Selbstverständnis eines Lokaljournalisten: Wie stellst Du Dich auf Deine Leser ein? Auf ihre Welt, ihre Bilder?
„Luther schaute dem Volk auf’s Maul, aber er redete ihm nicht nach dem Mund.“ Diese Einsicht des Braunschweiger Dompredigers ist auch eine sinnvolle für Journalisten, die ihre Leser ernst nehmen. Als Beispiel führt der Domprediger, mit dem ich ein langes Interview führte, ein Erlebnis aus Äthiopien an, wo er noch zu Kaisers Zeiten als Vikar ein Jahr gearbeitet hatte.
Er predigte an Heiligabend in einem deutschen Bau-Camp, fünfhundert Kilometer von Addis entfernt:
„Weihnachten ist nicht wetterabhängig“, so habe ich angefangen. Natürlich waren alle mit ihren Gedanken irgendwie im Harz oder im Schwarzwald, eben in ihrer Heimat. Kein „Kling Glöckchen kling“, predigte ich, „aber wir wissen es besser: Weihnachten findet auch statt, wenn das übliche Ambiente nicht da ist.“ Ich habe die Leute daran erinnert, dass Weihnachten eigentlich aus solchen Verhältnissen wie in Äthiopien kommt.
Wie bekommst du geografisch existentielle Situationen zusammen mit biblischen Texten? Diese Frage hat mich lange beschäftigt. Viele der orientalischen Bilder, die es in der Bibel gibt, sind in Äthiopien oder Arabien leichter verstehbar als bei uns in Deutschland. Dort muss ich doch nicht erklären, was eine Oase ist. Dort muss ich doch nicht erklären: Der Herr ist mein Hirte.
Wo Hirten und Herden zum täglichen Straßenbild gehören, da sind biblische Bilder unmittelbar vor Augen. Du brauchst nur einen, der darauf hinweist, zeigt, dolmetscht, Zusammenhänge herstellt. Daran hatte ich immer Freude!
Für uns in Deutschland ist diese orientalische Bilderwelt eine fremde. Für uns ist sie kompliziert; deswegen haben sich auch Generationen von Predigern geflüchtet in philosophische und pseudo-philosophische Gedankenwelten.
So geht es auch einem Lokaljournalisten: Wie stellst Du Dich auf Deine Leser ein? Auf ihre Welt, ihre Erfahrungen, ihre Bilder? Wie verbindest du deine Sicht der Welt, deinen journalistischen Anspruch, deine Erfahrungen mit denen deiner Leser? Der Lokaljournalist ist ein Dolmetscher, der Zusammenhänge herstellt, Welten verbindet.
Schaffst du diese Verbindung nicht, bleibst du abstrakt, blutleer – selbst wenn du ein Leben lang in einer Redaktion arbeitest. Mit dieser lutherischen Einsicht kann man auch achtmal in seinem Leben in eine andere Redaktion wechseln.
Noch einmal Luther: Schau dem Volk aufs Maul, aber rede ihm nicht nach dem Mund.
Die Spiegel-Affäre, der TV-Film im Ersten und der missionarische Journalismus
Es ist ein eindrucksvoller Film, den das Erste über die Spiegel-Affäre zeigt – nicht nur wegen der unentwegt Weinbrand-trinkenden Redakteure. Der Film räumt gründlich mit der Legende auf, dass Augsteins Kampf eine idealistische Veranstaltung war, um der Pressefreiheit ihren demokratischen Rang zu erstreiten. Dass die Pressefreiheit am Ende so gestärkt war wie in wenigen anderen Ländern, stand nicht in Augsteins Plan.
„Ich wollte Strauß aus der Bundesregierung Konrad Adenauers herauskatapultieren“ – das schrieb Augstein, das war sein Plan. So stand es 1994 im „Spiegel“. Der Film über die Spiegel-Affäre zeigt beindruckend klar, wie heftig auch die Redakteure gestritten haben – gegen Augstein, ihren Chef. „Du bist besessen“, sagt Augsteins Bruder, ein Rechtsanwalt, über den persönlichen Feldzug gegen Strauß.
„Das ist Propaganda!“, brüllt ein Redakteur über die Vermischung von Gerüchten und Tatsachen – und stellt den Spiegel-Journalismus in die Nähe zum DDR-Journalismus, der sich als Propaganda verstand. Augstein lassen die Vorwürfe kalt: Die grundlegenden journalistischen Werte wie Wahrheit und Fairness nennt er „heuchlerische Anstandsregeln“.
Heute noch diskutieren Journalisten, ob dieser missionarische Journalismus nicht zu einer der bedenklichen Spielarten zählt. So sahen wir es auch in der ersten Auflage des „Handbuch des Journalismus“ vor achtzehn Jahren:
Die vierte Spielart des bedenklichen Journalismus ist der missionarische Journalismus. Ihn kennzeichnet das, was Rudolf Augstein im Spiegel 15/1994 geschrieben hat: „Ich wollte Strauß aus der Bundesregierung Konrad Adenauers herauskatapultieren“, und: „Als Verteidigungsminister, Außenminister und erst recht als Nachfolger des Bundeskanzlers musste Strauß unmöglich gemacht werden.“
Ist dies die Sprache eines Journalisten? Sollte es sich nicht vielmehr um die Sprache eines Politikers handeln – eines Politikers, der eine einleuchtende politische Ansicht vertrat und sich mit Strauß zugleich in einem weniger einleuchtenden Zweikampf sah, so dass er den Spiegel als Sturmgeschütz auf Strauß ansetzte? Ist es wirklich tollkühn zu fragen, ob das „Journalismus“ heißen soll?
Von der Spiegel-Schlagzeile „Barschels schmutzige Tricks“ hat Augstein sich zwar nachträglich distanziert – aber formuliert war sie natürlich in seinem Geiste: Wir mussten Barschel aus der Regierung katapultieren, schließlich wollten wir die Wahlen in Schleswig-Holstein entscheiden, am Tag nach der Veröffentlichung fanden sie statt.
Und so stützte sich der Spiegel, seiner eigenen Darstellung nach, weil er keine Zeit zum Nachrecherchieren hatte – stützte sich der Spiegel also bei dieser Zeile zunächst allein auf die Aussagen eines Zeugen von schon damals katastrophalem Leumund.
Das Glück des Spiegels dabei war, dass es jahrelang so aussah, als habe er eine Wahrheit nur vorzeitig ausgesprochen. Inzwischen sind wir schlauer: Wir wissen, dass die SPD sich von schmutzigen Tricks keineswegs freigehalten hat und dass der Schmutzigste von allein in dieser Schlammschlacht vermutlich des Spiegels Zeuge war.
Wenn Journalisten selber Politiker sind – wie sollen sie dann eben den Politikern auf die Finger sehen? „Der Journalist“, sagt Johannes Gross, „hat nicht Überzeugungen feilzuhalten oder für Glaubensbekenntnisse zu wüten, sondern Nachrichten zu formulieren und Analysen auszuarbeiten (…) Die Ethik des Journalismus ist eine Service-Moral.“
In späteren Auflagen haben wir das Journalisten-Kapitel zugunsten des Online-Kapitels gekürzt. So fiel der „missionarische Journalismus“ heraus ebenso wie diese drei Grundhaltungen, „die wir als bedauerlich empfinden“:
1. Der Krawalljournalismus des Boulevards.
2. Der überflüssige Journalismus in vielen Zeitschriften, die Umfragen ins Heft bringen, nach denen keiner verlangt (etwa: Bei Single-Männern, wenn sie nicht allein schlafen, liegen die Rheinland-Pfälzer zehnmal öfter hinten als die Mecklenburger).
3. Der verknöcherte Journalismus saturierter Abonnements-Zeitungen.
Sehenswert – nicht nur für Journalisten!
Die Spiegel-Affäre, Mittwoch, 7. Mai 2014, 20.15 bis 21.55 im Ersten; anschließend Dokumentation zum Thema.
Jochen Reiss‘ Porträt der Fotografin Anja Niedringhaus, erschossen in Afghanistan
Braune Outdoor-Jacke mit aufgesetzten Taschen, da geht was rein. Den braunen Rucksack mit der Kamera hat sie auf dem Rücken. Anja Niedringhaus kommt mit dem Rad, sie kettet es vor dem Genfer Hauptbahnhof an. Gespräch in der Bahnhofspizzeria beim Cappuccino. Zwischendrin muss sie telefonieren. „I’ll be there just in time.“ Sie will sich Zeit nehmen, aber sie ist unter Druck. Spätestens um 16.45 Uhr muss sie los. Um 17 Uhr schließt das Konsulat Afghanistans und sie hat ihr Visum noch nicht. Morgen will sie wieder nach Kabul. Alle zehn Minuten zündet sie ihre Elektro-Zigarette an. Sechs Jahre lang war sie weg vom Rauchen. Im Krieg in Libyen hat sie wieder angefangen.
Anja Niedringhaus ist Kriegsfotografin. Der Gaza-Streifen, Afghanistan, Pakistan, Libyen, Kuwait, der Irak – die Stempel in ihrem Pass lesen sich wie die Landkarte der Krisengebiete. Mit dem Balkan-Krieg hat alles angefangen. Sie hat aber auch andere Themen: Wimbledon, Fußball-Weltmeisterschaften oder -Europameisterschaften, internationale Leichathletik-Turniere, auch mal der Papst auf Reisen.
So beginnt Jochen Reiss sein Porträt von Anja Niedringhaus, das 2013 in seinem Buch „Menschen machen Medien“ erschienen ist (mehr dazu im Anhang dieses Blogs). Am Freitag, 4. April 2014, ist die Fotografin in Afghanistan von einem Polizisten erschossen worden, als sie über den Wahlkampf berichtete.
Eines ihrer Fotos zeigt einen US-Marineinfanteristen mit entschlossenem Blick in schwerer Montur. Er führt einen jungen Mann in schwarzen Kleidern ab, barfuß, die Hände auf dem Rücken mit Kabelbindern gefesselt. Die rechte Hand des Soldaten drückt den Nacken des Festgenommenen tief nach unten. In der linken hält er sein Gewehr. Das Foto ist eines der Bilder, für das Anja Niedringhaus als erste deutsche Fotografin den Pulitzerpreis bekommen hat.
„Wenn ich es nicht fotografiere, wird es nicht bekannt“, sagt Anja Niedringhaus. Das Foto macht sie während der zweiten Schlacht um die irakische Rebellen-Hochburg Falludscha im November 2004. Phantom Fury wird die Operation genannt, gespenstische Wut. 1.200 Aufständische und 64 Soldaten werden getötet. Es ist der schwerste Häuserkampf des US-Militärs seit der Schlacht um Hué in Vietnam im Jahr 1968.
Das Foto ist eines der wenigen Hochformate, die sie macht. Sonst fotografiert sie quer. „Man sieht ja auch nicht hochkant.“ Sie hat es so schwerer, dass eines ihrer Motive es auf das Cover von Newsweek oder des Time Magazine schafft. Das nimmt sie in Kauf.
Manchmal ist Anja Niedringhaus in der Frontlinie, wo die Kugeln pfeifen. Meistens zeigen ihre Bilder die anderen Opfer eines Krieges, die toten und verletzten Zivilisten, die Hinterbliebenen, die Traumatisierten, das Ringen um Würde und Normalität in der Ausnahmesituation. „Ich bin ja nicht auf der Suche nach dem Bang-Bang. Ich glaube, dass andere Fotos viel mehr zeigen können. Was passiert nach dem Bang-Bang? Welche tiefen Spuren hinterlässt der Krieg? Wie geht es den Menschen, die leiden und sich im Krieg zurechtfinden müssen? Das ist es, was ich erzählen möchte.“
Ein Foto zeigt den Schmerz eines jungen Libyers. Pfleger trösten ihn, im Krankenhaus von Bengasi hat er gerade seinen getöteten Bruder identifiziert. Auf einem anderen ist ein US-Soldat mit nacktem Oberkörper in Afghanistan zu sehen. Er hat einen Bauchschuss, im Lazaretthubschrauber greift er nach seinem Rosenkranz. Einmal kommt Anja Niedringhaus an einem Auto vorbei, eine Granate hat es gerade getroffen. „Da klebte eine ganze Familie an den Resten der Autoscheiben. Es waren zwei Kinder dabei.“
Widerwillig nähert sie sich, die letzten Meter geht sie nur noch mit der Kamera vor den Augen, um die Strecke zu schaffen. „Wenn ich ein schreibender Journalist wäre und würde diese ganzen Dinge sehen, hätte ich ein größeres Problem. Ich bin meiner Kamera dankbar, sie ist immer auch ein Schutz. Die Konzentration schirmt mich ab gegen die Eindrücke.“ Als Anja Niedringhaus damals am Abend die Bilder editiert, muss sie sich mehrfach übergeben.
Früher hat sie mal geglaubt, wenn man ihre oder die Fotos der Kollegen druckt, dann muss ein Krieg doch aufhören. Sie weiß heute, dass sie Kriege nicht stoppen wird. „Aber ich kann trotzdem etwas tun. Ich habe die Aufgabe, darüber zu berichten, und hoffe, dass sich etwas ändert. Vielleicht werden Hilfsgüter mobilisiert. Vielleicht werden Politiker sensibler. Und gerade, wenn die Menschen zuhause müde, abgestumpft sind, weil es einen Krieg seit zehn Jahren gibt, wenn es kaum noch Interesse daran gibt – gerade deshalb muss man immer wieder hin und dokumentieren: Der ist aber noch da, dieser Krieg.“
Dafür riskiert sie seit mehr als 20 Jahren ihr Leben. Auch wenn sie vorsichtig ist. „Angst muss man sich behalten. Angst ist ja auch eine gute Warnung, ich bin ja kein Rambo. Angst ist lebenserhaltend.“
Wenn Anja Niedringhaus an die Front geht, wenn sie embedded ist, eingebettet in eine militärische Einheit, ist sie gerne mit Soldaten unterwegs, die sie schon kennt. Auch das hilft gegen die Angst. „Es hilft, sich zurechtzufinden. Es ist gut zu wissen, wo man sich sicher schlafen legen kann. Die Soldaten vertrauen mir und ich vertraue ihnen. Es ist ganz oft eine große Kameradschaft. Wenn es wirklich um Leben und Tod geht, trifft man die ehrlichsten Menschen. Wir lachen aber auch viel. Sonst hält das keiner aus.“
Die Fotografie, meint sie, sei „die ehrlichste Sparte im Journalismus. Weil ich das Geschehen mit eigenen Augen gesehen haben muss.“ Sie kennt nur wenige schreibende Kollegen, die unmittelbar von der Frontlinie berichten. Der Spar-Zwang in vielen Medienunternehmen mache es den Textern auch immer schwerer, überhaupt rauszukommen. Sie als Fotografin sei da im Vorteil. „Immer öfter heißt es doch: Können Sie das nicht reintelefonieren? Gott sei Dank kann ich kein Foto reintelefonieren. Journalismus findet auf der Straße statt. Nicht im Büro.“
Anja Niedringhaus weiß, dass sie einen mächtigen Schutzengel haben muss. Er passt auch am 11. September 2010 auf sie auf. Sie begleitet eine Fußpatrouille des Royal Canadian Regiments in Afghanistan, seit vier Uhr morgens sind sie unterwegs. Sie erreichen das Dorf Salavat in der Kandahar-Region im gefährlichen Süden Afghanistans. Anja Niedringhaus gelingt noch das Foto eines Soldaten, der mit dem rechten Fuß ein Huhn aufscheucht. Er trägt ein Maschinengewehr und zusätzlich eine Pistole in einem Halfter am Bein. Die Sonne steht noch tief, es ist ein Foto mit viel Schatten, fast wie ein Scherenschnitt. Es ist eines der schönsten Bilder der Fotografin.
Sie lehnt an einer Lehmwand, als sie die Szene fotografiert – da fliegen Handgranaten über die Mauer, detonieren. Anja Niedringhaus merkt stechende Schmerzen im Gesäß bis zur Hüfte, denkt aber: Sind das Dornen? Sie geht in Deckung, fotografiert weiter, klettert mit den anderen über eine Mauer, als einer ruft: „Anja blutet!“
Ein Hubschrauber bringt sie und einen verletzten Soldaten zum Militärhospital nach Kandahar. Dutzende sechs Millimeter große Metallsplitter stecken in ihrem Körper, einer ganz dicht am Ischias-Nerv. Ärzte operieren sie heraus. An vier kommen sie nicht heran. Anja Niedringhaus spürt sie heute manchmal noch. Lebensnotwendige Organe haben die Splitter nicht verletzt. Die kugelsichere Weste hat sie aufgehalten.
Die lebensrettenden Kevlar-Platten in der Weste lässt sie ersetzen. Zwei solcher Panzerungen hat Anja Niedringhaus. Eine der Westen ist in Kabul deponiert, die andere liegt in einem idyllisch gelegenen Forsthaus bei Kassel. Dorthin, zu ihrer Schwester, dem Schwager, deren drei Kindern und den Pferden taucht sie gelegentlich für ein paar Tage ab. Abstand bekommen! Das Lachen der Kinder! Auftanken! Eigene Kinder sind mit der Berufsleidenschaft von Anja Niedringhaus nicht zu vereinbaren. Was hätte sie fotografieren sollen? Lokaltermine? Regionalsport? „Ich hätte mich gefürchtet davor, die Kinder einmal dafür verantwortlich zu machen, dass mein Leben einen anderen Weg gegangen ist.“
In Göttingen studiert Anja Niedringhaus Germanistik, Philosophie und Publizistik, Schwerpunkt Fotografie. Nach dem ersten Semester geht sie für vier Monate nach Südindien, hilft dort in einem Heim für Polio-Kinder. „Ich wollte immer viele Länder bereisen. Aber dort gar nichts tun, das kann ich nicht.“ Schon beim Großvater sitzt sie als Kind vor dessen Globus, kann aber Höxter nicht finden. Daraus schließt sie, dass die Welt groß sein muss. Wie groß, das will sie entdecken. Vom Großvater bekommt sie auch ihre erste Kamera, eine Contax. Anja Niedringhaus fotografiert, seit sie zwölf Jahre alt ist. Mit 13 hat sie ein Nikon Einsteigermodell.
Beim Göttinger Tageblatt macht sie ein Praktikum, bekommt einen Job als Pauschalistin, schreibt und fotografiert. Sechs Jahre arbeitet sie als Freie fürs Tageblatt, danach erhält sie eine Stelle als Fotografin der European Pressphoto Agency (EPA) in Frankfurt am Main. Sport- und Gesellschaftsfotografie. Dann bricht 1991 der Balkan-Krieg aus. Anja Niedringhaus ist nachts auf der Rückfahrt von einem Termin in Baden-Baden, als sie im Radio die Nachricht hört von den ersten Kämpfen in Slowenien. „Das war für mich ganz klar: Wenn ich mich für diesen Beruf entschieden habe, dann gibt’s auch hier kein Wenn und Aber. Dann gehören die Kriege dazu.“
Sie meint, anfangs sei sie ganz schön naiv gewesen. „Wie das ist, wenn eine Rakete abgefeuert wird, die Menschen töten kann, das kannte ich ja bisher nur aus Filmen. Dies dann zu sehen in der Realität, ist eine Prüfung an sich selbst. Das war das Wichtigste für mich, dass ich gemerkt habe, ich halte das durch, ich kann das.“
Gleich in den ersten Kriegsjahren wird sie von Heckenschützen unter Feuer genommen, sie trägt auch damals schon eine kugelsichere Weste. Bei einer Demonstration in Belgrad fährt ein Polizeiauto ihr über den Fuß und bricht ihn in Stücke. Drei aufwändige Operationen sind nötig, um ihn zu rekonstruieren. Mit Kollegen ist Anja Niedringhaus an der Grenze zwischen Albanien und dem Kosovo unterwegs, als Nato-Flugzeuge die Journalisten beschießen. Sie können sich retten in Autos und Unterstände. 20 Minuten dauert der Angriff, bis die Nato ihren Irrtum bemerkt. Die International Women’s Media Foundation zeichnet Anja Niedringhaus später für mutigen Journalismus aus.
Sie lebt damals auch in Sarajewo, wird Chef-Fotografin der EPA, koordiniert die Fotografen-Einsätze. Dann der Anruf der Associated Press (AP). Man hat die Position eines reisenden Fotografen mit Standort in Genf zu vergeben. Anja Niedringhaus sagt noch am Telefon zu. „Ich kenne ja nichts anderes in meinem Leben, als zu reisen.“ Es geht gleich los. Israel, der Gaza-Streifen. Dann Kuwait, die US-Army sammelt dort ihre Truppen für den Einmarsch in den Irak. AP versichert Anja Niedringhaus. 400 Fotografen hat die Agentur weltweit, nur zwei Frauen berichten von den Kriegen. Die Kollegin von Anja Niedringhaus riskiert in Afrika Kopf und Kragen.
Es gibt eine Vereinbarung mit den Amerikanern. Fotos von Toten dürfen erst nach zwei Tagen und nur mit Genehmigung veröffentlicht werden. Die Gefahr ist zu groß, dass Angehörige die Bilder sehen, bevor man sie verständigen konnte. Verletzte dürfen nur gezeigt werden, wenn sie schriftlich zugestimmt haben. Ohnehin zeigt Anja Niedringhaus nicht alles. „Vielleicht mache ich das Foto, aber eine ganz andere Überlegung ist: Sende ich das auch? Jeder hat sein Menschenrecht. Es ist in 99 Prozent der Fälle nicht wichtig, etwa Verstümmelungen zu zeigen. Ich möchte ja vielleicht auch nicht so gesehen werden im Sterben. Man kann eine Geschichte auch anders erzählen als mit martialischen Fotos.“ In Sarajewo legt sie die Kamera einmal ganz weg. Sie fährt Verletzte ins Krankenhaus. Ein Foto hat sie abends nicht.
Südafghanistan, die Provinz Helmand. Der junge Marineinfanterist Corporal Burness Britt führt eine Patrouille durch ein Weizenfeld. Er ist erst 22 Jahre alt, dieser Einsatz ist sein erster in dieser Region. Plötzlich explodiert ein versteckter Sprengsatz nur wenige Meter entfernt. Ein großer Metallsplitter schneidet durch Burness Britts Nacken, zerfetzt eine Arterie, bleibt stecken. Die Druckwelle schleudert ihn durch die Luft.
Der Rettungshubschrauber vom Team für Medical Evacuation ist schnell vor Ort. Anja Niedringhaus ist an Bord, sie ist mal wieder embedded. Fünf Männer sind schwer verletzt, Burness Britt hat es am schlimmsten erwischt. Das Blut spritzt auch noch, als er im Helikopter liegt. In der rechten Hand hält Anja Niedringhaus die Kamera, sie macht ihre Fotos. Mit der anderen drückt sie eine Hand des Soldaten. Er erwidert die Geste, klammert sich fest, bis er bewusstlos wird. Er ringt mit dem Tod.
Britts Uniformhemd ist zerfetzt, blutgetränkt. Anja Niedringhaus entdeckt darauf eine Weizen-Ähre, steckt sie in die Tasche ihrer kugelsicheren Weste. „Ich habe viele verletzte Zivilisten und Soldaten gesehen, aber niemand hat mich mehr beeindruckt als Britt. Ich kannte ihn erst seit ein paar Minuten in diesem Hubschrauber. Aber ich hoffte, ihn eines Tages wiederzusehen. Und ihm dann dieses kleine Stück Weizen geben zu können.“ Der Helikopter fliegt den Corporal zum Außenposten Camp Edi, von dort wird er nach Deutschland ins US-Militärkrankenhaus in Landstuhl gebracht, später in die USA.
Anja Niedringhaus reist zurück in die Schweiz. Die Weizen-Ähre bewahrt sie in einem Schmuckkästchen auf. Sie geht ihrer Arbeit in Europa nach und sucht gleichzeitig nach dem jungen Soldaten. Was mag aus ihm geworden sein? Sie telefoniert die Hospitäler in den USA ab, in denen die schwerverletzten Kriegsveteranen versorgt werden. Aber niemand dort kennt Britt. Sie bittet ihre AP-Kollegen um Hilfe. Eines Abends versucht sie im Internet, mit den Buchstaben seines Namens zu spielen. Sein Vorname sei Burmess, haben sie ihr im Helikopter gesagt. Tatsächlich heißt er Burness. Sie findet einen Artikel über ihn in der Lokalzeitung in seiner Heimatstadt Georgetown, South Carolina. Burness Britt ist auch bei Facebook, er akzeptiert ihre Freundschaftsanfrage, aber er antwortet nicht. Vielleicht will er einfach nur vergessen?
Anja Niedringhaus findet heraus, dass Burness Britt in einem Krankenhaus in Richmond im Staat Virginia gepflegt wird. Sie ruft an, bekommt eine Krankenschwester ans Telefon. Sie hört diese sagen: „Britt, da ist ein Anruf für dich von einer Fotografin aus der Schweiz. Sie war in Afghanistan dabei.“ Stille, dann Burness Britts sanfte Stimme. Am Ende sagt er: „Yes, ma’am, I would like to see you. Come.“
Es ist kurz vor Weihnachten, Anja Niedringhaus fliegt nach Richmond. Im Flur des Hunter Holmes McGuire Medical Center trifft sie Burness Britt. Es fällt ihm schwer, zu gehen, den rechten Arm und das Bein zu kontrollieren. Er trägt einen Helm. Nach vier Wochen im künstlichen Koma hat er einen Schlaganfall erlitten, die Ärzte mussten die halbe Schädeldecke entfernen, um den Druck zu nehmen. Er lächelt. Immer wieder sagt er: „Oh man, it is so good to see you.“
In seinem Zimmer sitzen sie auf seinem Bett. „Haben Sie Fotos dabei?“, fragt Burness Britt. Er will die Bilder aus dem Hubschrauber sehen. Jedes schaut er sich lange an, in seinen Augen sind Tränen. Anja Niedringhaus deutet auf das Foto mit der Weizen-Ähre auf dem blutigen Hemd. „Die habe ich dabei.“ Er sagt, das wird sein neuer Talismann. „Sie geben mir einen Teil meines Lebens zurück.“
Jochen Reiss: Menschen machen Medien. Daedalus-Verlag, 246 Seiten, 19.95 Euro
Kurzbesprechung:
Gute Journalisten schreiben am liebsten über Menschen statt über Sachen. Erstaunlich selten schreiben Journalisten über Journalisten, es sei denn in hämischer Absicht.
Der Münchner Journalist Jochen Reiss hat 32 meist wenig bekannte Journalisten beobachtet und mit ihnen gesprochen: Porträts einer aufregenden und bewegenden Zunft, die sich ihrer Macht bewusst ist – zum Beispiel
> Die Lokalreporterin, die Neonazis jagt und der ein Polizist rät, sich nicht zu verstecken: „Öffentlichkeit schützt!“
> Die West-Korrespondentin in der DDR, die eine 500 Seiten starke Stasi-Akte hat und heute Medienwächterin in Sachsen ist.
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Ausschnitte aus Reiss‘ Porträt erscheinen in der Thüringer Allgemeine 7. April 2014
Flugzeugabsturz: Auch dpa fiel auf Falschmeldung rein
Zu diesem Beitrag gibt es einen neuen Blog mit zusätzlichen, zum Teil korrigierenden Informationen: „Wie die Eilmeldung bei dpa in den Dienst kam – Eine Fallstudie“.
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16.12 Uhr: Flugzeug bei Gran Canaria ins Meer gestürzt.
16.35 Uhr: Flughafenbehörde: Angeblicher Absturz bei Gran Canaria falscher Alarm
Zwei Meldungen der dpa am 27. März 2014: In nicht einmal zwanzig Minuten taucht ein Flugzeug wieder auf und fliegt weiter. In dieser Zeit huschten Tausende von Tweets über die Bildschirme: aufgeregt und falsch. „Da sieht man mal, wie Redaktionen voneinander abschreiben“, twitterte einer. Ein Spanier folgte: „Viva la republica bananera!!“ Auch wenn man der Fremdsprachen nicht sicher ist, ahnt man, was der Spruch bedeuten soll.
Die 20-Minuten-Aufregung zeigt die Kehrseite der schnellen Welt: Aktualität ist gut, aber Wahrheit ist besser. Im Handbuch des Journalismus zitieren wir im Kapitel 19 „Nachrichtenagenturen“ die oberste Regel:
Be first, but first be right.
Ausgelöst hat die Falschmeldung offenbar ein Foto, das einen Schleppkahn zeigt, der wie ein Flugzeug aussieht, das gerade ins Meer stürzt.
Verfassungsgericht geht nicht weit genug: Alle Politiker müssen raus aus den ZDF- und ARD-Gremien
Der Staat darf sich die Medien nicht zur Beute machen. Er darf weder in die Redaktionen des MDR hineinregieren noch in die Redaktion einer Zeitung. So bestimmt es unsere Verfassung. In Artikel 5 reichen fünf Wörter aus, um die Pressefreiheit zu garantieren: „Eine Zensur findet nicht statt.“
„Zensur“ bedeutet in unserer Verfassung: Der Staat darf vorab weder kontrollieren noch bestimmen, was der MDR senden will und die TA drucken. Diese Freiheit gab es – beispielsweise – nicht für Redaktionen in der DDR. Das Zentralkomitee der Partei rief jeden Tag in den großen Redaktionen an und bestimmte, was berichtet wird, wie berichtet wird und welche Sätze in den Kommentaren zu stehen hatten.
Ansagen gab es auch für die Lokalredaktionen. „Meine Meinung kommt um zwei Uhr aus Berlin!“, witzelten die Redakteure, die bisweilen kuriose Anweisungen zu befolgen hatten wie „Keine Rezepte mit Haselnuss vor Weihnachten veröffentlichen!“ Hintergrund war ein Versorgungs-Engpass.
Bei einer Zeitungsredaktion rufen gerne auch Minister und andere Politiker an, manchmal erregt, manchmal fordernd; andere rufen nie an, verweigern jede Auskunft und zeigen so ihre Missbilligung einer freien Presse, die sie gerne ein bisschen unfreier hätten. Poltern wie schweigen – alles bleibt wirkungslos.
Das ist bei Rundfunk und Fernsehen anders: Politiker üben einen starken Einfluss aus. Wenn der Regierungssprecher zu einer Reise mit der Ministerpräsidentin einlädt und eine Absage bekommt, dann rutscht ihm schon mal ein Satz raus wie: „Das ist nicht schlimm. Wir nehmen ja den MDR mit.“
Nun arbeiten in TV- wie in Zeitungsredaktionen selbstbewusste Journalisten, die auf Unabhängigkeit großen Wert legen. Aber sie haben es bei ARD und ZDF schwerer: Dort sitzen Politiker in Gremien, die sie und ihre Arbeit kontrollieren.
Der Anruf eines Ministers oder der wöchentliche Telefon-Termin mit der Staatskanzlei hinterlässt schon tiefe Spuren: Bei politischen Berichten sitzt schnell die Unsicherheit im Nacken, manchmal schon die Angst.
Das Verfassungsgericht hat die Nöte der Redakteure und die Gefahr für die Demokratie erkannt. Es begrenzt den Einfluss der Politiker. Ob das reicht?
Einem Verfassungsrichter geht die Entscheidung nicht weit genug: Er will die Politiker komplett verbannen. Er hat Recht – auch mit der Befürchtung: Das Versprechen eines staatsfernen Fernsehen bleibt weiter unerfüllt.
(erweiterte Fassung eines Leitartikels der Thüringer Allgemeine, 27. März 2014)
FACEBOOK von Thomas Platt (27.43.):
Dass es in einem freien Land Staatsfernsehen gibt – noch dazu in schockierendem Ausmass -, das ist der Skandal.
Die Astronautenperspektive ist die beste für einen Journalisten
Wichtig war mir, nicht zu werten. Ich versuche beim Schreiben, die Astronautenperspektive einzunehmen: So weit wie möglich weg, erst dann sieht man, dass die Erde eine Kugel ist. Danach nähere ich mich wieder an, doch weiterhin mit dieser Erfahrung des Abstands. Dann kann man differenzieren.
Frank Schätzing, dessen neues Buch „Breaking News“ zum Palästina-Konflikt eine Startauflage von einer halben Millionen hat (Quelle: FAZ, 1.3.2014).
Diese Astronautenperspektive ist auch Journalisten zu empfehlen. In den ersten Auflagen des Handbuch des Journalismus zählten wir zu einer der vier Spielarten des bedenklichen Journalismus den „missionarischen Journalismus“, also Journalisten, die ihren Blick auf die Welt als den einzig gültigen halten: Die Erde ist eine Scheibe. Wir zitierten Johannes Gross, einst Capital-Chefredakteur und Gruner+Jahr-Vorstand:
Der Journalist hat nicht Überzeugungen feilzuhalten oder für Glaubensbekenntnisse zu wüten, sondern Nachrichten zu formulieren und Analysen auszuarbeiten. Die Ethik des Journalismus ist eine Service-Moral.
Damit wir nicht missverstanden werden: Dass ein Journalist seine Meinung formuliert und deutlich als Meinung markiert, gehört selbstverständlich dazu.
Thomas Bärsch wird 50 – ein Lokaljournalist und Satiriker, der Statistiken liebt
Es verwundert mich bisweilen, welche Journalisten einen Preis bekommen – und welche nicht. Thomas Bärsch hat noch keinen bekommen. Könnte ich einen verleihen, dann bekäme er ihn – und nicht allein weil er heute seinen 50. Geburtstag feiert. Warum ist er preiswürdig? Es dürfte kaum einen Journalisten geben, der sich so intensiv mit dem Lokaljournalismus beschäftigt hat, mit seinen Lesern und mit den Redakteuren, die sich um die Leser kümmern oder auch nicht.
Der Leser braucht nicht mitzudenken, weil ich das schon für ihn getan habe.
Das ist ein Satz von Thomas Bärsch, den man nur verstehen kann, wenn man weiß: Der Mann ist ein Satiriker, einer der die Wahrheit kennt und sie durch ihr Gegenteil benennt. Der Satz verweist auf den Hochmut mancher Redakteure, nicht nur im Osten, die dem Leser sagen, wo es lang geht. Es ist die feudale Sicht auf die Gesellschaft: Der Fürst bestimmt, was und wie seine Untertanen zu denken haben.
Wer ist Thomas Bärsch? Das Porträt auf seiner Facebook -Seite zeigt ihn als Fan von Loriot. Doch im Ernst: Als die Wende kam, studierte er in Moskau. Als Deutschland vereint war, wurde er Lokaljournalist tief in der sächsischen Provinz, wo schon bald die ersten Wölfe auftauchen sollten: Zittau, Weißwasser, Hoyerswerda. Dann wurde er Korrespondent in Moskau, um zu schauen, was aus der Revolution in Russland geworden ist.
Als er feststellte, dass sich wenig in Moskau gewendet hatte, kam er zur Sächsischen Zeitung zurück, wurde Chef vom Dienst und Geschäftsführender Redakteur. Dann machte er sich frei, wurde Berater, Ausbilder und Trainer – und Schreiber. In seiner SZ-Kolumne macht er sich lustig über alle, die diese Welt, besonders unsere kleine deutsche Welt, zu ernst nehmen:
Es gilt als allgemein anerkannt, dass unsere Sprache mehr und mehr verfällt und, genau genommen, fast nicht mehr zu retten ist. Umso ehrfürchtiger ziehen wir den Hut vor dem Vorhaben zwölf kühner Kommunen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, eine Straße der deutschen Sprache zu gründen. Wie aber soll so eine Straße der deutschen Sprache funktionieren? Grundsätzlich gelten auf ihr die Regeln der deutschen Sprachstraßenverkehrsordnung. Es ist auf dieser Straße verboten, zusammengesetzte Wörter gewaltsam zu trennen oder getrennte Wörter gegen ihren Willen zusammenzuführen.
Zur Teilnahme am deutschen Sprachstraßenverkehr sind nur Sätze zugelassen, die mindestens mit Subjekt und Prädikat ausgestattet sind. Plötzliche Redewendemanöver müssen mit Rücksicht auf die anderen Verkehrsteilnehmer vermieden werden. Leere Worthülsen sind in die dafür vorgesehenen Behälter zu entsorgen. Als absolut unzulässig gilt es, ohne vernünftigen Grund vom zweiten in den dritten Fall hochzuschalten.
Mit dieser Kolumne könnte er glatt auf meinem „Friedhof der Wörter“ liegen. Der Mann ist so perfekt mit seiner Satire, dass es wohl die meisten gar nicht merken und den feinen Spott als deftigen Ernst nehmen. Der Mann ist aber wirklich so: er schaut immer so ernst, als ob er Bundeskanzler werden wollte. Auf jeden Fall schreibt er über das Macht-Oberhaupt:
Kanzlerin Angela Merkel erwägt nun, ein Bundesphantomministerium zu gründen. Das könnte wichtige Entscheidungen einfach dadurch herbeiführen, dass es gar nicht existiert. An der Spitze eines solchen Ministeriums müsste ein Phantom stehen. Aus SPD-Kreisen hieß es, mehrere geeignete Kandidaten stünden für diesen Posten bereit.
Und was nimmt dieser Mann ernst? Die lokale Zeitung und ihre Leser. Seit zwei Jahren findet er heraus, was die Leser wirklich lesen. Zusammen mit Denni Klein als Projektleiter bei der SZ hat er „Lesewert“ entwickelt: Hundert Leser nehmen jedes Mal, wenn sie die Zeitung aufschlagen, einen Scanner in die Hand, so groß wie ein Marker, und scannen die Zeile, bei der sie aufhören, einen Artikel zu lesen.
Für Lokalredakteure öffnet sich eine neue Welt. Nicht mehr das Bauchgefühl allein entscheidet und der Rat der Freunde beim Rotwein-Abend, sondern die tägliche Rangliste der meistgelesenen Artikel:
Es gibt in jeder Stadt Orte, die so prominent sind, dass alle Artikel über sie gelesen werden und sei es täglich;
es gibt Themen, die Leser wochenlang interessieren, während Redakteure spätestens nach dem dritten Beitrag „Schluss“ rufen;
es gibt feuilletonistische Überschriften, Fremdwörter, Fachbegriffe, Zahlen-Kolonnen und ähnliche Widrigkeiten mehr, die kaum einer liest.
Thomas Bärsch wird heute 50. Ob das stimmt? Bei einem Satiriker, der Statistiken macht und entziffern kann, bleibe ich skeptisch. Immerhin will er an einem Tag geboren sein, der in der katholischen Kirche ein Marien-Feiertag ist: Der Engel kam und verkündete, dass die Jungfrau schwanger werde – ohne Mann. Damit haben nicht nur Satiriker ihre Probleme.
Die große Einschüchterungs-Koalition startet: Parteichef protestiert wegen kritischer Interview-Fragen
Auf ARD und ZDF kommen schwere Zeiten zu. In der großen Koalition wird die Zahl der Beschwerden beim Intendanten deutlich anwachsen; sogar die CSU wird die SPD vor bissigen Kommentaren und unbotmäßigen Interviewern schützen wollen ebenso wie die SPD die CDU usw.
Einen Vorgeschmack gibt es schon vor der Regierungsbildung: CSU-Chef Seehofer hat – nach eigenen Angaben – einen Brief an den ZDF-Intendanten geschrieben, weil die Heute-Moderatorin Marietta Slomka drei Minuten lang kritische Fragen gestellt hatte an SPD-Chef Gabriel; dieser antwortete mit „Blödsinn“, „Quatsch beenden“ und fiel der Moderatorin mehrfach ins Wort.
Zur Ehrenrettung von Gabriel ist anzufügen: Er beschwert sich offenbar nicht, sondern sagte Bild:
Frau Slomka hat mich sozusagen mit verstärkter Höflichkeit befragt, und das darf sie auch. Und ich habe mit verstärkter Höflichkeit geantwortet.
Quelle: Bild 30.11.2013
Facebook-Kommentar von Martin K. Burghartz:
Beschwerden beim Intendanten geht gar nicht. Slomka allerdings nur scheininvestigativ. Eigentlich ne Null schon immer. Das Prinzip. Eine Frage auswendig lernen und unabhängig von der Antwort so lange stellen, bis der Befragte austickt.
„Es muss Spaß machen, die Zeitung zu lesen“ (Zitat der Woche)
Was brauchen unsere Zeitungen?
Sie brauchen Haltung, originelle Meinungen, gute Autoren, eigene, aufregende Enthüllungen. Wagemmut statt Bravheit ist gefragt, die über Jahrzehnte eingeübte Routine – das haben wir doch schon immer so gemacht – ist dabei der größte Feind…
Wir Journalisten müssen uns der Gleichförmigkeit der Meinung entziehen. Weniger Hype und mehr Recherche sind notwendig. Und die Lust zur Provokation sollten wir wiederentdecken, unser Gespür dafür, was unsere Leser am Küchentisch diskutieren oder diskutieren sollten. Es muss Spaß machen, die Zeitung zu lesen. Kurzum: Journalisten müssen ein Produkt mit Charakter machen.
Für Lokal- und Regionalzeitungen gilt, dass sie immer und überall in den Mittelpunkt stellen müssen, was eben nicht in jedem Newsportal zu haben ist: die Berichterstattung aus ihrer Region.
Georg Mascolo in Cicero 12/2013, Ex-Spiegel-Chefredakteur und Ex-Volontär der Schaumburger Nachrichten
Stehpult, kurze Sätze und leidenschaftliche Neugier (Zitate des Journalismus, 3)
Autoren sollten stehend an einem Pult schreiben. Dann würden ihnen ganz von selbst kurze Sätze einfallen
Mein Lieblingszitat von Ernest Hemingway, seitdem ich in meinem Arbeitszimmer keinen Schreibtisch mehr stehen habe, sondern nur noch ein großes Stehpult (Hemingway – Reporter, Kriegsberichterstatter und Nobelpreisträger für Literatur (Oak Park – Ketchum, 1899-1961))
Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig
Albert Einstein, Nobelpreisträger für Physik (Ulm-Princeton, 1879-1955)
Quelle: Programmheft der ABZV
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