.“
Und Bayerns Medien- und Digitalminister Georg Eisenreich findet Wohlstand wichtiger als „unsere Werte“, womit wohl Freiheit und Demokratie gemeint sind. „Es geht in der Medienpolitik um unseren Wohlstand, unsere Wirtschaft und unsere Werte“. Seewald präzisiert: In genau dieser Reihenfolge verteidigte der Minister den Willen Bayerns, Medienstandort Nummer eins in Deutschland zu bleiben.
„Die Bürger haben das Vertrauen verloren“ – Interview zu „Chemnitz“ im Südkurier
Herr Raue, dass ein rechter Mob die Straßen in Chemnitz beherrscht, haben Sie so etwas kommen sehen?
Im Osten muss man wahrscheinlich viel öfter als im Westen damit rechnen, dass so etwas passiert. Nach den Vorkommnissen der letzten Tage muss man schlicht und einfach sagen, dass vor allem die Polizei und die Politiker in Sachsen, aber auch in den anderen Bundesländern damit rechnen müssen. Wenn man sich das erbärmliche Schauspiel anschaut, wie der Polizeipräsident bei der Pressekonferenz auftrat, oder dass der Bundesaußenminister sich schämt, dass das Ausland jetzt auf uns schaut, dann muss man sagen: Sie müssen wissen, dass der Rechtsradikalismus im Osten keine Banalität ist, die man vernachlässigen könnte.
Was gerade in Chemnitz passiert ist, das hat in Sachsen System. Gerade in den letzten Jahren gab es ja immer wieder dramatische rechte Vorfälle. Wie konnte es so weit kommen?
Ich glaube, dass ein Großteil der Bürger dort das Vertrauen in die politische Führung verloren hat. Das ist seltsamerweise in Sachsen sehr verbreitet. Sachsen ist ein wirtschaftlich erfolgreiches Bundesland, neben Thüringen das erfolgreichste im Osten, das zum Teil mit süddeutschen Bundesländern mithalten kann. Es hat nach der Wende mit Kurt Biedenkopf einen Ministerpräsidenten gehabt, der in der politischen Bildung nicht der stärkste war, der aber für die Menschen einen Wohlstand geschaffen hat, mit dem sie leben können. Von den äußeren Bedingungen passt das also nicht zu einer solchen Entwicklung. Was genau dort schief läuft, ich glaube, das weiß keiner so recht.
Erschreckend ist ja auch, dass sich die Hitlergrüße in Chemnitz in der braunen Menge gar nicht mehr zählen ließen, so viele waren es.
Wir erleben auch im Westen, dass Ausländer gejagt werden, also Szenen, die unwürdig sind für dieses Land. Man muss sich auf die Suche nach den Ursachen machen und vor allem fragen, wie es sein kann, dass die grausame Zeit des Nationalsozialismus wieder als Lösung für die Gegenwart gesehen werden kann.
Die Polizei hatte trotz mehrerer Hundertschaften und Wasserwerfern keine Chance gegen die grölenden Neonazis, die sich unglaublich schnell zusammengerottet hatten. Das zeigt ja
auch, dass es in Sachsen eine ganz andere Basis gibt.
Ja, wobei wir es hier mit dem Phänomen der sozialen Netzwerke zu tun haben. Ich glaube nicht, dass es unbedingt mehr Leute sind, aber diese sind natürlich viel schneller zu mobilisieren. Man
muss sich nur anschauen, wie Rechtsradikale im Osten Konzerte organisieren und die Leute an einem Abend an drei verschiedene Orte locken und die Polizei gar nicht mehr hinterherkommt. Was
in Chemnitz passiert ist, hat vom Ausbruch und der Gewalttätigkeit her eine neue Qualität. Aber dass sich viele Leute mobilisieren lassen, das beobachten wir im Osten schon seit Jahren.
Sie waren ja ab 1999 Chefredakteur der Magdeburger Volksstimme und ab 2009 der Thüringer Allgemeinen. Wie haben Sie den Osten Deutschlands damals erlebt und was hat sich
seitdem verändert?
Ich glaube nicht, dass sich viel verändert hat. Diese seltsame Unruhe, die in großen Teilen Deutschlands zu spüren ist, gibt es auch im Osten. Doch den Menschen dort fehlen 50 Jahre allmählicher, ruhiger Entwicklung und politischer Bildung. Sie haben die Institutionen nicht wachsen sehen und nicht gemerkt, wie ein Rechtsstaat funktioniert. Man sieht das auch an den Wahlergebnissen: Bei der Bundestagswahl lag die AfD in Sachsen zum ersten Mal auf Platz eins. Das werden wir im Westen, denke ich, so leicht nicht erleben. Auf der anderen Seite ist es erstaunlich, welch hohes Vertrauen die Polizei im Osten genießt. Bei der Frage, welchen Institutionen die Menschen am meisten vertrauen, steht die Polizei an zweiter Stelle. Nur die Stiftung Warentest hat höhere Werte.
Aber Sie sprechen von einer Unruhe unter den Menschen. Woher kommt diese?
Wir haben eine Fremdenfeindlichkeit in diesem Land, die im Osten höher ist als im Westen. Das nützen die AfD und die rechten Kräfte aus. Es ist eine diffuse Angst vor all dem, was man Globalisierung und Digitalisierung nennt. Die Lage in Polen und Ungarn, aber auch mit Trump in den USA ist instabil geworden. Das macht den Menschen Angst. Die Politiker zeigen hier zu wenig Perspektiven und Lösungsmöglichkeiten auf.
Auffallend ist, dass gerade in ursprünglich kommunistisch regierten Ländern, wie Polen und Ungarn, rechtsextremistische Strömungen Zulauf haben. Wie passt das zusammen?
Was in Polen eher passiert, ist ein Erstarken des Nationalismus. Die Polen können mit Europa nichts anfangen, sie wollen es eher wieder wegschieben. Dort ist es die Angst einer Gesellschaft, die zusammenrückt, weil sie sich von außen bedroht fühlt. So kommt der Nationalgedanke verstärkt hoch, was aber zunächst wenig mit Rechtsextremismus zu tun hat. Das sind sehr schwierige Fragen. Hier genügt es nicht zu sagen, dass das schlimm ist, was in Polen und Ungarn passiert, sondern weshalb Europa nützlich ist.
Vergangene Woche wurde ein ZDF-Kamerateam bei einer Pegida-Demonstration in Dresden eine Dreiviertelstunde von der Polizei festgehalten. Der Mann, der das Team angegriffen hat, entpuppte sich als Mitarbeiter des sächsischen Landeskriminalamtes. Sind Behörden und Polizei im Osten auf dem rechten Auge blind?
Bei der Polizei gibt es bestimmt häufiger eine rechte Gesinnung als in der übrigen Gesellschaft. Ich bin mir nicht sicher, ob alle Polizisten wissen, wie wichtig der Journalismus für eine demokratische Gesellschaft ist. Wird in der Ausbildung das Verhältnis zu den Medien thematisiert, wissen sie über die Rechte von Journalisten Bescheid? Es ist wichtig, dass hierüber mit Innenministern, Polizeipräsidenten und Polizeiakademien geredet wird. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das an den Polizeischulen nicht ausreichend gelehrt wird. Wir müssen die Polizei stärken, nicht nur finanziell, sondern auch, was Ausbildung und Mannstärke angeht. Auch beim G-7-Gipfel in Hamburg haben wir ein Versagen der Polizei erlebt.
Die AfD ist in Sachsen laut einer aktuellen Umfrage zweitstärkste Kraft. CDU und SPD kämen nicht mehr auf eine Mehrheit. Was meinen Sie dazu vor dem Hintergrund von Chemnitz, wenn Sie auf die Landtagswahl in Sachsen im kommenden Jahr schauen?
Wenn ich mir diesen hilflosen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer in Sachsen anschaue, dann wird’s mir schon bange. Erstmal wie lange er gebraucht hat, um überhaupt Worte zu finden. Als er sich dann äußerte, nahm er die Polizei in Schutz. Und das war’s. Er muss doch irgendwann mal sagen: Wir müssen jetzt handeln. Wenn das in den nächsten Wochen und Monaten nicht passiert, wird das für die gesamte Gesellschaft eine ganz schwierige Wahl. Wenn die Parteien keine Regierung mehr bilden können, ohne die AfD, dann ist das nicht nur ein Problem für Sachsen, sondern für uns alle.
„Zeit“-Redakteure: Faktenfuzzis und Selbstironie-Verweigerer
Die Zeit kann in der aktuellen Ausgabe über sich schmunzeln: Dimitrij Kapitelman beschreibt in seinem Wespen-Artikel die „Zeit-Redaktion als einen Haufen ins ökologische Gleichgewicht vernarrter Faktenfuzzis“.
Ist das eine Reaktion auf Ex-Dumont-Zeitungsvorstand Franz Sommerfeld? Der schrieb im European über die „gesunde Form der Selbstironie“ als einer Gabe, „mit der Mitarbeiter der ,Zeit‘ nicht im Übermaß gesegnet sind“. Sommerfeld ging dabei auf die Liberalität der „Zeit“ ein:
„Theoretisch kann jeder über alles schreiben, die Zeit versteht sich schließlich als liberales Blatt. In der Praxis hat diese Freiheit allerdings Grenzen, und zwar genau dort, wo der Bereich beginnt, den (Vize-Chefredakteur) Ulrich für sich beansprucht: also große Texte über die Kanzlerin und die langen Linien der Politik. Flüchtlingspolitik ist Chefsache, Ideologiekritik erst recht.“
In Sommerfelds Artikel ging es um Mariam Lau, die im Auftrag der Redaktion einen Contra-Beitrag über Seenot-Rettung im Mittelmeer geschrieben hatte. Nach Protesten der Leser distanzierte sich die Chefredaktion von der Redakteurin. „Fürsorgepflicht schwerwiegend verletzt“, kommentierte Sommerfeld.
Soll ein Journalist in einem Bericht über die AfD Haltung demonstrieren?
Gilt die Trennung von Kommentar und Nachricht auch, wenn es um Positionen geht, die der Journalist nicht teilt und mit ihm wahrscheinlich die Mehrzahl der Leser? Ist die Haltung des Journalisten, die wohl viele Leser teilen, wichtiger als die Urteils-Bildung der Leser?
Ein Beispiel: Die Welt berichtet über einen Facebook-Post von Lars Steinke, Chef einer AfD-Jugendorganisation: „Stauffenberg-Diffamierung – Ein Facebook-Post erschüttert die AfD“. Der AfD-Politiker Steinke bezeichnet in dem nicht öffentlichen Facebook-Beitrag den Hitler-Attentäter Stauffenberg als „Verräter“.
Die Empörung über das Zitat ist in vielen Artikeln zu lesen. Ein Redakteur der Braunschweiger Zeitung tut allerdings , was ein Journalist zu tun hat: Er spricht mit dem jungen Politiker, lässt ihn zu Wort kommen und kommentiert die Äußerungen in seinem Bericht:
- (Zum Politiker-Zitat, er nehme Abstand vom „Verräter“) „Allerdings klang das halbherzig.“
- „Diese Erklärung passt rein gar nicht zum Wort ,Verräter‘.“
- Die Erklärung „dafür, dass er Stauffenberg als ,Feigling‘ bezeichnete, klingt nicht gerade nachvollziehbar.
- (Zur Recherche, der Politiker habe vier Monate als Aushilfe in der Landtagsfraktion gearbeitet:) „All das hört sich nach einem Rauswurf an.“
Dem Einwand des Politikers geht der Journalist nicht nach, „Verräter“ sei Teil einer Diskussion gewesen und aus dem Zusammenhang gerissen: Nur – wie verlief denn die Diskussion? Wie war der Zusammenhang?
Auch wenn die meisten Leser der Haltung des Redakteurs zustimmen: Ist es nicht sinnvoller, wenn sich die Leser ihre Meinung selber bilden? Nur – was wäre die Alternative zur Mischung von Bericht und Kommentar? Den Unsinn eines Politikers einfach so stehen lassen und auf die Urteilskraft der Leser hoffen?
Ein Interview als Protokoll des Gesprächs wäre die ideale Lösung, in dem der Redakteur seine Einwände als Frage formuliert und der Leser den Streit zwischen den beiden verfolgen kann; oder ein Bericht ohne Wertungen und ein getrennter Kommentar.
Übrigens teilt der AfD-Vorsitzende Gauland die Haltung der meisten Redakteure: Das Zitat des jungen Politikers sei „bodenloser Schwachsinn“.
Lohnenswerte Bücher zur Medienethik
Können Sie uns lohnenswerte Bücher zum Thema Medienethik nennen?
Zwei fallen mir ein: „Ethik im Redaktionsalltag“, herausgegeben vom Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses, und die Seiten zur Ethik im Werk „Das neue Handbuch des Journalismus und Online-Journalismus“ von Wolf Schneider und Paul-Josef Raue.
Dr. Christof Haverkamp, Jahrgang 1961, seit 2016 Chefredakteur der Bistumszeitung „Kirche+Leben“ (Münster) in der „Tagespost“ vom 26. Juli 2019
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