Der Weltuntergang 2012
„Der Weltuntergang 2012 findet nicht statt“ steht auf einer Bauchbinde in Packpapier-Anmutung, die das Katholische Bibelwerk um die neue Ausgabe ihrer Zeitschrift „Bibel und Kirche“ geschwungen hat. Das Heft widmet sich dem Thema „Bilder-Macht. Die Johannesapokalypse“.
Ein „Zwischenruf“ im Heft macht klar: Der abgesagte Weltuntergang bezieht sich nicht auf die Bibel, sondern auf den Maya-Kalender. Der Astronom Florian Freistetter weist nach, dass der Weltuntergang am 21. Dezember keine Glaubenssache ist, sondern einfach falsch – was er schlüssig beweist.
Der Rest ist esoterischer Wind. Gleichwohl wird wohl vor Heiligabend nicht nur die Bildzeitung daraus so manchen Aufmacher stricken.
Für Journalisten lohnt diese Spezial-Lektüre, um die Wirkung von Sprachbildern zu ergründen: Die Johannes-Offenbarung als Untergrund-Literatur, in der Rom als reiche Hure und gieriges Raubtier auftritt – ohne dass die Zensoren es verstanden.
(zu: Handbuch-Kapitel 17-18 Wie Journalisten recherchieren)
„Warum?“ – TA-Titelseite zu 10 Jahre Amoklauf in Erfurt
Eine Reihe von Redakteuren bat um die Titelseite der Thüringer Allgemeine zum 10-Jahrestag des Amoklaufs am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt:
Ratschlag für Reporter: Sich einfach treiben lassen
Willy hatte mir empfohlen, mich einfach treiben zu lassen. „Die interessantesten Geschichten findet man sowieso immer da, wo man sie nicht erwartet“, hatte er gesagt. „Das ist wie im Leben.“
Das war noch einmal eine Passage aus Marion Braschs Autobiografie „Ab jetzt ist Ruhe“.
Sie erinnert mich an meine Zeit als Lokalchef: Wir waren ein kleines Team, und ein älterer kluger Kollege riet uns, einmal in der Woche für ein paar Stunden oder sogar den ganzen Tag einfach durch die Stadt oder durch die Dörfer zu streifen, genau hinzuschauen, mit den Leuten quatschen, zu einem fremden Frisör zu gehen.
Wir haben das jahrelang gemacht, dabei die schönsten, manchmal auch schlimme Geschichten erfahren, eben Überraschendes. Wir haben es genossen. Und ich kann es noch jedem Lokalredakteur empfehlen, jedem Reporter. Das ist auch keine Frage der Zeit, sondern des Wollens, der Freude an den Menschen, ja es ist die Lust auf Menschen.
Das Überraschende gefällt auch den Lesern. Die Zeitung kann noch so gut geordnet, noch so brillant geschrieben sein, wenn sie nur genau das enthält, was die Leser erwarten, wird sie dennoch langweilig. Es ist zwar ein Grat, auf dem die Lokalredakteure balancieren: nicht zu viel Gewohntes und nicht zu viel Neues.
Aber diese Balance schafft den Rhythmus der Zeitung, den die Leser mögen.
PS. Sich treiben lassen, das macht die junge Marion Brasch in London. Das ist jedem in einer fremden Stadt zu empfehlen: Erst die Stadtrundfahrt, um alle Antiquitäten zu fotografieren, dann in die Seitenstraßen gehen, immer weiter.
Amoklauf und die ewige Frage: Warum?
Zum zehnten Jahrestag des Amoklaufs am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt stellte die Thüringer Allgemeine auf der Titelseite die Frage „Warum?“ und gab 15 Experten die Gelegenheit, eine Antwort zu geben:
- Warum kann Politik Amokläufe nicht verhindern? (Bernhard Vogel, Ministerpräsident a.D.)
- Warum lässt Gott dieses menschliche Leid zu? (Joachim Wanke, katholischer Bischof in Erfurt)
- Warum ändern Politiker trotz der Amokläufe nicht radikal das Waffenrecht? (Christine Lieberknecht, Ministerpräsidentin)
- Warum müssen wir uns an Gewaltverbrechen, Täter und ihre Opfer erinnern? (Volkhard Knigge, Historiker, Direktor der Gedenkstätte Buchenwald)
- Warum fehlen uns oft die Worte, Leid und Trauer angemessen auszudrücken? (Landolf Scherzer, Schriftsteller)
- Warum sind Menschen (auch) böse? (Rüdiger Bender, Philosoph)
- Warum sind Behörden bei solchen Verbrechen scheinbar ohnmächtig? (Manfred Ruge, Erfurts Oberbürgermeisters vor zehn Jahren)
- Warum ist es wichtig, dass wir die ganze Wahrheit kennen? (Eric T. Langer, Angehöriger)
- Warum tat sich die Politik so schwer damit, die Thüringer Schule zu verändern? (Hans-Jürgen Döring, SPD-Landtagsabgeordneter)
- Warum werden brutale Videospiele nicht verboten? (Prof. Klaus P. Jantke, Fraunhofer-Institut)
- Warum tut sich Erfurt so schwer mit der Erinnerung an den Amoklauf? (Birgit Kummer, TA-Redakteurin)
- Warum dürfen Waffen immer noch in Privathaushalten verwahrt werden? (Harald Dörig, Bundesrichter und Ehrenvorsitzender Schulförderverein Gutenberg-Gymnasium)
- Warum fällt es uns schwer, uns oder etwas zu ändern, obwohl es falsch oder gefährlich ist? (Prof. Frank Ettrich, Soziologe)
- Warum arbeiten so wenig Sozialarbeiter und Psychologen an Schulen? (Christoph Matschie, Kultusminister)
- Warum können Angehörige nicht aufhören, die Gesellschaft zu mahnen ? (Gisela Mayer, Angehörige aus Winnenden)
Mit Wahlkämpfern unterwegs: Bier auf dem Markt
In 49 Dörfern und kleineren Städten waren die Volontäre der Thüringer Allgemeinen unterwegs, bevor die Wähler am Sonntag ihre Bürgermeister und Landräte bestimmen durften; vor den Stichwahlen in zehn Tagen ist das „TA-Wahl-Mobil“, ein Elektro-Auto, weiter im Einsatz.
Auf den 49 Wahlmobil-Fahrten erlebten die Volontäre allerlei amüsante Geschichten. Tino Nowitzki hat einige aufgeschrieben:
Eigentlich war das Thema eben ernst gemeint. Gerade noch erzählen die Kandidaten von Plänen zur Finanzgesundung und den vielen Visionen, die sie für ihre Stadt haben. Da klirrt es plötzlich hinter ihnen.
„Ich dachte, die Herren hätten vielleicht Durst“, sagt ein fröhlich grinsender Mann, der gerade aus seiner Bar geeilt kommt, und hält ein Tablett mit sechs Gläsern Bier in die Runde. Der eine zögernd, der andere dankbar, setzen die Männer zu einem kräftigen „Prost!“ an. Die seriösen Politikermienen entkrampfen sich im Handumdrehen zu strahlenden Gesichtern.
Freilich war diese Szene vom Wahlmobil in Heiligenstadt ein fröhlich-perlender Einzelfall. Und doch sind uns auf den 49 Fahrten zu Thüringens Marktplätzen und Rathäusern neben wichtigen Themen auch viele Kuriositäten begegnet.
Und Heiligenstadt im Eichsfeld hatte davon sogar gleich zwei zu bieten: In keiner anderen Stadt nimmt man es wohl so genau mit Regeln und Verordnungen. So kommt es, dass wir dort schon mal gefragt wurden: „Haben Sie eigentlich eine Genehmigung für das, was Sie hier machen?“
Aber die Eichsfelder Liebe zur Ordnung hatte auch seine guten Seiten: Die gesamte Zeit über wurde das Treffen mit Heiligenstadts Bürgermeisterkandidaten argwöhnisch von einem Polizeibeamten bewacht. Der wohl sicherste Termin der Serie.
Darfs eine Flagge sein? Oder ein Espresso?
Anderen Orts ging es dagegen vergleichsweise chaotisch zu: In Nordhausen zum Beispiel waren wir zuerst verblüfft von der offenen und geselligen Art der fünf Kandidaten, die sich auch miteinander prächtig zu verstehen schienen. Die Ungezwungenheit ging am Ende aber so weit, dass die Bewerber lieber untereinander klönten und ein Wahlmobilreporter alle Mühe hatte, die Gruppe bei Disziplin zu halten. So schnell lässt sich eine Respektsperson in Uniform vermissen.
Bald wurde uns klar: so bunt Thüringens Landschaften sind, so vielfältig sind auch seine Kommunalpolitiker. Während die einen im Umgang mit Medien eher unsicher wirkten, strotzten andere vor Professionalität: Da kam es schon mal vor, dass ein Kandidat mit eigener Werbe-Flagge um die Ecke bog. Ein anderer verteilte unbefangen Tütchen mit löslichem Espresso – darauf das lächelnde Gesicht des Bewerbers.
Manchmal waren wir aber auch froh, überhaupt zum Termin am Rathaus zu finden. Vor allem dann, wenn die Gemeinde-Zentrale zuvor clever versteckt wurde – zum Beispiel in einem unscheinbar wirkenden Wohnhaus in Fretterode oder in einer alten Dorfschule in Bufleben.
Überhaupt hat uns wirklich überrascht, wie verschieden doch die Arbeitsplätze von Thüringens Bürgermeistern aussehen. Vom fast feudalen Amtssitz aus der Renaissance mit Giebeln und Türmchen (Gotha) bis zum Mietbüro mit Briefkasten im Plattenbau (Seebach) war alles dabei.
Auch mit Bürgern war es nicht nur leicht. Wo sie hinzukamen, stellten sie meist wichtige und erhellende Fragen. Hin und wieder aber mischte sich auch ein Querulant darunter, der Kandidaten und Publikum mit ellenlangen Vorträgen traktierte. Nicht selten, so stellte sich heraus, handelte es sich dabei um einen getarnten Partei-Sympathisanten.
Andere Bürger – meist ältere – fanden die Art und Weise, wie die Treffen stattfanden, so gar nicht vergnüglich: Dem einen war es zu früh oder zu spät, der andere fragte: „Warum haben Sie eigentlich keine Bänke zum Sitzen mitgebracht?“ Anregungen, die wir für die Zukunft aufnehmen werden.
Und da wäre noch das Auto. Dessen offizieller Titel „Wahlmobil“ sorgte beim einen oder anderen Bürgermeisterkandidaten für Verwirrung. „Ist das schon alles?“, hieß es dann. „Ich hatte einen Bus erwartet“.
Enttäuscht war auch so mancher, als wir statt Elektroauto mit einem „herkömmlichen“ Vehikel um die Ecke bogen. Doch der Wechsel war dann und wann nötig, allein um gewisse Strecken überhaupt zu meistern. Zumindest hat uns das gezeigt, welche erstaunliche Fan-Basis unser kleiner Strom-Mitsubishi inzwischen hat.
Als es mit der Stromladung einmal besonders knapp wurde, hieß es gar Zwischenladen mitten im Thüringer Wald, in Ilmenau. Zum Glück gibt es dort seit Kurzem eine Elektrotankstelle der Stadtwerke am Bahnhof.
Doch mal eben so Strom zapfen? Gar nicht so einfach. Für die Nutzung mussten wir uns registrieren, einen Pfand von 20 Euro hinterlegen und bekamen dafür unsere „eMobility-Card“ mit Nummer 01: Die ersten Kunden überhaupt. Dafür konnten wir unser Ladekabel andocken und schafften es zurück zur Erfurter Redaktion.
Trotz aller Widrigkeiten: Genossen haben wir die Tour durch Thüringens wählende Gemeinden allemal. Sie hat uns gezeigt: Hinter den strahlenden Gesichtern auf Wahlplakaten stecken ganz normale Menschen. Menschen, die in den letzten Wochen um jede Stimme gekämpft haben.
Da sei auch ein erfrischendes Pils gegönnt.
/ Thüringer Allgemeine, Freitag, 20. April 2012
(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)
Vor 10 Jahren: Der Amoklauf in Erfurt
Am 26. April 2002 ermordet ein 19-jähriger im Erfurter Gutenberg-Gymnasium sechzehn Menschen: zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Schulsekretärin, einen Polizisten – und sich selbst. Der Amoklauf ist ein Schock für alle, stürzt ein Land in Trauer, bringt Menschen nahezu um den Verstand, weil keiner, bis heute, versteht, wie ein junger Mensch noch am Anfang seines Leben zu diesen Morden fähig ist, sorgfältig geplant, mit Kalkül ausgeführt.
Eigentlich sollte man schweigen, wenn solch Unbegreifliches geschieht. In welcher Sprache sollte man überhaupt sprechen? Schon die Wahl der Worte ist schwer: Darf man von einem Amoklauf sprechen? Das Wort verweist eher auf eine spontane Tat. Darf man von einem Massaker sprechen? Das Wort erinnert eher an tausendfachen Mord, gar Völkermord.
Für die Angehörigen der Opfer wäre Schweigen die beste Lösung. Ihr Schmerz verdoppelt sich durch jedes Bild, jeden Text, der in der Zeitung steht oder jeden Film, der im Fernsehen läuft. Auf der anderen Seite muss auch eine Gesellschaft eine solche Tat zu verstehen versuchen, darf sie nicht verschweigen – zum einen um Vorsorge zu treffen, zum anderen um herauszufinden, was schief läuft im Umgang miteinander, vor allem in der Bildung der jungen Generation.
Die Morde am Erfurter Gymnasium blieben ja auch kein Einzelfall in Europa: 2009 ermordete ein 17jähriger in Winnenden nahe Stuttgart 15 Menschen, zuerst in einer Realschule, dann auf der Flucht; 2011 ermordete ein 32jähriger 94, meist junge Menschen in einem Ferienlager auf der norwegischen Insel Utoya.
Im Editorial zum Buch „Der Amoklauf“, nach einer Serie in der „Thüringer Allgemeine“, ist weiter zu lesen:
Nach den Morden am Gutenberg-Gymnasium haben die Medien zu Recht harte Kritik einstecken müssen. Journalisten haben viele Fehler, zum Teil unverzeihliche Fehler gemacht, vor allem auf der Jagd nach Gesichtern, Bildern und intimen Szenen. Sie haben oft die Trauernden nicht in Ruhe trauern lassen. Dass diese Kritik auch in den Medien selber hinreichend wahrgenommen und diskutiert worden ist, zeigt, dass unsere Demokratie zumindest robust ist und lernfähig.
Das Problem der Journalisten ist, wenn sie nicht nur Sensationen suchen, die Balance zwischen Distanz und Nähe:
• Sie brauchen Distanz, gar kühlen Abstand, um sich nicht von den Emotionen übermannen zu lassen und wenigstens die Tür des Verstehens ein wenig öffnen zu können und Verantwortungen zu klären.
• Sie brauchen Nähe, um in allem Respekt mit den Menschen sprechen zu können, sie in ihrem Schmerz zu begreifen, das Unerklärliche vielleicht doch erklären zu können.
Als Journalisten, die in Erfurt leben und arbeiten, zeigen wir den Respekt, weil wir Tür an Tür mit den Menschen leben, die immer noch trauern und vielleicht ein Leben lang trauern müssen. In diesem Respekt und dem Bewusstsein, die Nähe nicht auszunutzen, denken wir zehn Jahre danach noch einmal intensiv an die Morde im Gutenberg-Gymnasium.
Wir wissen, welche Lehren wir aus der Geschichte ziehen müssen: Wer die Wiederholung des Bösen verhindern will, muss sich erinnern, so schmerzlich sie auch sein mag. Wir Erfurter Journalisten, die dieses Buch schreiben, sind uns bewusst: Wir müssen erinnern, ohne die zu verletzen, die immer noch in der Trauer gefangen sind; wir müssen fragen, welche Details nach zehn Jahren wieder erzählt und welche Fotos noch einmal gezeigt werden sollten.
Die TA-Serie und das Buch wollen erinnern und gedenken. Geschildert werden noch einmal das Geschehen am 26. April 2002 und seine Folgen. Nichts soll vergessen sein. Vor allem aber kommen Menschen zu Wort, die diesen Tag als Angehörige, Augenzeugen oder Helfer unmittelbar erleiden mussten. Es ist ihre Geschichte, ihr Schicksal. Niemand kann besser beschreiben, was damals passierte – und wie es Leben und Alltag veränderte.
Die Ereignisse des Schwarzen Freitags von Erfurt sind nahezu lückenlos ermittelt. Dennoch sind auch zehn Jahre danach die Wunden nicht verheilt, die Verletzungen an der Seele schmerzen weiter. Die größte Last tragen die Angehörigen der Opfer, die den Verlust begreifen und mit ihm leben müssen. Aber auch die, die damals Zeuge der schrecklichen Morde wurden oder jene, die den Weinenden und Trauernden beistanden, müssen mit ihren Erlebnissen und Bildern im Kopf klar kommen.
Vor allem stellen wir Fragen, die bis heute nicht erschöpfend beantwortet sind und vielleicht nie beantwortet werden können:
Wie konnte sich ein junger Mann so in Hass und Wut gegen seine Lehrer hineinsteigern?
Wieso blieb sein Plan für den mörderischen Rachefeldzug unbemerkt?
Wir Redakteure danken allen, die an der Serie und dem Buch mitgewirkt haben. Selbstverständlich akzeptierten wir, wenn viele nicht öffentlich erinnert werden wollen – weil ihre Erinnerungen ein einziger Schmerz sind. Manche haben die Kraft und den Mut gefunden, doch zu sprechen.
Wir alle dürfen nicht vergessen.
/Editorial von Paul-Josef Raue „Distanz und Nähe und der Schmerz der Erinnerung“ im Buch „Der Amoklauf. 10 Jahre danach – Erinnern und Gedenken“, erschienen im Klartext-Verlag Essen, 12.95 €; in dem Buch sind die Gespräche mit den Menschen abgedruckt, die diesen Tag als Angehörige, Augenzeugen oder Helfer unmittelbar erleiden mussten“. Die Gespräche, zehn Jahre danach, sind auch in einer Serie der „Thüringer Allgemeine“ erschienen“
(zu: Handbuch-Kapitel 48+49 „Presserecht und Ethik“)
Zum FDP-Parteitag: Politiker drinnen – die Bürger draußen
Birgit Homburger ist drinnen, und wir sind draußen, Sie, die Leser, und ich, der Blogger. Birgit Homburger ist Vize-Vorsitzende der FDP; sie sagte vor dem Parteitag:
„Die FDP muss sich an dem orientieren, was die Menschen draußen interessiert.“
Wenn es ein Draußen gibt, gibt es auch ein Drinnen. Und da sitzen die Politiker, die die Macht haben, die entscheiden, die unter sich bleiben, die wissen, was denen da draußen gut tut – und die vor Wahlen oder bei schlechten Umfrage-Werten mal nach draußen schauen und schaudern.
Wer als Politiker nach draußen schaut, der blickt aus dem Raumschiff in die Wüste des All-Tags. Auch wenn drinnen die Ellbogen spitz sind, die Intrigen besonders schlau und die Kämpfe unvermindert hart, so ist es immer noch kuscheliger als draußen. Zumindest stimmt die Pension, wenn man nicht mehr drinnen ist.
Was die FDP-Vize ausspricht, ist Haltung vieler Politiker in Berlin oder anderen Raumschiffen des Drinnens, gleich welcher Partei. Nur manchen dämmert, dass ihr Raumschiff eigentlich ein Gefängnis sein könnte; dort ist man lieber draußen als drinnen.
Wie werde ich Bürgermeister? – Wahlen im Lokalen
Am heutigen Sonntag (22. April 2012) wählen Thüringer in den meisten Städten und Landkreisen ihre Bürgermeister und Landräte. Die Thüringer Allgemeine hat über viele Woche ihre Leser neugierig gemacht auf die Wahl, die Kandidaten, die Probleme in ihrer Stadt, die Lösungen, die Möglichkeiten.
Mit dem TA-Mobil, einem reinen Elektro-Auto (mit all seinen Tücken), fuhren die Volontäre jeden Tag in eine der kleineren Städte, um mit den Kandidaten auf der Straße zu sprechen; die Leser waren zu diesen Interviews eingeladen, die Termine angekündigt.
Die Volontäre besuchten 49 Städte und Gemeinden, die sie zumeist zum ersten Mal sahen, sie sprachen mit weit über hundert Kandidaten. In seiner Bilanz erzählt Nicolas Miehlke von den finanziellen Schwierigkeiten von Bürgermeistern und Bürgern, von Fördermitteln und der Neuordnung der Gemeinde-Grenzen, aber er schreibt auch (TA 20.4.2012):
In den kleinen Gemeinden haben wir Menschen getroffen,die sich einfach für ihren Ort engagieren wollen, fernab von Parteimeriten. Leute, die reden, wie es ihnen aus dem Herzen kommt, und sich nicht mit Politikersprech ins Ungefähre retten.
In 16 von 49 Kommunen gab es auch keine Widerrede, weil es nur einen Kandidaten gibt und die Wähler nur Ja oder Nein stimmen können.
Alle Artikel, alle mehrspaltig als Aufmacher, standen im Thüringen-Teil der Thüringer Allgemeinen, hatten also die größtmögliche Leserschaft – selbst wenn es um den Bürgermeister einer Gemeinde mit nur wenigen tausend Einwohnern ging.
Mein Leitartikel in der Ausgabe vor der Wahl (21.4.2012) war auch ungewöhnlich, wandte sich an die Bürger, die laut verkünden, das Vertrauen in die Politiker verloren zu haben.
Wie werde ich Bürgermeister?
Haben Sie auch kein Vertrauen mehr in unsere Politiker? Sind Sie enttäuscht von den Parteien? Klopfen Sie ihrem Nachbarn auf die Schultern, wenn er über den Zustand unseres Landes klagt?
Wenn einer sagt: „Es wird immer schlimmer“, nicken Sie dann und wiederholen: „Ja, immer schlimmer.“ Und wissen Sie auch nicht, wie man das ändern kann?
Warum kandidieren Sie nicht? Als Bürgermeister beispielsweise. In einigen thüringischen Städten gibt es nur einen Kandidaten, so dass die Bürger keine richtige Wahl haben.
Warum sagt keiner von denen, die immer nur klagen: Ja, ich werde Bürgermeister! Ich zeige, wie man es besser macht! Ich beweise, dass die Bürger Vertrauen haben können – in mich beispielsweise!
„Das ist ein Scherz“, sagen Sie. Nein, in kleineren Städten reichen ein paar Tausend Stimmen und ein überzeugender Auftritt – und Sie sind gewählt, sogar ohne einer Partei nahetreten zu müssen.
Für die Wahl am Sonntag kommt eine Kandidatur wohl zu spät, aber Sie können es sich ja überlegen: Schon in zwei Jahren beispielsweise wählen die Thüringer die Gemeinde- und Stadträte.
Wenn Sie gewählt wurden, weil ihnen die Bürger vertrauen, dann klagen Sie vielleicht nicht mehr so laut. Vielleicht sagen sie: „Es geht uns eigentlich recht gut in dieser Demokratie. Sicher, manches könnte besser sein, aber ich kann ich ja dafür kämpfen.
In einer Demokratie darf man stöhnen und verdrossen sein ohne Ende. Aber man darf auch mitmachen, es besser machen. Zumindest sollte man wählen gehen.
Am Sonntag auf jeden Fall.
Online sind alle Artikel und Bilder zu sehen auf:
www.wahlen-in-thueringen.de
Dort stehen heute im Wahl-Ticker auch alle Ergebnisse.
(zu: Handbuch-Kapitel 56 „Service und Aktionen“)
Marion Brasch und die Erbsensuppe der Partei
Marion Brasch ist Moderatorin bei Radio Eins (RBB), Tochter des ehemaligen Vize-Kulturministers der DDR, Schwester des Dichters Thomas Brasch, zwar gerade mal 51 Jahre alt, aber schon Autorin einer wunderbar leicht geschriebenen, ironisch-melancholischen Autobiografie.
Das Leben in der DDR war eben auch ein Leben mit einem normalen Alltag, mit der Suche nach Liebe und dem eigenen Weg, mit Ärger und Glück, einem schwierigen Vater und rebellischen großen Brüdern, einer langweiligen Partei, wenn man nicht aufbegehrte, der Musik der Stones, John Lennons und Bob Dylans, der ersten eigenen Wohnung, der ersten Arbeitsstelle.
Marion Brasch lernte nach dem Abitur Setzer in einer Zeitungsdruckerei und erzählt in „Ab jetzt ist Ruhe“:
Einer meiner Kollegen hatte den Satz „Der Parteitag trat in die Mittagspause“ durch die Bemerkung „Es gab Erbsensuppe“ ergänzt. Der Korrektor hatte in dem Satz keinen Fehler gefunden, der Redakteur hatte ihn überlesen, und die Zeitung ging in den Druck.
Der Übeltäter bekam ein Disziplinarverfahren, wurde streng gerügt und musste eine Stellungnahme schreiben. Darin erklärte er, dass Erbsensuppe doch sehr nahrhaft sei und sich die Leser der Zeitung bestimmt darüber freuten, dass die Genossen beim Parteitag das Gleiche zu essen bekämen wie die werktätige Bevölkerung in der Betriebskantine,
Daraufhin wurde ihm auch die Parteitagsprämie gestrichen. Wir legten zusammen, er bekam die Prämie von uns, und es war in Ordnung.
Journalisten als Künstler – einfach provokant
Zum Nachdrehen empfohlen: Ein Reporter der Bildzeitung stellt in der Kunstmesse „Art Cologne“ ein selbst gemaltes Bild aus – „Das ist KUNST“ steht mit dahin geschmierten roten Acryl-Buchstaben auf dem Gemälde, dazu ein paar gelbe Kringel und signiert mit „Mike B.“.
Ermöglicht hat die Aktion ein befreundeter Galerist, der das Bild in die Messe schmuggelte. Bildzeitungs-Reporter Bischoff notiert, wie ihm ein Maler Respekt zollt („provokant“) und eine Kunststudentin das Werk auf mehrere Tausend Euro taxiert. (Bild-Bundesausgabe 20. April 2012)
(zu: Handbuch-Kapitel 32 „Die Reportage“ und 55-56 „Der neue Lokaljournalismus / Service und Aktionen“)
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