Pressefreiheit in Deutschland: Feuilletonisten und Sportler klagen
Chefredakteure und Ressortleiter sind sich einig: Die Pressefreiheit in Deutschland ist gut oder sogar sehr gut verwirklicht, aber knapp die Hälfte beklagt, dass Behinderungen in den letzten Jahren zugenommen haben.
Die Allensbacher Demoskopen fragten im Frühjahr 2014 über vierhundert Chefs in 230 Zeitungen. Knapp zwei Drittel haben auch schon Behinderungen von Recherchen erlebt. Politikern, Unternehmer und PR-Managern drohen, Anzeigen zu entziehen, oder umarmen die Redakteure, um eine wohlwollende Berichte zu bekommen.
Überraschend ist, auf welche Ressorts am meisten Druck ausgeübt wird: Kultur und Sport. Fotografen müssen mit großen Einschränkungen fertig werden und die Reporter mit massiven Veränderungen bei der Autorisierung von Interviews.
Zwei Drittel der Lokalredakteure klagen über Politiker, die häufig Einfluss nehmen wollen, oder über Kaufleute und Unternehmer, die Berichte steuern wollen.
Warum zeigen wir nicht die grauenhaften Fotos der IS-Folterungen? Ein Tabubruch, ja. Aber – auch ein Weckruf?
Der Mörder setzt das Messer an die Kehle, das Gesicht ist mit Blut überströmt, ein Gesicht von Angst zerrissen – der Fotograf wie der Mörder delektieren sich daran, einen Mensch sterben zu sehen, als wäre er ein Tier. Ich kann mir das Bild nur kurz ansehen, es ist Ekel, purer Ekel, dem man sich nicht ergeben kann. Mehr Bilder will ich nicht sehen.
Es sind Bilder, die Terroristen des IS, des „Islamischen Staat“, ins Netz gestellt haben, wo sie relativ leicht zu finden sind. Keine deutsche Zeitung, kein deutsches Magazin, keine wichtige deutsche Online-Nachrichtenseite zeigen die Bilder. Ein Freund, der in der politischen Bildung arbeitet, schickt mir eine Zeitung, die das Bild online zeigt, und fragt mich:
Warum zeigen Medien in Deutschland nicht diese grausame Realität eines aus den Fugen geratenen Islam(extremismus)? Das Bild – aufgenommen vor wenigen Tagen – zeigt das tägliche Grauen, das sich derzeit vor der Haustür Europas abspielt. Es wurde der polnischen Seite Polska24 entnommen, auf der einige (grauenvolle) Bilder des aktuell vor sich gehenden Genozids an irakischen Christen durch sunnitische ISIS-Gotteskrieger zu sehen sind. Unsere Medien veröffentlichen solche Bilder nicht. Warum nicht? Wir wurden doch früher auch nicht von grauenhaften Fotos, z. B. aus dem Vietnamkrieg, verschont…
In unserem Mailwechsel sagt er schließlich, nachdem er für die Veröffentlichung der Bilder plädiert hatte:
Die Wirkung von solchen Bildern verändert uns…
Von Dir lernte ich, des Journalisten Pflicht sei es, in Wort, Bild und Schrift zu berichten, was ist, streng getrennt vom Kommentar. Das habe ich mir zu eigen gemacht.
Meine schlichte Frage lautet:
Warum wird das, was ist, also die Wirklichkeit, wie diese entsetzlich grausamen Fotos sie beschreiben, bei uns nicht veröffentlicht? Was erzählen uns diese Bilder? Die Leichenberge aus deutschen KZ gingen doch auch um in Deutschland, haben viele wach gerüttelt, die es nicht wahr haben wollten – und das war auch gut so.Eine farbige Doppelseite wäre mal ein Tabubruch im Sinne eines Weckrufes, finde ich. Der Blätterwald würde rauschen. Wegsehen hat doch noch nie ein Problem gelöst.
Stattdessen fragt man bei uns: Darf man solche Bilder veröffentlichen? Und so kommt man zu dem in allen Medien einheitlichen Ergebnis: Zeigen wir nicht. Cui bono?
Das verstehe ich nicht.
Was sagt unsere Ethik, der Pressekodex?
1. „Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ – Also: Verletzten wir nicht die Würde des Opfers, wenn wir ein Terror-Mordopfer öffentlich machen?
2. „Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein.“ – Da ist die Hintertür: Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit, der Weckruf. Aber reicht dies Interesse, Menschen zu erniedrigen, Opfer sterbend zu zeigen?
3. „Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid.“
Ich füge an:
4. Journalisten dürfen sich nicht vor den Propaganda-Karren spannen lassen, erst recht nicht von Terroristen.
Fassen wir noch einmal die Fragen des Freundes zusammen, die mit dem Pressekodex nicht abschließend beantwortet sind:
> Wäre die Veröffentlichung der Fotos des Grauens, also der bestialischen Ermordung von Menschen, nicht ein Weckruf, eine Mobilisierung des öffentlichen Gewissens?
> Warum zeigten wir Bilder von Opfern des Vietnams-Kriegs (etwa: Der Mann, der vom Polizeichef Saigons erschossen wurde; die nackte neunjährige Kim Phuc, die vor dem Napalm flieht), aber nicht die des IS-Terrors?
> Warum zeigen wir Holocaust-Opfer sogar öffentlich in Museen, etwa in Yad Vashem, Jerusalem?
Von welchem Journalismus träumen Sie? Wie sieht der Journalist der Zukunft aus? (Antworten zum DJV-Verbandstag)
Der Bundesverbandstag des Deutsche Journalisten-VerbandS (DJV) steigt mit etwa 350 Delegierten am 3. und 4. November 2014 in Weimar. In einem Magazin geben neben anderem die Thüringer Chefredakteure Antworten auf drei vorgegebene Fragen. Hier sind meine:
Von welcher Art Journalismus träumen Sie?
Ich muss nicht träumen, diesen Journalismus gibt es seit der Erfindung unabhängiger Zeitungen: Er kontrolliert die Mächtigen; er hilft den Bürgern durch verständliche und tiefgründige Artikel, die richtigen Entscheidungen in einer Demokratie zu treffen bei Wahlen, bei eigenem Engagement in Initiativen oder im Ehrenamt; er scheidet das Unwichtige vom Wichtigen. Und er erzählt, wann immer es möglich ist, von Menschen und ihren Plänen, Schicksalen und Hoffnungen, von ihrem Glück und ihrem Elend – damit Leser Lust aufs Lesen bekommen und Stoff für ihre Unterhaltungen, wo auch immer.
Welche Anforderungen stellen Sie an Journalistinnen/Journalisten?
Sie beherrschen ihr Handwerk, so wie es seit langem geachtet ist (siehe Antwort auf Frage 1), aber verbinden es souverän mit den neuen digitalen Möglichkeiten in Recherche und Darstellung. Vor allem haben sie hohen Respekt vor den Lesern, den älteren wie auch den jungen, deren Bedürfnisse sie erkennen und befriedigen müssen. Das ist nicht neu, war aber in den seligen Zeiten des Beamtenjournalismus belächelt: Sie kümmern sich um die Leserforschung, die ihnen auch unbekannte Wünsche der Leser verrät, und sie entwickeln Ideen, wie unabhängiger Journalismus auch in Zeiten schwindender Werbe-Umsätze zu finanzieren ist – und die Demokratie ihr stabiles Fundament behält. Dazu brauchen sie, wie seit altersher, Selbstvertrauen ohne Hochmut, Zivilcourage, Nervenkraft und die Fähigkeit der Unterscheidung.
Wie sieht die Thüringer Medienlandschaft in 10 Jahren aus?
Propheten haben im Journalismus nicht zu suchen, sie sollten in Beratungsfirmen gehen, die an dem Thema gut verdienen. Gehen wir von Sicherheiten aus: Die Bürger werden immer unabhängigen Journalismus brauchen und achten, Journalismus der sie respektiert, also verständlich und attraktiv ist, und der sie dort abholt, wo sie leben und träumen. Und da es immer noch Filme und Bücher gibt – weit über ihr prophezeites Todesdatum hinaus -, wird es auch immer gedruckte Zeitungen geben. Wahrscheinlich erleben wir eine Renaissance der Tageszeitung schneller, als wir denken. Aber bei allem Pessimismus, in dem sich Redakteure gerne suhlen: Es kommt allein auf guten Journalismus an, gleich wie er dargeboten wird.
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Antworten auf Fragen des DJV Thüringen, der zum Verbandstag in Weimar den Delegierten in einem Magazin Thüringen vorstellt.
Feuilletonisten wollen gar nicht verstanden und redigiert werden – wegen der Tiefe ihrer Gedanken
Es gibt einen Typus von Kulturschaffenden, der will gar nicht verstanden werden, schreibt der unbekannte Autor des Streiflichts am zweiten Tag nach der Bekanntgabe: Patrick Modiano bekommt den Literatur-Nobelpreis. Der Franzose bekommt den Nobelpreis, weil er verständlich schreibt.
Das ist für manche Kulturschaffende schon eine Zumutung:
Sie wollen gar nicht verstanden werden. Der Nichtverstehende soll gar nicht erst auf die Idee kommen, er könnte die Tiefe ihrer Gedanken jemals ermessen… Ewig Unverstandene sind eine Elite.
Der Streiflicht-Autor vermeidet es, zu den Kulturschaffenden auch die Feuilletonisten zu zählen. Sie mögen gerne Unverständliches in Theater, Buch und Film, schreiben gern unverständlich – und sind ein Schrecken für jeden, der sie redigieren muss. Für Feuilletonisten ist jeder, der redigiert, ein Barbar: Sie schreiben schließlich für die Feuilletonisten der anderen Zeitungen und Magazine, für die Kulturradios, die nur die Elite einschaltet, und für die Opern- und Theater-Intendanten – je schwieriger desto besser -, Künstler, Verleger, Filmregisseure und für alle, die nicht so reden wie jeder redet.
Der Streiflicht-Autor legt sich mit ihnen nicht an, er will schließlich noch viele Streiflichter schreiben und sich lustig machen über die „Wiederbesetzung diskursiver Räume“ und das Schwinden „legitimatorischer Ressourcen sozialer Demokratie“. Was? Das versteht doch kein Leser? Man sollte ihnen das Abo entziehen.
Zur Vermeidung unnötiger Mails und Kommentare: Es gibt auch gute, verständlich schreibende Feuilletonisten. Sie dürfen auf den Nobelpreis hoffen, die anderen auf den Himmel, in dem sie keiner versteht.
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Quelle: SZ, 11. Oktober 2014
Der „Spiegel“ zitiert Kohl aus nicht-autorisierten Gesprächen: Unmoralisch? Verstoß gegen Pressekodex?
„Schwan begeht einen Vertrauensbruch, das ist keine Frage“, schreibt Rene Pfister in der Spiegel-Geschichte über das Schwan-Buch nach Gesprächen mit Helmut Kohl, aufgezeichnet und auf Tonband aufgenommen vor 12 Jahren. Dürfen Journalisten Vertrauen brechen? Verstossen sie so nicht gegen jede Moral?
Die folgende Passage zur Recherche hat im „Handbuch des Journalismus“ reichlich Irritation und Widerspruch ausgelöst:
Manchmal spielen eher unmoralische Motive die Hauptrolle, damit der Moral zum Siege verholfen wird. Hätte nicht der Spiegel einem Informanten eine horrende Summe bezahlt, so wüssten wir immer noch nicht, auf welche Weise sich die Chefs der „Neuen Heimat“ bereichert haben.
Also – Recherchen sind weder moralisch noch unmoralisch, entscheidend ist allein, was am Ende herauskommt: Eine Wahrheit, die die Bürger unbedingt wissen müssen. Oder nicht.
Ähnlich schwankend ist die Argumentation des „Pressekodex“. Erst lesen wir „Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren.“ Meist wenn der Kodex „grundsätzlich“ schreibt, meint er das Gegenteil: es gibt reichlich Ausnahmen, zum Beispiel:
Vertraulichkeit muss nicht gewahrt werden, wenn bei sorgfältiger Güter- und Interessenabwägung gewichtige staatspolitische Gründe überwiegen… Über als geheim bezeichnete Vorgänge und Vorhaben darf berichtet werden, wenn nach sorgfältiger Abwägung festgestellt wird, dass das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit höher rangiert als die für die Geheimhaltung angeführten Gründe.
Da stehen alle Türen weit offen, um einmal zugesichertes Vertrauen brechen zu dürfen. Rene Pfister nennt mehrere Gründe für Schwans Vertrauensbruch:
1. Kohl hat die Gespräche geführt, damit sie veröffentlicht werden. Streit ist nicht, ob sie veröffentlicht werden, sondern wann. Pfister vermutet, Kohl – oder seine neue Frau – wolle bestimmen, „welchen Platz er einmal in den Geschichtsbüchern einnehmen würde“.
2. Kohls Erinnerungen sind ein „historischer Schatz“ der jungen deutschen Geschichte, ein „historisches Vermächtnis“, wie das Landgericht Köln vor einem Jahr feststellte. Für Historiker sind sie eine einzigartige Quelle. So etwas nennt man ein hohes Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit.
3. Wir Zeitgenossen erfahren Neues über die Geschichte und die Mächtigen im Land – erzählt von einem, der fast zwei Jahrzehnte der Mächtigste war.
4. Wir erfahren Neues über die Deutsche Einheit, dem wichtigsten Ereignis der Nachkriegszeit.
5. Die Interviews mit Schwan sind offenbar die einzigen, in denen sich Kohl relativ unverstellt einem Journalisten offenbart hat.
6. Kohl selber hielt wenig von Vertraulichkeit: In seinen Memoiren veröffentlichte er mehrere vertrauliche Briefe Weizsäckers.
7. Kohl ist so krank, dass er keine ausführlichen Interviews mehr geben kann.
Erinnern wir uns auch noch: Während jeder Deutsche, jeder weniger berühmte, ertragen musste, dass aus seinen Stasi-Akten zitiert wurde, schaffte es Helmut Kohl, dass seine Stasi-Akte gesperrt blieb. Der Kanzler wollte sein Bild für die Geschichte selber zeichnen. Das kann kein Journalist dulden, wenn er gründlich recherchiert.
Haben Schwan und der Spiegel also Kohl hintergangen? Ja, aber die Wahrheit und das Informationsbedürfnis der Bürger haben einen höheren Rang, einen Verfassungsrang. Die deutsche Geschichte, wie sie wirklich war und wie sie die sehen, die vom Volk gewählt sind,diese deutsche Geschichte gehört dem Volk und nicht dem höchsten Volksvertreter, dem Kanzler a.D. Helmut Kohl.
Sicher hat Moral einen festen Platz im Journalismus. Den höchsten Grad der Moral nenne ich die Verfassungs-Moral. Sie ist unser erstes Gebot.
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Beitrag für Bülend Ürük, Chefredakteur von Newsroom.de, der diese Fragen zum Spiegel-Aufmacher stellte; alle Antworten unter newsroom.de:
- Darf man als Journalist Recherchen verwenden, auch wenn ein Gesprächspartner, dem man dies auch vorher zugesichert hat, dies ablehnt, dies nicht möchte?
- Wie würden Sie reagieren in einem Fall wie jetzt bei Herrn Schwan und Herrn Kohl? Würden Sie trotzdem auf Gespräche zurückgreifen und daraus ein Buch machen?
- Gebe es Skrupel, wenn es nicht die Person Helmut Kohl wäre, über die Herr Schwan schreibt? Was wäre, wenn es ein weniger berühmter Mensch der Zeitgeschichte wäre?
- „Hintergeht“ man seinen Gesprächspartner nicht, wenn man trotz seines Vetos auf diese Gespräche zurückgreift? Ist das ethisch sauber?
- Wie wirkt sich das auf den Journalismus aus, wenn wir Zusagen an Gesprächspartner nicht mehr halten? Können Gesprächspartner dann noch sicher sein, dass wir eine Info, die sie uns im Vertrauen oder unter Bedingungen gegeben haben, nicht doch später ganz nach unserem Sinn verwenden?
- Und wie ist das eigentlich, wenn man „nur“ über ein Buch berichtet, wie jetzt im aktuellen Fall der „Spiegel“ – hätten Sie moralische Bedenken, über ein Werk zu berichten, das so viel Streit zwischen den Beteiligten hervorgebracht hat?
- Hat so etwas wie „Moral“ überhaupt Platz im Journalismus oder ist es nicht viel wichtiger, aufzudecken, Themen zu setzen und andere Geschehnisse zu ignorieren?
NACHTRAG
Das Landgericht Köln hat Anfang Oktober einen Antrag Kohls, die Buchauslieferung zu stoppen, abgelehnt mit der Begründung: Es geht nicht um Urheber-, sondern um Persönlichnkeitsrechte. Nun muss das Oberlandesgericht entscheiden, bei dem Kohls Anwälte Beschwerde eingelegt haben.
Wie umgehen mit der Forderung eines Gesprächspartners: Den Artikel muss ich vorher komplett lesen?
Misstrauen begleitet die meisten Recherchen, Misstrauen von Leuten, die wir fragen – aber die nie wissen, was der Reporter aus dem Gespräch mitnimmt und in der Zeitung oder Zeitschrift druckt. Brand Eins gibt ein Heft über „Vertrauen“ heraus. Chefredakteurin Gabriele Fischer schreibt im Newsletter über eine besonders kribbelige Recherche von Andreas Molitor, der mit Vertrauensleuten sprach, jenen nicht zu beneidenden Menschen, die zwischen Gewerkschaft, Betriebsrat und Kollegen sitzen:
Er bekam das Misstrauen zu spüren, das in solch ungeklärten Situationen gedeiht. Am liebsten hätte der oberste Vertrauensmann vor einer Veröffentlichung den kompletten Text gelesen und auch gleich noch die Fotoauswahl bestimmt. Weil beides bei brand eins nicht möglich ist, wäre die Geschichte um ein Haar nicht erschienen.
Wie hat die Chefredakteurin den Beitrag gerettet? Sie knickte nicht ein, sondern machte klar, wie das Magazin mit Vertrauen umgeht:
Am Ende aber einigte man sich nach einer Sondersitzung des Vertrauensleute-Gremiums auf das bei brand eins einzig mögliche Verfahren: Wörtliche Zitate können auf Wunsch abgestimmt werden – mehr nicht („Zwischen den Stühlen“; Oktoberheft, Seite 80).
Volontariat der Zukunft (3) / Schümchen: Ausbildung muss schnell auf Veränderungen in der Branche reagieren
Auch wenn die Digital Natives nichts Gedrucktes mehr lesen – für das Machen von Printmedien
können sie sich regelrecht begeistern. Sobald die Chance besteht, dass ein Artikel tatsächlich
gedruckt wird, steigen die Leistungen automatisch. Bei Online-Beiträgen kann ich das nicht
feststellen. Print hat offenbar doch noch einen Reiz…Die Medienausbildung muss heute schnell auf die Veränderungen in der Branche reagieren können,
ja im Idealfall bei neuen Entwicklungen gleich mit dabei sein. Wir haben recht früh Themen wie
Crowdfunding, Webdocumentaries oder Mobile Reporting in experimentellen Projekten thematisiert
und ausprobiert. Das setzt an einer Hochschule allerdings voraus, dass es keine starren Curricula
gibt, die für Jahre im Voraus feststehen. Das Aufgreifen aktueller Trends muss zum
Ausbildungsprogramm gehören.
Quelle: W&V Online 25.9.14 Interview mit Professor Andreas Schümchen, Hochschule Bonn-Rhein-Sieg; Schwerpunkt Printmedien und Redaktionsmanagement.
Volontariat der Zukunft (2): Welchen Schwerpunkt setzen?
Es gibt einen Schwerpunkt: Hochwertigen Journalismus sichern, der den Menschen in einer Demokratie gefällt, dient und nutzt. Daraus leitet sich der Inhalt der Ausbildung ab.
Das ist der zentrale Satz im schriftlichen Interview mit der Drehscheibe, die in einer ihrer nächsten Ausgaben über Volontärsprojekte berichten will. Dies ist das Interview über das Volontariat bei der Thüringer Allgemeine:
Worauf legt der Verlag Wert bei der Ausbildung?
Die Volontäre sollen die Fähigkeit lernen oder kräftigen, den Veränderungen von Gesellschaft und Medien mit Engagement und Können zu folgen:
> Sie lernen zwar den Ablauf in Redaktionen kennen, aber schauen kritisch auf Routinen und Fallstricke;
> sie entwerfen Konzepte für einen noch besseren Journalismus, vor allem im Lokalen;
> sie konzipieren effektive Organisationen, vor allem im Zusammenspiel mit den Online-Medien;
> sie probieren Modelle für Beteiligungen von Lesern aus, die von Konsumenten zu Mitdenkern und Mitmachern werden;
> sie entwickeln neue Ideen und Produkte – sowohl Online wie in den traditionellen Medien -, um auch in Zukunft guten Journalismus finanzieren zu können.
So lernen sie Methoden und Umsetzung von Leserforschung kennen, Möglichkeiten und Grenzen des Marketings, optimale Strukturen sowie Selbstorganisation. Sie überschreiten die Grenzen des Zeitungs-Journalismus, arbeiten bei Zeitschriften und Nachrichtenagenturen und eigenständig in Projekten.
Auf der einen Seite lernen die Volontäre das Spektrum des Journalismus kennen wie in einem „Praktikum Universale“, auf der anderen Seite sollen die besonderen Begabungen und Fähigkeiten erkannt und gefördert werden. So können wir Nachwuchs für Führungs-Positionen entdecken oder Talente für Organisations-Aufgaben oder für tiefe Recherchen oder Online-Spezialisten oder Verliebte in Kultur, Wirtschaft oder die lokale Welt usw.
Nach dem Volontariat treffen sich die Redakteure zu Tages-Seminaren, um ihren Fortschritt zu kontrollieren, neue Ideen zu diskutieren und Schwierigkeiten anzusprechen und zu bewältigen.
Welche Schwerpunkte werden in der Ausbildung gesetzt?
Es gibt einen Schwerpunkt: Hochwertigen Journalismus sichern, der den Menschen in einer Demokratie gefällt, dient und nutzt. Daraus leitet sich der Inhalt der Ausbildung ab:
> Als Grundlage zuerst das Handwerk, das jeder beherrschen muss: Recherche, informierende und unterhaltende Information, Meinung.> Dem Handwerk folgt die Haltung: Die Ethik des Journalismus, der Dienst am Leser und die Leidenschaft für den schönsten Beruf in einer offenen Gesellschaft.
> Auf Handwerk und Haltung folgt die Lehre der Verständlichkeit, also der Wille so zu schreiben, dass die Menschen mit Lust und Gewinn lesen.
Die gesamte Ausbildung ist multimedial. Die neuen Möglichkeiten des Journalismus – etwa Daten-Journalismus, soziale Netzwerke, Timeline – sollen erlernt und ausprobiert werden. So endete die Ausbildung mit einer Recherche-Woche, in der die Volontäre eine Multi-Media-Reportage produzierten mit Notizblock, Kamera, Video und Diktiergerät – fürs Internet und eine Sonderausgabe der Wochenend-Beilage.
Volontariat der Zukunft (1): Wie könnte die Ausbildung aussehen – am Beispiel der TA
„Der Traumberuf Journalist braucht vor allem Respekt vor den Menschen“ ist ein TA-Artikel überschrieben über die Ausbildung der Volontäre – in einer Extra-Ausgabe des „Thüringen Sonntag“, der Wochenend-Beilage. „Grenzgänger“ nennen die Volontäre ihr Gesellenstück: Zum Abschluss ihrer Ausbildung recherchieren sie eine Woche lang im deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländereck und erzählen Geschichten von Menschen, die Grenzen überwinden – auch ihre eigenen. Am heutigen Montag (29.9.14) werden die fünf Nachwuchs-Redakteure der TA in Dresden mit einem der deutschen Lokaljournalisten-Preise ausgezeichnet.
Wer vor fünfzig Jahren Journalist werden wollte, verbrannte sich die Finger, buchstäblich. Der Lehrling, der in einer Redaktion Volontär heißt, ging an seinem ersten Tag in die Druckerei: Das, was er geschrieben hatte, wurde von Maschinen in Blei gegossen, Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz, Artikel für Artikel.
So verschwand das, was ein Redakteur dachte und schrieb, nicht in unsichtbare Computer-Sphären, sondern war fassbar: Geist wurde zu Materie – was für eine wunderbare Welt! „Schau Dir an, was Du geschrieben hast!“, sagte der Mann an der Bleisetzmaschine und forderte auf: „Greif zu!“
Der Volontär griff zu und packte die in Blei gesetzten Zeilen – und ließ sie sofort auf den Boden fallen, wo der schöne Artikel heillos zerwirbelte. Das Blei war heiß, viel zu heiß, um es gleich in die Hand nehmen zu können.
Die Setzer lachten über das alte Spiel, das schon ihre Vorfahren getrieben hatten, und bestanden auf dem Einstand: Ein Kasten Bier.
Mit beweglichen Lettern, also Buchstaben aus Blei – so druckte man Zeitungen und Bücher ein halbes Jahrtausend lang, erfunden von Johannes Gutenberg in Mainz. In wenigen Jahrzehnten am Ende des vergangenen Jahrhunderts verschwanden Blei und schwere Druckplatten, die man spiegelverkehrt lesen musste: Heute ist alles digital, fast digital. Nur den Redakteur gibt es selbstverständlich noch, doch aus dem Denker und Schreiber ist auch ein Setzer geworden dank perfekter Computer-Programme.
Die Revolution der Technik spiegelt sich auch in der Ausbildung wieder: Heute verbrennt sich kein Volontär die Finger mehr, heute braucht er nur noch seinen kleinen Computer und kann schreiben und fotografieren und filmen und telefonieren, wo immer er sich auch aufhält – und Seiten bauen für die Zeitung und das Internet.
So entstand eine Sonderausgabe des „Thüringen Sonntag“ nicht in den TA-Redaktions-Räumen, sondern in einem Kloster an der polnischen Grenze – in einer Recherche-Werkstatt zum Abschluss des Volontariats.
Es ist das Gesellenstück einer neuen Redakteurs-Generation, ein Stück das gleichzeitig für das Internet, die sozialen Netze und die Zeitung produziert wird.
Schon zu Beginn ihrer Ausbildung haben die Volontäre in einer Reportage-Woche ihr Können gezeigt: Sie porträtierten Menschen und ihre Arbeit in der Landwirtschaftsgesellschaft in Bad Langensalza – und wurden dafür gleich mit zwei Preisen für Nachwuchsjournalisten geehrt.
Was ist neu an der Ausbildung? Sie ist komplett multimedial. Die Volontäre probieren die neuen Möglichkeiten des Journalismus aus, sie wühlen und schreiben in sozialen Netzen und üben sich beispielsweise im Daten-Journalismus – der mehr ist als Googeln, der im Internet schürft und in großen, allgemein zugänglichen Datenbanken.
Doch die eigentliche Revolution spielt sich nicht nur in der Technik ab, sondern in unserer Gesellschaft: Noch nie war Kommunikation so einfach, so laut, so überwältigend und so teuer wie heute.
Wer durch die Straßen flaniert, sieht nur noch Menschen, die telefonieren oder auf ihrem Smartphone die neuesten Mitteilungen studieren. Die Welt ist zum Marktplatz geworden. Noch vor einigen Jahrzehnten war es der Journalist, der Nachrichten entdeckte und weitergab und seine Meinung dazu verkündete. Heute kann es jeder. Wird der Journalist überflüssig?
Nein, im Gegenteil – er ist wichtiger denn je, aber seine Aufgaben verändern sich.
> Der Redakteur hilft den Menschen, sich nicht hilflos in der Fülle der Informationen zu verirren: Er findet das Wichtige und sortiert das Unwichtige aus; er scheidet wirkliche Nachrichten von Gerüchten, Vermutungen und nutzloser Plauderei.
> Er erklärt intensiv, was die Welt seiner Leser und die große Welt zusammenhält; er schaut noch tiefer in die Kulissen unserer aufgeregten Zeit und erzählt Geschichten aus dem Leben statt nur sachliche und oft schwer verständliche Nachrichten weiterzugeben; er entdeckt mit List und Geschick, was die Mächtigen verheimlichen wollen.
> Er weiß, dass die Leser – und nicht nur die jungen – von Konsumenten zu Mitdenkern und Mitmachern geworden sind; sie wollen ihre Meinung sichtbar machen, sie wollen – gerade im Osten – die neue Meinungsfreiheit nutzen und genießen: Wie organisiere ich eine faire und unterhaltsame Beteiligung der Menschen? Wie entdecke ich originelle, mutige, gar kostbare Ideen und Meinungen, damit sie nicht eingehen wie Wassertropfen in dem Ozean, den wir Internet nennen?
Unsere Volontäre schauen vor allem auf die lokale Welt, auf den Alltag der Menschen, für die sie schreiben, auf die Nachbarschaft, die Heimat: Wie können wir – ob in der Zeitung oder im Internet – die Bedürfnisse der Menschen und ihre Wünsche, auch die heimlichen, erfüllen? Unsere Volontäre arbeiten mit der Lese-Forschung: Wie lesen die Menschen? Was lesen sie – und wann?
Kurzum: Die Volontäre lernen die Fähigkeit, den Veränderungen von Gesellschaft und Medien mit Engagement und Können zu folgen. Zuallererst lernen sie allerdings, was den Journalismus seit altersher ausmacht: Gescheit die Mitmenschen zu informieren, verständlich zu schreiben – und so unterhaltsam, dass sie die Lust aufs Lesen entzünden.
Ach, werden manche Leser klagen (nicht nur Studienräte und Liebhaber unserer schönen Sprache): Lernen Sie denn auch die Beherrschung unserer Sprache?
Ja, aber wir können im Volontariat nicht alle Defizite von Schule und Hochschule ausgleichen. Wir sind nicht die einzigen, die klagen: An der größten Schweizer Journalistenschule ist vor Kurzem ein neues Fach eingerichtet worden – Grammatik.
Auch wenn böse Zungen das Gegenteil beschwören: Journalist ist ein Traumberuf – und bleibt ein Traumberuf. Wer davon träumt, sollte aber mitbringen: Respekt, wenn nicht gar Liebe zu den Menschen; Lust am Schreiben und eine große Portion Können; Erfahrung als Freier in einer Redaktion oder Inhaber eines Blogs, der ständig gefüllt und kommentiert wird.
Wer sich also bewerben will, dem sei geraten: Zeige Leidenschaft für einen der schönsten Berufe der Welt! Das Handwerk kann man erlernen, das Brennen der Leidenschaft nicht.
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Thüringer Allgemeine 27. September 2014
Facebook Kommentar von Wolfgang Kretschmer (30.9.14)
Habe als Volontär selber noch zu Schreibmaschinenzeiten „Bleisatz“ gelernt. Auf dem Arbeitstisch stand ein Töpfchen mit Pinsel und Leim („Elefantensperma“, falls man im Schreibeifer Bewässerung vergaß), um Agenturnachrichten und eigene Texte,teils in der Eile mit Sauklaue geschrieben, zusammenzuschneiden und zusammenzukleben. Bis dann der „Sätzer“, ehemaliger TAZ-Jargon, mit den Druckfahnen kurz vor Redaktionsschluss erschien und einem bewies, dass man Zeilenanschläge falsch berechnet und sich überhaupt in manchen Details geirrt hatte.
Raue rückt den „Traumberuf Journalist“ in die Nähe von Hohen Priestern demokratisch gesinnter Menschenfreundlichkeit. Wenn dem nur so wäre. Volontäre (m/w) werden in der Regel über Jahre hinweg nach Gutdünken der jeweiligen Verlage miese bezahlt und lange hingehalten mit der Aussicht auf Festanstellung. Sie erleben entweder im eigenen Verlag oder sehen an anderen Blättern das fortlaufende Zeitungssterben und fühlen sich derzeit hineingeworfen in den Orkus von Print und Online. Darauf lässt sich keine Lebensplanung aufbauen, die einem freien Geist seit jeher zu produktiver journalistischer Arbeit Raum schuf.
Erinnert sei nur an Schiller, den Publizisten, ständig bemüht, neue Einkommensquellen aufzutun. Ohne die verlässliche Zulieferung von Texten freier Mitarbeiter, den eigentlichen Seitenfüllern nicht nur in Lokalzeitungen, wäre selbst deren Redaktionsleiter oder Chefredakteur verratzt. Diee eigentliche Frage wäre also, was treibt einen überhaupt an, Volontär zu werden? Heutzutage wieder eine fast brotlose Kunst wie einmal in früheren Zeiten, obwohl immer bessere Qualifikationen erwartet werden. Ich gebe zu, als Redakteur in besseren Zeiten auch gewerkschaftlich orientiert und sehr neugierig auf Menschen unterwegs gewesen zu sein.
Die SZ über Lothar Matthäus Ehen: Was ist eine gute Überschrift?
Der Herr der Ringe
Die SZ auf ihrer Panorama-Seite über eine Chronik der fünf Ehen von Lothar Matthäus. Ist dies eine gute Überschrift?
Überschriften sollen nachrichtlich sein, das ist ihre wichtigste Funktion, sagt die Leseforschung. Zu Recht: Leser wollen ihre knappe Lese-Zeit nicht mit Suchen vergeuden, sondern durch Überschrift und Foto schnell entscheiden, ob sie ein Beitrag interessiert – oder ob es sinnvoller ist weiterzublättern.
Schön darf, ja soll die Überschrift auch sein, aber nicht verspielt. „Feuilletonistisch“ schwärmen gerne Redakteure, wenn sie dichten, aber den Leser nicht informieren. Das beliebteste Spiel der verkannten Dichter ist die Anspielung an Film- oder Buchtitel, die jeder kennt (eben: „Der Herr der Ringe“) oder die Alliteration (gleicher Laut oder Buchstabe bei jedem Wort-Anfang). Ein berühmtes Beispiel aus der Bildzeitung vom 8. April 2006:
Klinsi killt King Kahn
Also: Nachrichtlich und sprachlich schön – das ist die perfekte Überschrift. Im Zweifelsfall geht die Nachricht vor der Schönheit.
Und die SZ-Überschrift „Der Herr der Ringe“? Eigentlich nur schön, aber nicht nachrichtlich. Schaut man aber auf den gesamten Beitrag, ist die Überschrift perfekt: Zu sehen sind fünf Bilder von Matthäus mit seinen Frauen; die Nachricht übermitteln die Bilder.
Am Rande sei das schönste Matthäus-Zitat erwähnt (nach dem Ende der vierten Ehe):
Manchmal schaut man dann schon in den Spiegel und denkt: Was ist das für eine Welt? Was für eine schmutzige Welt!
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Quelle: SZ 20.9.2014
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