Wie viel Breivik darf sein? Die Journalisten zweifeln
Der Bürger ist mündig, er kann und muss sich selber eine Meinung bilden – auch wenn es um so schreckliche Inszenierungen geht wie die des Massenmörders Anders Breivik im Osloer Gericht. Diese Souveränität des Bürgers gehört zum Selbstverständnis der Aufklärung, die den modernen Staat ermöglichte – mit der Pressefreiheit als stabilem Fundament.
Mit welchem Recht verschließen Journalisten ihren Lesern wichtige Informationen, die sie brauchen, um sich eine Meinung bilden und mitwirken zu können in einem Staat, der ihr Staat ist (und nicht der Staat der Journalisten)?
Auch die Aussagen von Anders Breivik klären auf. „Sie sind ein Impfstoff gegen derartige Ideen“, sagt ein norwegischer Anthropologe. Und die norwegische Boulevardzeitung Verdens Gang spricht von der „Demaskierung einer erbärmlichen Gestalt“, wenn man ihn vor Gericht sieht und hört (FAZ 19.4.2012)
Gleichwohl bleibt die Frage für Journalisten: Was ist eine wichtige Information? Wie wirken Bilder des Massenmörders mit erhobener Faust, groß auf eine Zeitungsseite gezogen?
Meike Oblau vom „Westfalenblatt“ in Bielefeld verweist auf ein Stopp-Zeichen in ihrer Zeitung:
„In eigener Sache: Anders Behring Breivik wollte den zweiten Verhandlungstag dazu nutzen, seinen Anschlag zu rechtfertigen. Aus Rücksicht auf die Gefühle der Angehörigen der Opfer und um dem Täter nicht ein Forum für die Verbreitung seiner wirren Gedanken zu bieten, bemüht sich das WESTFALEN-BLATT um eine zurückhaltende Prozessberichterstattung. Dabei war es uns wichtig, auf wörtliche Zitate des Täters weitgehend zu verzichten. Zudem wollen wir keine Fotos zeigen, auf denen provozierende Gesten Breiviks zu sehen sind. Die Redaktion“
„Dagbladet“ ist vorbildlich in der Aufklärung ihrer Leser: Die Redakteure analysieren das „Manifest“ von Breivik, entdecken fehlerhafte Zitate und entdecken sogar von Breivik angegebene Quellen, die es gar nicht gibt (SZ 19.4.2012). Ist das der ideale Weg?
„Auch mit Bloggen kann man etwas werden“
Blogger preisen das Netz, weil sich jeder darin frei bewegen, schreiben und austoben kann. Gleichzeitig tobt die Gemeinde, wenn sich einer aus der Sphäre heraus bewegt, mit sich und seinem Leben experimentiert, sich nicht mehr nur unter Seinesgleichen bewegen will.
„Was dann kam, war schwer zu verdauen“, erinnert sich Katharina Borchert, die Chefin von Spiegel online. Als sie nicht mehr nur die Edel-Bloggerin Lyssa bleiben wollte, sondern umstieg zur Chefin von WAZ-Online (www.der-westen.de), kam nicht nur die erwartete Kritik, sondern kamen „heftigste und persönlichste Anfeindungen ausgerechnet aus den eigenen Reihen, aus der Blogosphäre“.
Dieser Abschnitt ihres Lebens nimmt einen breiten Raum ein im Porträt, das Yvonne Ortmann in „t3n.de“ geschrieben hat:
„Da wurde sie plötzlich mit Schmeicheleien wie „Peitschen-Borchert“ überschüttet, ein Anklang auf ihr manchmal etwas strenges Aussehen mit straffem Pferdeschwanz und dunkler Brille. Der Jubel darüber, dass man auch mit Bloggen etwas werden kann, blieb aus.“
Katharina Borchert sorgte, so sagt sie, für einen „kulturellen Wandel“ in der Essener Online-Redaktion. So war es:
„Frustriert, unterbesetzt, unterfinanziert, ohne Konzept und Strategie, nicht ernst genommen: ein echt tragischer Zustand“.
Was geschah?
„Ich habe mühsam gegen die Auffassung angearbeitet, dass Onlineredakteure Content-Schubser sind, die einfach nur Inhalte von A nach B heben.“
Katharina Borchert definierte die Aufgaben von Online-Redakteuren so:
1. Profis für Multimedia
2. eigene Geschichten schreiben
3. Social Media vorantreiben
4. In Sprache und Inhalt auf die Leserschaft einstellen.
(Zu: Handbuch-Kapitel 7 „Die Online-Redaktion“ und Kapitel 10 „Was Journalisten von Bloggern lernen können“)
Vom Nutzen der Zeitung
Der Besitzer des Campingplatz Utvika will nichts mehr hören und lesen vom Massenmörder Anders Behring Breivik, der am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der norwegischen Insel Utoya 77 Menschen ermordet hatte. Er will den Prozess, der am Montag (16. April) in Oslo beginnt, kaum verfolgen: „Nur am Rande, beim Zeitungslesen.“
(SZ, 14.4.2012, Seite 2)
(zu: Handbuch-Kapitel 53 „Was die Leser wollen“)
Wie Günter Grass von der Waffen-SS schreibt
Günter Grass‘ Mitgliedschaft in der Waffen-SS wird nach seiner harschen Israel-Kritik wieder zum Thema – wie schon 2006, als er erstmals davon erzählte in seinen Jugend-Erinnerungen „Vom Häuten der Zwiebel“. „Warum schwieg er 60 Jahre lang?“, fragt noch einmal Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende der Springer-AG im Kommentar der Bildzeitung vom 5. April. Er fährt fort: „Beim ,Häuten der Zwiebel‘ ist er jetzt ganz innen angekommen. Und der Kern der Zwiebel ist braun und riecht übel.“
Ein Blick lohnt in seine Autobiografie „Vom Häuten der Zwiebel“. Was er von der Waffen-SS berichtet hat, ist eifrig diskutiert worden. Nur – wie hat Grass erzählt?
„Während einer Pause, schon wieder auf dem Rückzug, bin ich einem Mädchen hinterdrein, das – hier bin ich sicher – Susanne heißt und mit seiner Großmutter aus Breslau geflüchtet ist. Jetzt streichelt das Mädchen mein Haar. Mir war Händchenhalten erlaubt, mehr nicht. Das ereignet sich aufregend im heilen Stall eines zerschossenen Bauernhauses. Ein Kalb schaut zu.“
Dies ist meine Lieblingsstelle in „Vom Häuten der Zwiebel“, aus dem die meisten nur eine winzige Passage kennen: Die Revision der Lüge, Grass sei mit 17 Jahren nicht Flakhelfer geworden, sondern Panzerschütze bei der Waffen-SS.
Zu lesen ist die SS-Beichte dreizehn Seiten vor der Episode mit Susanne. Schon der Sprachstil zeigt, wie schwer sich der Dichter mit der Erinnerung an die Waffen-SS tut.
Zum Vergleich: Die Susanne-Episode fließt, die Schilderung der zärtlichen Szene im zerschossenen Bauernhaus wird im Kopf des Lesers zu einem kleinen Film. Selbst bei einem langen Satz mit 28 Wörtern gerät der Leser nicht ins Stocken.
Die SS-Episode dagegen holpert und wird mit einem verschachtelten Satz eingeleitet. Man muss ihn zweimal lesen, um ihn zu enträtseln:
„Nur zu behaupten und deshalb zu bezweifeln bleibt, daß mir erst hier, in der vom Krieg noch unberührten Stadt, genauer, nahe der Neustadt, und zwar im Obergeschoß einer großbürgerlichen Villa, gelegen im Ortsteil Weißer Hirsch, gewiß wurde, welcher Truppe ich anzugehören hatte.“
Grass verirrt sich in diesem Satz, den Germanistik-Professoren gern als seinen unverwechselbaren Stil rühmen. Aber der Leser spürt, wie der Dichter sich windet, das Verstehen erschweren will. Oder ist es einfach schlechter Stil?
„Erst hier wurde mir gewiß“, das ist der Hauptsatz. Doch zwischen dem „hier“ und dem „gewiß“ schiebt er 23 Wörter mit Ortsschilderungen, die an dieser Stelle keinen interessieren – denn es geht um den Eintritt in die Waffen-SS.
In dem 480 Seiten starken Buch denkt Günter Grass auf knapp zwei Seiten über den Eintritt in die Waffen-SS nach. Aber nicht Günter Grass fragt nach dem „Warum?“, vielmehr entschwindet er in ein nebulöses „Zu fragen ist:“
„Erschreckte mich, was damals im Rekrutierungsbüro unübersehbar war, wie mir noch jetzt, nach über sechzig Jahren, das doppelte S im Augenblick der Niederschrift schrecklich ist?“
Ein Deutschlehrer würde diesen Satz rot unterstreichen als grammatisch fehlerhaft. Was will der Dichter sagen? Das doppelte S war ihm, dem Jugendlichen, schrecklich?
Nein, „eher“ – in der Tat schreibt Grass: „eher“ – „eher werde ich die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen haben“. Und: „Die doppelte Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig.“
Und später? „Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen.“
Und er fügt an, es liest sich, als wolle Grass nach Mitleid heischen:
„Doch die Last blieb, und niemand konnte sie erleichtern.“
Grass wird seine Erinnerung an die Waffen-SS los, so wie er seine SS-Wehrmachtsjacke losgeworden ist (von der er vierzig Seiten weiter erzählt):
Mit einem Obergefreiten flieht Grass in den letzten Kriegstagen. Sein Kamerad sagt ihm:
„Wenn uns der Iwan doch noch hopsnehmen sollte, biste dran, Junge, mit deinem Kragenschmuck. So was wie dich knallen die einfach ab. Genickschuß und fertig.“
Der Obergefreite organisiert eine normale Wehrmachtsjacke ohne Einschussloch oder Blutflecken. „Nun, ohne Doppelrune, gefiel ich ihm besser. Und auch ich ließ mir die angeordnete Verkleidung gefallen. So fürsorglich war mein Schutzengel.“
Günter Grass erzählt auf fast fünfhundert Seiten seine Jugend – und die besteht nicht nur aus zwei Runen. Wenn er erzählt, ist er ein großartiger Erzähler, bildreich und verführerisch wie in der kleinen Episode von Susanne, die sein Haar streichelt, oder von dem frommen Jungen im Arbeitsdienst, den sie „Wirtunsowasnicht“ nennen – weil er sich weigert, ein Gewehr anzufassen; eines Tages holen sie ihn ab und bringen ihn ins KZ.
Nur wenn Grass schwadroniert, quält er den Leser, wenn er das Bild von der zu häutenden Zwiebel strapaziert (wer häutet schon eine Zwiebel?), wenn er den schwer verständlichen, schwer verdaulichen Nobelpreis-Dichter spielt.
„Selbst wenn mir tätige Mitschuld auszureden war, blieb ein bis heute nicht abgetragener Rest, der allzu geläufig Mitverantwortung genannt wird“, schreibt Grass am Ende seiner SS-Episode. „Damit zu leben ist für die restlichen Jahre gewiß.“
An diese Gewissheit erinnerte sich Günter Grass offenbar nicht, als er sechs Jahre nach seiner Autobiografie sein Israel-Gedicht schrieb und Journalisten in Deutschland des „Hordenjournalismus“ bezichtigte.
(Der Text folgt der Kolumne „Gedanken zur Zeit“, erschienen am 19. August 2006 in der Braunschweiger Zeitung)
(zu: Handbuch-Kapitel 12 „Durchsichtige Sätze“)
BvB-Trainer Klopp im Zitat der Woche
„Es gab Zeiten, da wurde auch mal gelacht. Aber das ist mit euch (Journalisten) nicht mehr möglich. Da wird jede Kleinigkeit aufgebauscht.“
Jürgen Klopp, Trainer von Borussia Dortmund, über ein Foto, unter anderen in der Bildzeitung, auf dem Biene Emma, das BvB-Maskottchen, am Mannschaftsbus der Bayern zu sehen ist – angeblich urinierend. Quelle: sid, 13.4.2012
(zu Handbuch-Kapitel 35 „Der Boulevard-Journalismus“)
Grass, der Gleichmacher – Friedhof der Wörter
Die goldenen zwanziger Jahre waren der kurze Frühling der freien Presse in Deutschland. Er endete abrupt 1933. Gleichschaltung nannten die Nationalsozialisten den Abschied von der Pressefreiheit.
Der Amerikaner William L. Shirer arbeitete zu Beginn des Dritten Reichs als Berliner Korrespondent einer amerikanischen Nachrichtenagentur. In sein „Berliner Tagebuch“ schrieb Shirer am 4. Januar 1936 über die Gängelung der Journalisten:
„X. von der Börsenzeitung wird nicht hingerichtet. Seine Todesstrafe ist in lebenslange Haft umgewandelt worden. Sein Vergehen: Er hatte gelegentlich gesehen, dass einige von uns Kopien der Goebbelschen täglichen geheimen Befehle für die Presse erhielten. Die Lektüre lohnte sich, täglich wurde hier die Unterdrückung bestimmter Wahrheiten und ihre Ersetzung durch Lügen angeordnet.
Wie ich hörte, hat ihn ein polnischer Diplomat verraten, ein Mann, dem ich niemals traute. Die Deutschen sind, wenn sie nicht ausländische Zeitungen lesen können, völlig abgeschnitten von den Ereignissen in der Welt draußen, und natürlich erfahren sie auch nichts davon, was sich hinter geschlossenen Türen in ihrem eigenen Land abspielt.“
Die gleichgeschalteten Zeitungen im Dritten Reich hatten bedingungslos dem Diktat des Führers zu gehorchen; selbst die Wörter, die zu drucken waren, befahl der Propaganda-Minister in seinen Geheimbefehlen für die Presse. Das Nazi-Wort von der „gleichgeschalteten Presse“ griff Günter Grass in dieser Woche auf, als er sich über die harsche Kritik auf sein Israel-Gedicht beschwerte.
Er suggerierte: Irgendwo in dieser Demokratie versteckt sich ein kleiner Goebbels und flüstert den Journalisten ein, was sie zu schreiben haben. Man könnte über solch eine Verschwörungs-Theorie schmunzeln, wenn sie nicht ein Nobelpreisträger für Literatur äußerte.
Ein Meister der Sprache müsste wissen, wie Wörter wirken und welche Wörter auf ewig ruhen sollten.
THÜRINGER ALLGEMEINE vom 10.04.2012, S. 14
Die Vorfahren der Digital-Natives
Jack Tramiel, Erfinder des Commodore 64, der zwanzig Millionen mal verkauft wurde, war ein Überlebender des KZ Auschwitz und des Arbeitslagers Hannover-Ahlem. Die FAZ nennt die jungen Nutzer des Computers die „Generation C 64“, die „Vorfahren der digital Natives“.
Jack Tramiel starb am Ostersonntag, 8. April, in Kalifornien.
FAZ 11. April 2012, Seite 31
(zu: Handbuch-Kapitel 5 „Die Internet-Revolution)
FAZ kehrt zu den „Zigeunern“ zurück
In den deutschen Zeitungen vermeiden es nahezu alle Journalisten sorgsam, „Zigeuner“ zu schreiben; der Begriff gilt als diskriminierend. Bei den meisten wird es Einsicht sein, bei den übrigen die Furcht vor einer Rüge des Presserats oder dem Zorn des Chefredakteurs.
Die FAZ nutzt mittlerweile wieder die Bezeichnung „Zigeuner“, wenn sie beispielsweise über die Unruhen in Ungarn berichtet. In einem Interview mit dem ungarischen Innenminister wechselt sie sogar die Begriffe, schreibt mal von „Roma“, mal von „Zigeunern“.
Auf der Medienseite vermeiden die FAZ-Redakteure die Bezeichnung „Zigeuner“, wenn sie über die Klagen gegen die Schweizer „Weltwoche“ berichten. Diese hatte ein Titelbild gebracht, auf dem ein Junge mit einer Pistole zu sehen ist: „Die Roma kommen: Raubzüge in der Schweiz“. Die Klagen beziehen sich auf die generalisierende Überschrift, in der alle Roma als Kriminelle dargestellt werden. Debatten löst auch das Titel-Foto aus, das nicht in der Schweiz, sondern 2008 auf einer Müllhalde im Kosovo entstanden ist.
In Deutschland hatte der „Zentralrat Deutscher Sinti und Roma“ vor zehn Jahren eine heftige Debatte ausgelöst, als er erstmals eine Sammelbeschwerde beim Presserat eingereicht hatte mit Beispielen von vermeintlich diskriminierenden Artikeln in deutschen Tageszeitungen. Der Zentralrat gibt die Sammelbeschwerde stets am 7. Dezember ab und erinnert so an den Jahrestag eines Erlasses des Nazi-Innenministers Frick: Bei Straftaten von Juden ist in der Presse die Rassenzugehörigkeit hervorzuheben.
Der Presserat hat einige Rügen ausgesprochen, wenn es keinen sachlichen Grund gab, in Polizeiberichten auf die Roma hinzuweisen. Eine der Rügen ging 2009 an die „Offenbach Post“, die in einem Bericht über Frauen „südländischen Aussehens“ geschrieben hatte, sie seien „alle einwandfrei einer Volksgruppe zuzuordnen, deren Namen eine Zeitung heute nicht mehr schreiben darf, weil sie sich damit garantiert eine Rüge vom Presserat einhandelt“.
Das ist laut Presserat eine „ironisch-herabsetzende Umschreibung“.
(zu: Handbuch-Kapitel 49 „Wie Journalisten entscheiden sollten“ und Service B. „Medien-Kodices“, hier Pressekodex Ziffer 12, Seite 368)
Amoklauf – Der Spagat zwischen Nähe und Distanz
Die Waiblinger Kreiszeitung und die Thüringer Allgemeine verbindet ein tragisches Ereignis: Beide Redaktionen mussten über einen Amoklauf berichten – der erste in Erfurt vor zehn, der zweite in Winnenden vor drei Jahren.
Beide Redaktionen haben sich intensiv damit beschäftigt, wie Journalisten über einen Amoklauf berichten sollten. Wie schon zuvor die Redakteure in Winnenden setzen sich auch die Redakteure in Erfurt heute (12. April 2012) zu einem Workshop zusammen, um sich mit dem „Dart Center for Journalism and Trauma“ auf den Zehn-Jahres-Tag des Amoklaufs vorzubereiten.
Um das journalistische Verhältnis von Nähe und Distanz geht es auch dem Kreisredakteur Peter Schwarz aus Winnenden, der das Buch ”Der Amoklauf“ in der Thüringer Allgemeine rezensierte. Das Buch schrieben Redakteure aus Erfurt; die einzelnen Teile erscheinen zuvor in der Zeitung als Serie.
„Selbstverständigung über das Unbegreifliche“ ist die Rezension von Peter Schwarz überschrieben:
Es gibt viele Bücher über Amokläufe, eindringliche und effekthascherische, wissenschaftliche und erzählerische, und so liegt eine Frage nahe: Musste dieses Buch jetzt auch noch sein? Die Antwort fällt leicht: Es ist gut, dass es dieses Buch gibt. Es dokumentiert, was geschah, spürt den Folgen nach und hilft einem Gemeinwesen bei der Selbstverständigung über ein letztlich nie völlig begreifbares Entsetzen.
Die Journalisten der ”Thüringer Allgemeine“, der in Erfurt ansässigen Zeitung, haben es geschrieben. Der Lokaljournalist ist angesichts einer solchen Aufgabe in ein Spannungsfeld hineingezwungen: Einerseits muss er Distanz wahren – sie gehört zu seinem Handwerk, sie ermöglicht es, Ambivalenzen zu erkennen, vorschnelle Urteile zu vermeiden, die Komplexität von Ereignissen auszumessen.
Andererseits muss er Nähe zulassen – er kennt die Betroffenen, ist selbst Teil dieser Stadt, reist nicht nach zwei Wochen wieder ab an den nächsten Katastrophenschauplatz.
Die Autorinnen und Autoren des Buches haben es geschafft, diese widerstreitenden Rollenanforderungen auszubalancieren: Sie sind ganz offenkundig nahe dran an den Menschen, genießen das Vertrauen derer, die da erzählen, sich erinnern, ihren Schmerz, ihren Zorn, ihre Zweifel offenbaren.
Und die Journalisten wahren Distanz, indem sie allen zuhören, alle ernst nehmen und dabei auch Widersprüche aushalten, unterschiedliche Wahrnehmungen nebeneinander stehen und gelten lassen. Zu Wort kommen: Hinterbliebene von Ermordeten; Polizisten; Rettungshelfer; Lehrer; Schüler; Seelsorger; ein Freund des Todesschützen; die Eltern von Robert Steinhäuser.
Nach dem Amoklauf von Erfurt rissen Klüfte auf – das war unausweichlich, wie überall, wo derart Unfassbares geschehen ist. Weder übertüncht das Buch diese Bruchstellen harmoniesüchtig noch ergeht es sich in skandallustiger Überbelichtung.
Zum Beispiel: die 17. Kerze. Nicht nur für die Opfer, auch für den Mörder, der sich schließlich selbst erschossen hatte, wurde bei der Trauerfeier auf den Stufen des Erfurter Doms – etwas abseits – ein Licht aufgestellt. Es nieselte und windete an jenem Tag, immer wieder erlosch die 17. Kerze, immer wieder aufs Neue wurde sie entzündet. Er habe sehr damit gerungen, erinnert sich ein katholischer Theologe; letztlich sei es die richtige Entscheidung gewesen. Die Frau eines ermordeten Polizisten sagt: ”Ich kann das nicht verstehen.“
Der Polizeieinsatz am 26. April 2002: Zu vorsichtig, zu zögerlich sei er verlaufen – die Kritiker kommen zu Wort in diesem Buch; genau wie der Einsatzleiter, der sich seinerzeit zwischen Töpfermarkt und ”Autofrühling“ mit einer Herausforderung konfrontiert sah, für die es keinen Erfahrungswert gab: ”Aus heutiger Sicht haben wir natürlich Fehler gemacht.“ Aber ”aus unserem Einsatz hat man vieles gelernt, was man zuvor nicht wissen konnte. Wir waren die Null-Serie.“
Dieses Buch liefert nicht den einen, großen Gesamtdeutungswurf, verordnet nicht die eine, letztgültige Lesart. Und hilft gerade dadurch, den 26. April 2002, seine Folgen und die verschiedenen Gefühlslagen so vieler auf so unterschiedliche Weise Betroffener zu verstehen.
Zu den beeindruckendsten Passagen gehört ein Interview mit einem Fotografen. Behutsam und gelassen verteidigt er seinen nach Erfurt – und auch wieder nach Winnenden – heftig in Verruf geratenen Berufsstand. Er erinnert daran, dass er bei solch einem Geschehen eine wichtige Aufgabe zu erfüllen habe: als Chronist.
Zugleich offenbaren seine Bilder und die seiner Kollegen in diesem Buch, dass es möglich ist, zu dokumentieren, ohne zu entblößen. Trauernde sind zu sehen, aber nicht im Moment der Übermannung, des Außer-sich-Seins. Auf Fotos von Erschossenen wurde ganz verzichtet. Es gab, begründet der Fotograf, ”ausreichend andere starke Bilder, um das Ausmaß des Geschehens zu zeigen“. Viele von ihnen sind hier vereint: von Kugeln durchschlagene Scheiben und Türen; ein leeres Klassenzimmer, an der Tafel sind noch die chemischen Formeln lesbar, die eine Lehrerin anschrieb, bevor sie starb. Auch Bilder, die während des Amoklaufs entstanden: ein Schild in einem Fenster, handgeschrieben in Großbuchstaben steht darauf ein Wort: ”HILFE“.
Anhand solcher Bilder offenbart sich, wie gut im Buch der Spagat gelungen ist zwischen Nähe und Distanz: Sie zeugen von einer entschlossenen Chronistenbereitschaft, die sich doch nie in respektloser Grenzüberschreitung ergeht. Es sind erschütternde Aufnahmen, aber sie zielen nie auf reinen Schauwert. Sie malen nicht grell aus. Sie zeigen, was geschah.
Ein Mann, der seine Frau verlor, sagt: ”Die Zeit, so heißt es, würde alle Wunden heilen. Was für ein Unsinn. Man lernt nur, mit ihnen zu leben.“ Dieses Buch kann dabei helfen.
THÜRINGER ALLGEMEINE vom 11.04.2012, S. 3
Das Buch: Hanno Müller / Paul-Josef Raue (Hg): Der Amoklauf. Klartext-Verlag, Essen, 203 Seiten, 12,95 Euro
(zu: Handbuch-Kapitel 49 „Wie Journalisten entscheiden sollten“)
Zehn Jahre nach dem Amoklauf von Erfurt
Der Amoklauf von Erfurt am 26. April 2002, ein Neunzehnjähriger erschießt zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Schulsekretärin, einen Polizisten und sich selbst. Wieder ein Jahrestag – zudem ein Jahrestag, der an einen Tiefpunkt des deutschen Journalismus mahnt. Auf der Jagd nach Gesichtern, Exklusiv-Geschichten und intimen Szenen haben Journalisten schwere Fehler gemacht, viele haben weder die unbeschreibliche Trauer der Opfer geachtet noch die Verwirrung der Kinder berücksichtigt, die beim Verlassen der Schule über ihre toten Lehrer steigen mussten.
Wie gehen Journalisten zehn Jahre danach mit dem Amoklauf, vor allem mit den Opfern um? Die Redakteure der „Thüringer Allgemeinen“ schreiben in einer großen Serie über die Interviews mit den Menschen, die den Amoklauf erleiden mussten – als Angehörige, Freunde der Opfer, Augenzeugen oder Helfer. In teilweise bewegenden Gesprächen spürten die Journalisten, dass zehn Jahre danach die Wunden noch nicht verheilt sind, die Verletzungen an der Seele weiter schmerzen.
Die Serie, die zur Zeit in der TA läuft, ist auch gebündelt als Buch erschienen, das am Dienstag nach Ostern in Erfurt vorgestellt wurde:
Hanno Müller und Paul-Josef Raue (Herausgeber): Der Amoklauf. 10 Jahre danach – Erinnern und Gedenken. Klartext-Verlag, Essen, 203 Seiten, 12,95 Euro
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