Was wären Zeitungen ohne den Verrat? (Zitat der Woche)
Ohne Verrat, ohne zum Verrat bereite Zeitungen taugt die beste Regierung nichts.
Willi Winkler in der SZ vom 31. Mai zu einem Kommentar der New York Times (Online): Michael Kinsley, „Die globale Überwachung“ von Glenn Greenwald besprechend, hatte sich gegen Snowden positioniert und der Regierung allein die Entscheidung zugewiesen, Geheimnisse bekannt zu machen. Das sei nicht Aufgabe und Recht der Presse. Kinsleys Begründung: Niemand hat die New York Times gewählt.
Margaret Sullivan ist Public Editor des NYT, eine Art Ombudsfrau („Mittler zwischen Zeitung und ihren Lesern“): Sie tadelte die Redaktion wegen der einseitigen Rezension des Buchs.
Journalisten schreiben Krimis, und Robert Domes rechnet mit dem Chefredakteur ab
„Voralpenphönix“ spielt im Allgäu, wo Robert Domes lange als Lokalredakteur gearbeitet hatte, bevor er aus Frust über die ständige Teilnahme an Sitzungen und Konferenzen ins schwere Dasein eines freien Autors wechselte. Er will, so sagt er, schreiben und nicht seine Zeit im Management vergeuden.
So rechnet er, nebenbei, mit dem real im Allgäu existierenden Lokaljournalismus ab, der „zwischen Anbiederung an die Honoratioren und blankem Populismus“ schwankt. Zur Karikatur gerät der Chefredakteur, der immer in der ersten Reihe bei den Graureihern sitzt und sich wichtig macht; Oli, die Lokalredakteurin, beschreibt ihn so:
Eine Basisnote aus vorgespielter Sicherheit, in der Herznote ein kräftiger Schuss Angst und Einsamkeit und darüber ein hohes Flirren aus Stolz und Arroganz, die Zwischentöne sind frauenfeindlich, altbacken, intolerant, unterwürfig, distanzlos und geltungssüchtig.
„Voralpenphönix“ ist einer dieser Heimat-Romane, wie sie derzeit zu Dutzenden verlegt werden und offenbar ihr Publikum finden. „Voralpenphönix“ ist allerdings ein besonderer Heimatroman, ein zweifacher Heimatroman:
> Er spielt im Allgäu, in einer der schönsten Landschaften Deutschlands, aber die Romantik der Natur spielt keine Rolle. Wer sich in Urlaubsstimmung lesen will, wird enttäuscht. Für die junge Lokalredakteurin Olivia, die im Fall eines Serienmörders recherchiert, ist das Allgäu Provinz, und Kaufbeuren, ein 40.000-Einwohner-Oberzentrum, ist ein Kaff:
Das Leben war so zugepflastert wie die Kaufbeurer Altstadt. Stein an Stein, überschaubar und sauber, popelig und eng. Bloß keine Überraschung, bloß keine Neuerungen.
> Doch auch die verlorene Heimat spielt eine entscheidende Rolle: Milowitz, ein Dorf in Böhmen. Nachdem die Sowjets, vom Autor auf „die Russen“ verkürzt, das Dorf im Mai 1945 eingenommen hatten, begann die große Vertreibung – und die lange Erinnerung an das beschauliche Leben im Dorf. Für einen, der sich erinnert, ist das Erzählen von der alten Heimat wie ein langer Tauchgang, bei dem er immer wieder Luft holen muss:
Probisch schwebte durch die staubigen Straßen von Milowitz, durch Glasdrückereien und Bauernhöfe, durch Ställe und Stuben, über Bäche und Felder, durch Generationen und Jahreszeiten. Oli konnte die Rapsfelder riechen und die Kartoffelsuppen, den Pferdemist und den Schweiß der Knechte.
Doch kurz vor Ende des Krieges streunten einige Dorfburschen durch die Wälder, sammelten Waffen ein und griffen einen sowjetischen Panzer ab. Die Reaktion folgte prompt: Die Rote Armee schoss den ersten Bauernhof an der Dorfstraße in Brand, in dem eine komplette Familie mit vier Kindern und den Großeltern umkam.
Ein Sohn war nicht zu Hause. Sein Schicksal wird zum Drehpunkt der Handlung, in die sich Schuld und Rache mischen, unbewältigte Geschichte und unterdrückte Geschichten.
Robert Domes bleibt bei seinem Thema: Das Trauma der deutschen Schuld. In seinem preisgekrönten Buch „Nebel im August“, das bald verfilmt wird, recherchierte er die Geschichte eines ganz normales Kindes: Ernst Lossa wird als Kind fahrender Eltern, von Jenischen, geboren, von den Nazis in ein Erziehungsheim gesteckt und als „asozialer Psychopath“ von einem Euthanasie-Arzt in Kaufbeuren ermordet, nicht einmal 15 Jahre jung. Der Arzt, der die Ermordung verfügt hatte, entschuldigte sich vor Gericht: „Wenn ich ihn nicht euthanasiert hätte, dann wäre er halt in eine andere Anstalt gekommen.“
Im „Voralpenphönix“ geht es auch ums Verdrängen, das eine ganze Generation pflegt. „Eine böse Zeit“, sagen sie, „eine schwere Zeit, eine dunkle Zeit“ – wenn sie dem Thema nicht mehr ausweichen können. „Immer wenn es um das Dritte Reich ging, benutzten Zeitzeugen diese Sätze und beendeten damit das Thema, bevor es richtig anfing.“
Sozialkritisch ist Domes‘ Krimi, aber niemals ist das Kritische aufgesetzt; vor allem aber ist der „Voralpenphönix“: spannend. Die Dialoge sind nicht papieren wie in vielen deutschen Regionalkrimis, die Typen stimmen und bieten sich für eine Verfilmung an. Auch wenn dem Autor gegen Ende die Luft ausgeht, ist Robert Domes ein Erstling gelungen, dem eine Fortsetzung unbedingt folgen sollte.
Robert Domes: Voralpenphönix. Allgäu-Krimi. Emons-Verlag, 192 Seiten, 9.90 Euro
LESEPROBE:
Unter den Erinnerungen stieß Oli endlich auf den erhofften Schatz. In einem Briefumschlag steckten die persönlichen Unterlagen des Verstorbenen, alte Ausweise, Rentenbescheide, Zeugnisse und Beurteilungen. Mit zitternden Händen las sie dort zum ersten Mal den Namen Horst Kittel.
Aus den Papieren ließ sich das Leben des Mannes in groben Zügen rekonstruieren. Er war offenbar wirklich den Russen in die Hände gefallen. Die hatten den Sechzehnjährigen jedoch nicht getötet, sondern in ein Lager nach Sibirien geschickt. Dort war er bis 1950, wurde am Ende ideologisch geschult und bekam eine Arbeitsstelle in der DDR. Von nun an trug Horst Kittel den Namen Heinz Krause. Aus den Unterlagen ging der Grund für den Namenswechsel nicht hervor. Oli überlegte, ob die Russen ihn umbenannt hatten. Aber warum sollten sie? Viel wahrscheinlicher war, dass Kittel sich selbst das Pseudonym zugelegt hatte. Hegte er damals bereits Rachepläne, denen er unerkannt nachgehen wollte?
Als Heinz Krause machte er rasch Karriere in der Verwaltung der Nationalen Volksarmee. Den Unterlagen zufolge schien sein Arbeitgeber stets zufrieden gewesen zu sein. Kittel alias Krause war für die Organisation und Verwaltung von zivilen Einsätzen der NVA-Soldaten zuständig, etwa wenn sie bei der Ernte oder in Großbetrieben aushalfen. Zwischen den offiziellen Papieren lagen Fotos von Betriebsfeiern und Ehrungen. Sie zeigten einen groß gewachsenen, etwas feisten Mann mit Stirnglatze, der freundlich in die Kamera lächelte.
Das biedere Dasein hatte mit dem Fall der Mauer ein Ende. Krause wurde zusammen mit der NVA abgewickelt, verlor seinen Arbeitsplatz und ging vorzeitig in Rente. Er zog in den Westen, mietete sich 1995 eine Wohnung in der Nähe von Kaufbeuren.
Drei Jahre später erlitt er einen Schlaganfall und kam ins Heim nach Füssen.
Ein komplettes Leben in einem einzigen Briefumschlag. Das ist also, was von einem übrig bleibt, dachte Oli. Sie wollte die Dokumente wieder zurückstecken, als ihr ein kleines Notizheft in die Hände fiel, auf das mit schwarzem Stift ein Kreuz gemalt worden war. Mit klopfendem Herzen schlug Oli die Seiten auf. Die mit Bleistift geschriebenen Notizen ließen ihr den Atem stocken. Vor ihr lagen die Mordpläne an den Menschen, die Kittels Familie auf dem Gewissen hatten. Kittel musste seine Opfer über längere Zeit beschattet haben. Er hatte alle ihre Eigenheiten und Vorlieben im Telegrammstil notiert.
Redaktionen und ihre Angst vor Wahlen: Eine Typologie von Lokalchefs
Es gibt immer noch Lokalredaktionen, die zählen erst die Wochen, dann die Tage bis zur Wahl – mit dem Seufzer: „Noch zwei Tage, dann ist es endlich vorbei!“ Vorbei der Ärger mit Politikern, mit Lesern, mit Erbsen- und Zeilenzählern, mit dem Chefredakteur.
Allerdings sind Lokalredaktionen, die zählen, mittlerweile in der Minderheit. Die meisten sehen eine Wahl, vor allem in den Städten, Dörfern und Kreisen, als politischen Höhepunkt an, im besten Fall sogar als Hochfest der Demokratie.
Wie berichten Lokalchefs vor den Wahlen? Es gibt vier Typen von Lokalchefs:
1. Der Verweigerer
Wahlen sind Sache der „Politik“; „die Politik ist gefordert“ – er meint das Ressort, aber auch das Leitartikel-Lieblingswort, den Überbegriff für alles Schlimme in unserem Land.
2. Der Pflichtbewusste
Er berichtet über jeden Auftritt der Größen aus Berlin und dem Land, reiht Bericht an Bericht, wiederholt deren Wiederholungen, nutzt ungemein ökonomisch Textbausteine – alles nach der Devise: Gestern hat es Frau Merkel auch in Castrop-Rauxel gesagt. Aber er ist fair, behandelt alle gleich.
3. Der Reporter
Er schreibt die Reportagen über die Wahlauftritte, beobachtet genau, etwa: Sigmar Gabriel, gerade Vater geworden, hatte sich wieder seine knallrote Krawatte umgebunden, als er beschwingten Schrittes die Bühne auf dem Marktplatz in Hückeswagen eroberte, aber wer genau hinschaute, der entdeckte einen kleinen gelben Flecken, offenbar vom Babybrei, den der Vater…
4. Der Karrierist
Er versucht alles, am liebsten mit Hilfe der heimischen Abgeordneten, ein 5-Minuten-Interview der Prominenz zu bekommen – damit auch die Leser in Heidelberg aus erster Hand erfahren, welche Strategie die Merkel für Brüssel hat. Wenn es einige Male gelungen ist, hofft er, dass das Politik-Ressort ihn entdeckt – „Ich steige auf!“ – und er vielleicht doch noch Chefredakteur wird.
Selbstverständnis eines Lokaljournalisten: Wie stellst Du Dich auf Deine Leser ein? Auf ihre Welt, ihre Bilder?
„Luther schaute dem Volk auf’s Maul, aber er redete ihm nicht nach dem Mund.“ Diese Einsicht des Braunschweiger Dompredigers ist auch eine sinnvolle für Journalisten, die ihre Leser ernst nehmen. Als Beispiel führt der Domprediger, mit dem ich ein langes Interview führte, ein Erlebnis aus Äthiopien an, wo er noch zu Kaisers Zeiten als Vikar ein Jahr gearbeitet hatte.
Er predigte an Heiligabend in einem deutschen Bau-Camp, fünfhundert Kilometer von Addis entfernt:
„Weihnachten ist nicht wetterabhängig“, so habe ich angefangen. Natürlich waren alle mit ihren Gedanken irgendwie im Harz oder im Schwarzwald, eben in ihrer Heimat. Kein „Kling Glöckchen kling“, predigte ich, „aber wir wissen es besser: Weihnachten findet auch statt, wenn das übliche Ambiente nicht da ist.“ Ich habe die Leute daran erinnert, dass Weihnachten eigentlich aus solchen Verhältnissen wie in Äthiopien kommt.
Wie bekommst du geografisch existentielle Situationen zusammen mit biblischen Texten? Diese Frage hat mich lange beschäftigt. Viele der orientalischen Bilder, die es in der Bibel gibt, sind in Äthiopien oder Arabien leichter verstehbar als bei uns in Deutschland. Dort muss ich doch nicht erklären, was eine Oase ist. Dort muss ich doch nicht erklären: Der Herr ist mein Hirte.
Wo Hirten und Herden zum täglichen Straßenbild gehören, da sind biblische Bilder unmittelbar vor Augen. Du brauchst nur einen, der darauf hinweist, zeigt, dolmetscht, Zusammenhänge herstellt. Daran hatte ich immer Freude!
Für uns in Deutschland ist diese orientalische Bilderwelt eine fremde. Für uns ist sie kompliziert; deswegen haben sich auch Generationen von Predigern geflüchtet in philosophische und pseudo-philosophische Gedankenwelten.
So geht es auch einem Lokaljournalisten: Wie stellst Du Dich auf Deine Leser ein? Auf ihre Welt, ihre Erfahrungen, ihre Bilder? Wie verbindest du deine Sicht der Welt, deinen journalistischen Anspruch, deine Erfahrungen mit denen deiner Leser? Der Lokaljournalist ist ein Dolmetscher, der Zusammenhänge herstellt, Welten verbindet.
Schaffst du diese Verbindung nicht, bleibst du abstrakt, blutleer – selbst wenn du ein Leben lang in einer Redaktion arbeitest. Mit dieser lutherischen Einsicht kann man auch achtmal in seinem Leben in eine andere Redaktion wechseln.
Noch einmal Luther: Schau dem Volk aufs Maul, aber rede ihm nicht nach dem Mund.
Die eigentliche Geburt der Pressefreiheit: Das Verfassungsgericht zur Spiegel-Affäre
Viel Lob für den TV-Film im Ersten „Die Spiegel-Affäre“, zu Recht. Erstaunlich ist jedoch, dass das Verfassungsgericht mit seinem bahnbrechenden Urteil zur Pressefreiheit nicht einmal im Abspann erwähnt wird. Die entscheidenden Sätze haben wir in der Neuauflage „Das neue Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus“ auf Seite 21 zitiert.
Das Bundesverfassungsgericht hat im „Spiegel-Urteil“ am 5. August 1966 den Wert der freien Presse für eine Demokratie deutlich gemacht. Aus den Aufgaben der Presse sind die Verpflichtungen für Redaktionen und Redakteure ableitbar:
Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbesondere ist eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse für die moderne Demokratie unentbehrlich.
Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung.
In ihr artikuliert sich die öffentliche Meinung; die Argumente klären sich in Rede und Gegenrede, gewinnen deutliche Konturen und erleichtern so dem Bürger Urteil und Entscheidung. In der repräsentativen Demokratie steht die Presse zugleich als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung. Sie fasst die in der Gesellschaft und ihren Gruppen unaufhörlich sich neu bildenden Meinungen und Forderungen kritisch zusammen, stellt sie zur Erörterung und trägt sie an die politisch handelnden Staatsorgane heran, die auf diese Weise ihre Entscheidungen auch in Einzelfragen der Tagespolitik ständig am Maßstab der im Volk tatsächlich vertretenen Auffassungen messen können.
So wichtig die damit der Presse zufallende „öffentliche Aufgabe“ ist, so wenig kann diese von der organisierten staatlichen Gewalt erfüllt werden. Presseunternehmen müssen sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden können. Sie arbeiten nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen und in privatrechtlichen Organisationsformen. Sie stehen miteinander in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz, in die die öffentliche Gewalt grundsätzlich nicht eingreifen darf.
Der Funktion der freien Presse im demokratischen Staat entspricht ihre Rechtsstellung nach der Verfassung. Das Grundgesetz gewährleistet in Art. 5 die Pressefreiheit. Wird damit zunächst ein subjektives Grundrecht für die im Pressewesen tätigen Personen und Unternehmen gewährt, das seinen Trägern Freiheit gegenüber staatlichen Zwang verbürgt und ihnen in gewissen Zusammenhängen eine bevorzugte Rechtsstellung sichert, so hat die Bestimmung zugleich auch eine objektiv-rechtliche Seite. Sie garantiert das Institut „Freie Presse“.
(BVerfG 20, 162ff.)
Die Spiegel-Affäre, der TV-Film im Ersten und der missionarische Journalismus
Es ist ein eindrucksvoller Film, den das Erste über die Spiegel-Affäre zeigt – nicht nur wegen der unentwegt Weinbrand-trinkenden Redakteure. Der Film räumt gründlich mit der Legende auf, dass Augsteins Kampf eine idealistische Veranstaltung war, um der Pressefreiheit ihren demokratischen Rang zu erstreiten. Dass die Pressefreiheit am Ende so gestärkt war wie in wenigen anderen Ländern, stand nicht in Augsteins Plan.
„Ich wollte Strauß aus der Bundesregierung Konrad Adenauers herauskatapultieren“ – das schrieb Augstein, das war sein Plan. So stand es 1994 im „Spiegel“. Der Film über die Spiegel-Affäre zeigt beindruckend klar, wie heftig auch die Redakteure gestritten haben – gegen Augstein, ihren Chef. „Du bist besessen“, sagt Augsteins Bruder, ein Rechtsanwalt, über den persönlichen Feldzug gegen Strauß.
„Das ist Propaganda!“, brüllt ein Redakteur über die Vermischung von Gerüchten und Tatsachen – und stellt den Spiegel-Journalismus in die Nähe zum DDR-Journalismus, der sich als Propaganda verstand. Augstein lassen die Vorwürfe kalt: Die grundlegenden journalistischen Werte wie Wahrheit und Fairness nennt er „heuchlerische Anstandsregeln“.
Heute noch diskutieren Journalisten, ob dieser missionarische Journalismus nicht zu einer der bedenklichen Spielarten zählt. So sahen wir es auch in der ersten Auflage des „Handbuch des Journalismus“ vor achtzehn Jahren:
Die vierte Spielart des bedenklichen Journalismus ist der missionarische Journalismus. Ihn kennzeichnet das, was Rudolf Augstein im Spiegel 15/1994 geschrieben hat: „Ich wollte Strauß aus der Bundesregierung Konrad Adenauers herauskatapultieren“, und: „Als Verteidigungsminister, Außenminister und erst recht als Nachfolger des Bundeskanzlers musste Strauß unmöglich gemacht werden.“
Ist dies die Sprache eines Journalisten? Sollte es sich nicht vielmehr um die Sprache eines Politikers handeln – eines Politikers, der eine einleuchtende politische Ansicht vertrat und sich mit Strauß zugleich in einem weniger einleuchtenden Zweikampf sah, so dass er den Spiegel als Sturmgeschütz auf Strauß ansetzte? Ist es wirklich tollkühn zu fragen, ob das „Journalismus“ heißen soll?
Von der Spiegel-Schlagzeile „Barschels schmutzige Tricks“ hat Augstein sich zwar nachträglich distanziert – aber formuliert war sie natürlich in seinem Geiste: Wir mussten Barschel aus der Regierung katapultieren, schließlich wollten wir die Wahlen in Schleswig-Holstein entscheiden, am Tag nach der Veröffentlichung fanden sie statt.
Und so stützte sich der Spiegel, seiner eigenen Darstellung nach, weil er keine Zeit zum Nachrecherchieren hatte – stützte sich der Spiegel also bei dieser Zeile zunächst allein auf die Aussagen eines Zeugen von schon damals katastrophalem Leumund.
Das Glück des Spiegels dabei war, dass es jahrelang so aussah, als habe er eine Wahrheit nur vorzeitig ausgesprochen. Inzwischen sind wir schlauer: Wir wissen, dass die SPD sich von schmutzigen Tricks keineswegs freigehalten hat und dass der Schmutzigste von allein in dieser Schlammschlacht vermutlich des Spiegels Zeuge war.
Wenn Journalisten selber Politiker sind – wie sollen sie dann eben den Politikern auf die Finger sehen? „Der Journalist“, sagt Johannes Gross, „hat nicht Überzeugungen feilzuhalten oder für Glaubensbekenntnisse zu wüten, sondern Nachrichten zu formulieren und Analysen auszuarbeiten (…) Die Ethik des Journalismus ist eine Service-Moral.“
In späteren Auflagen haben wir das Journalisten-Kapitel zugunsten des Online-Kapitels gekürzt. So fiel der „missionarische Journalismus“ heraus ebenso wie diese drei Grundhaltungen, „die wir als bedauerlich empfinden“:
1. Der Krawalljournalismus des Boulevards.
2. Der überflüssige Journalismus in vielen Zeitschriften, die Umfragen ins Heft bringen, nach denen keiner verlangt (etwa: Bei Single-Männern, wenn sie nicht allein schlafen, liegen die Rheinland-Pfälzer zehnmal öfter hinten als die Mecklenburger).
3. Der verknöcherte Journalismus saturierter Abonnements-Zeitungen.
Sehenswert – nicht nur für Journalisten!
Die Spiegel-Affäre, Mittwoch, 7. Mai 2014, 20.15 bis 21.55 im Ersten; anschließend Dokumentation zum Thema.
Eine Politikerin ärgert sich über eine Redaktion, schreibt eine Mail – und schickt sie an den falschen Absender
Eine junge Bundestagsabgeordnete kommt mit einem Text, offenbar mit zu viel Partei-PR, nicht in die lokale Zeitung. Sie ärgert sich und schickt eine Mail an einen Genossen – und drückt auf die falsche Taste: Die Mail landet in der Redaktion der Fuldaer Zeitung:
Gesendet: Mittwoch, 16. April 2014 16:37
An: […]
Betreff: Re: Kolumne für MorgenWahrscheinlich finden die sich jetzt richtig toll… Das ist schon frech, was die sich so leisten. Wir müssen mal wirklich eine Strategie ausarbeiten, wie wir denen einen Strich durch die Rechnung machen können. Ich treffe mich Morgen zum Frühstück mit Hettler von Fuldainfo und wir schauen mal, ob wir Ideen haben.
Gruß
Birgit Kömpel MdB
Die Redaktion bringt die Mail in die Öffentlichkeit:
Fehlgeleitete Mail von Birgit Kömpel sorgt für Empörung
REGION
Liebe Leserinnen und Leser, diese Mail der Bundestagsabgeordneten Birgit Kömpel sollte unsere Redaktion nicht erreichen. Aber sie liegt uns vor, weil die SPD-Abgeordnete sich vertan und sie an uns geschickt hat. Schäbig finden wir den Inhalt. Unaufrichtig finden wir Kömpels Verhalten.Zum Hintergrund: Seit einigen Jahren bietet unsere Zeitung heimischen Abgeordneten verschiedener Parlamente im Wechsel die Möglichkeit, sich zu vorgegebenen bzw. abgesprochenen Themen in einer Kolumne zu äußern. Damit wollen wir den Abgeordneten die Möglichkeit geben, ihre Sicht der Dinge zu aktuellen Themen darzulegen – und zwar jenseits von Parteipolitik.
Frau Kömpel schrieb vergangene Woche ohne jede Absprache und ohne sich an Vorgaben zu halten. Sie schrieb einen Lobgesang auf die Arbeit der SPD in 100 Tagen großer Koalition.
Aber: Spielregeln gelten für alle. Das haben wir ihr erläutert und diesen Beitrag abgelehnt. Für Sie, liebe Leser, zum Verständnis: In zwei Fällen mussten wir dies in den vier Jahren, die es diese Rubrik gibt, bereits tun. Einmal traf es einen CDU-Mann, einmal eine SPD-Vertreterin. Wie Frau Kömpel in einer offenbar für einen Mitarbeiter bestimmten Mail reagiert hat, lesen Sie oben.
Frau Kömpel soll(te) in Berlin Interessensverwalterin der Bürgerinnen und Bürger ihres Wahlkreises sein. Sie aber überlegt, wie sie einer unabhängigen Tageszeitung und damit auch einem Unternehmen ihres Wahlkreises Schaden zufügen kann – weil eine Redaktion nicht das tut, was sie möchte.
Die Mail der SPD-Bundestagsabgeordneten Birgit Kömpel offenbart uns ihr Medien- und Demokratieverständnis. Deshalb möchten wir sie transparent machen.
Einen Screenshot der Mail können Sie in der Printausgabe oder im E-Paper sehen.
Reicht die Verärgerung einer Politikerin über eine Redaktion, um sie vorzuführen? Trägt die Redaktion nicht ein wenig zu dick auf: Schäbig, unaufrichtig, Offenbarung eines falschen Medien-und Demokratieverständnisses?
Ist wirklich die Unabhängigkeit in Gefahr? Gewinnt am Ende nicht immer die Zeitung? Ist solch eine Dummheit einer offenbar recht unerfahrenen Politikerin nicht eher Stoff für eine Glosse als für eine große Abrechnung: Unsere Demokratie ist in Gefahr?
„Warum wird so wenig Kultur gelesen?“ – Thomas Bärsch im Gespräch mit Lesern der Thüringer Allgemeine (Teil 2)
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Fußball und Kultur, Kinder und Ältere – und die Interesse der Leser: Das waren die Themen der Leser im zweiten Teil des Gesprächs, das sie mit Thomas Bärsch führten, dem neuen Vize-Chefredakteur der Thüringer Allgemeine. Dabei steht „Lesewert“ im Vordergrund, eine Leserbefragung, die Bärsch zuerst in Dresden bei der Sächsischen Zeitung mit entwickelt hatte und dann in Thüringen erfolgreich einsetzte.
Leser Hans Joachim Kellner: Ich war als Polizist bei Heimspielen von Rot-Weiß Erfurt und habe mich jedes Mal geschämt, wie schäbig die Fans, aber auch der Stadionsprecher, über die Gäste hergezogen sind. Dieselben Fans beschweren sich bei Auswärtsspielen, wie sie dort – auch von der Polizei – behandelt werden. Kann die TA nicht einen stärkeren Druck auf die Vereinsführung ausüben, respektvoller mit den Gästen umzugehen?
Wir jammern in Erfurt auf hohem Niveau: In Dresden beispielsweise, das ich gut kenne, artet es oft sogar in Gewalt aus. Da sind wir uns einig in der Redaktion wie mit den meisten Fans: Begeisterung für Rot-Weiß: ja! Aber Gewalt: nein! Nun spielt ein Bundesliga-Verein eine herausragende Rolle in einer Stadt: Das muss eine Zeitung nicht nur respektieren, sondern auch zeigen.
Leser Dieter Sickel: Vor der Wende haben die jungen Leute ihren Frust im Stadion abgelassen, weil sie ihn sonst nirgends ablassen konnten. Das ist heute auch so. Aber die TA kann da gar nichts tun, das müssen die Fans selber regeln.
Ich kenne die Erfurter Fans noch nicht so gut, aber ich bin mir sicher, dass die meisten von ihnen nicht aus Frust ins Stadion gehen, sondern weil sie mit ihrem Verein mitfiebern, der ja auch der Stolz der Stadt ist.
Leser Andreas Rudolf: Beim Fußball geht es doch heute nur noch um Brot und Spiele! Rot-Weiß ist ein Riesen-Popanz, und die Spieler, die viel Geld verdienen, sind nur besser ausgestattete Hartz-Vierer.
Da widerspreche ich Ihnen. Einen prominenten Fußballverein zu haben, erzeugt schon ein gutes Stadtgefühl. Die meisten Bürger wünschen sich das, auch wenn sie nicht ins Stadion gehen. Diese besondere Rolle, die Rot-Weiß ja auch in der Berichterstattung der TA einnimmt, sollte sich im Verhalten des Vereins, der Spieler und der Fans gegenüber der Stadt und ihren Gästen widerspiegeln.
Leserin Ursula Müller: Früher dachte ich: Die meisten Männer lesen den Sportteil. Bei der Lese-Untersuchung kam heraus: Das stimmt gar nicht, unter den meistgelesenen Artikeln war keiner aus dem Sport.
Es gibt Themen, die gut gelesen werden: Rot-Weiß, Wintersport und die deutschen Handball-Meisterinnen aus Bad Langensalza – sind da immer eine sichere Bank. Der lokale Sport, auch der lokale Fußball, liegt deutlich unter dem gefühlten Interesse. Das bedeutet aber nicht, dass er aus der Zeitung herausfällt, aber wir müssen ihn interessanter machen.
Ursula Müller: Und warum wird so wenig Kultur gelesen?
Der Kultur geht es wie dem Sport: Für einige ist es das Wichtigste, aber viele kümmert es wenig. Auch bei der Kultur gibt es Themen, die viele Leser finden: der Tatort aus Erfurt und Weimar beispielsweise, das drohende Ende des Fernsehballetts, die Abschieds-Tournee der Puhdys – eben alles, worüber viele Menschen sprechen. Rezensionen, selbst aus dem Deutschen Nationaltheater, werden weniger gelesen. Gleichwohl erwarten viele Leser von einer seriösen Zeitung, dass sie über das kulturelle Leben berichtet. Es reicht ihnen offenbar, dass wir es machen – aber sie lesen nicht. Da fragen wir uns schon, wie wir mehr Leser in unsere Texte holen können.
Ursula Müller: Ich finde es toll, dass Sie täglich eine Kinderseite haben. Ich hebe sie auf, wenn meine Enkel aus Berlin und Ingolstadt kommen. Nur die Witze wiederholen sich oft.
Gerade die Witze kommen bei den Kindern am besten an, aber, da haben Sie recht, bei den Erwachsenen am wenigsten. Wir sind überrascht, wie die Kinderseite gerade von älteren Lesern gelesen wird.
Ursula Müller: Die Seite ist wirklich eine anspruchsvolle Seite mit einer Mischung aus lokalen Artikeln, also aus der Welt der Kinder, und kindgerechten Erklärungen zu Politik und Wissenschaft.
Viele Großeltern lesen ihren Enkeln aus der Zeitung vor, etwa wenn schwierige Fragen kommen wie „Warum sterben so viele Kinder in Syrien?“.
Leser Andreas Rudolf: Das Durchschnittsalter der TA-Leser ist hoch. Machen Sie eine Zeitung nur für ältere Leser?
Nein. Ich glaube, dass das Alter überbewertet wird. Bei den großen Themen – seien es nun die Rentenpolitik oder der „Tatort“ aus Erfurt und Weimar – treffen wir bei jüngeren wie älteren Lesern auf großes Interesse. Wir sollten auch nicht immer so tun, als sei man mit 66 schon halbtot. Viele Menschen sind heute bis ins hohe Alter aktiv, neugierig und wach. Wir dürfen uns nicht dem Jugendwahn ergeben, diesem unseligen Trend in unserer Gesellschaft.
Leser Dieter Sickel: Der Chefredakteur hat ein Spezialgebiet, die Sprache, und er schreibt die Sprach-Kolumne „Friedhof der Wörter“. Lesen Sie die?
Manchmal.
Dieter Sickel: Haben Sie auch so ein Spezialgebiet?
Ich schreibe für mein Leben gern satirische Kolumnen.
Dieter Sickel: Lesen wir die bald auch in der TA?
Das kann ich mir vorstellen. Ich hoffe nur, dass die Thüringer Satire mögen.
Dieter Sickel: Das sind dann aber bestimmt nicht nur harmlose Texte.
Ich bin ja prinzipiell gegen Texte, die Schaden anrichten. Aber ja: Satire wird halt von jedem anders verstanden. Viele Leute schmunzeln darüber; manchmal muss ich mich aber auch Lesern stellen, die das ernst nehmen. Als ich eine Satire über das Israel-Gedicht von Günter Grass geschrieben hatte, endete sie mit dem Satz: „Von deutschem Boden darf nie wieder ein Gedicht ausgehen.“ Da rief mich ein Leser an: „Meinen Sie das ernst?“ – „Nein“, sagte ich. – „Dann war das ein Spaß?“ – „Ja“ – Da legte er einfach auf.
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Thüringer Allgemeine, 12. April 2014 (Domplatz 1 – Interview-Reihe)
So stellt sich Thomas Bärsch als neuer Vize-Chefredakteur der TA vor – in einem Gespräch mit den Lesern (Teil 1)
Thomas Bärsch verrät im Gespräch mit TA-Lesern, wie er die Zeitung stärken will, was er vom Fußball hält und warum er manchmal an der Politik zweifelt. Jeden Samstag erscheint „Domplatz 1“ in der Thüringer Allgemeine, benannt nach dem Ort, an dem das Lesergespräch stattfindet: Die Journalisten moderieren, ausgewählte Leser fragen, Prominenten antworten – und erstmals ein Redakteur:
Leserin Eva Fehrenbacher: Wie frei ist ein Chefredakteur? Will der Besitzer der Zeitung nicht reinreden und seine Vorstellungen einbringen?
Reinreden wollen viele – und das müssen nicht einmal die Besitzer eines Verlages sein. Wichtig ist, dass sich die Zeitung nicht beeinflussen lässt – weder politisch noch wirtschaftlich. Dafür muss der Chefredakteur sorgen, indem er selbst unabhängig und vor allem stark ist. Eine Redaktion braucht einen starken Rücken – und den muss der Chefredakteur zeigen. Natürlich ist ein Zeitungsverlag ein Wirtschaftsunternehmen, aber eine starke Redaktion wie die der TA ist unabhängig. Das unterscheidet uns auch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der zwar keine Finanzierungs-Sorgen hat, aber unter dem Einfluss der Politiker steht. Ein Chefredakteur muss die Glaubwürdigkeit der Zeitung sichern. Nur so sichert er ihren Bestand.
Eva Fehrenbacher: Und das tun Sie?
Dafür steht die gesamte Chefredaktion – und auch der Verlag. Alle, die Verantwortung bei uns tragen, wissen: Glaubwürdigkeit ist unser höchstes Gut; an ihr misst sich das Vertrauen der Leser. Es gibt etliche Umfragen, die zeigen: Unter allen Medien genießt die lokale Zeitung die höchste Glaubwürdigkeit – auch in der Internet-Generation. Diese Glaubwürdigkeit würden wir nie aufs Spiel setzen.Und glücklich sind wir erst, wenn wir wissen, dass uns viele Menschen intensiv lesen. Daran arbeiten wir.
Eva Fehrenbacher: Was wollen Sie verändern?
Zuerst will ich nichts verändern, sondern das hohe Niveau, das die TA hat, stärken. Aber es gibt kein Niveau, das wir nicht noch steigern können.
Eva Fehrenbacher: Wie wollen Sie das Niveau steigern?
Wir müssen noch näher an die Bürger ran. Viele Erfurter identifizieren sich mit ihren Stadtteilen, das habe ich schon nach wenigen Wochen Aufenthalt hier erlebt. Diese Verbundenheit mit dem unmittelbaren Lebensumfeld müssen die Leser auch in der Zeitung wiederfinden.
Leser Dieter Sickel: Unter Ihrer Regie ist im Erfurter Lokalteil die wunderschöne Kolumne entstanden, die mich jeden Tag erfreut: „Anja auf Achse“. Die Redakteurin ist in der Stadt unterwegs, sieht Sachen, die wir nicht mehr sehen, hat offene Augen und öffnet sie uns, die blind sind.
Diese Kolumne haben wir ins Leben gerufen, weil wir bei der Lese-Untersuchung merkten, dass die Erfurter bei uns etwas vermissen, was wir Stadtgefühl nennen. Also haben wir uns – und das heißt: alle Lokalredakteure, wirklich alle – geschworen: Wir zwingen uns, noch mehr draußen zu sein und weniger am Telefon zu hängen; wir wollen entdecken. Das ist unsere eigentliche Aufgabe. Wir sind, wenn Sie es so wollen, die Augen und die Ohren unserer Leser.
Leserin Marga Kellner: Aber alles sehen und hören Sie auch nicht. Ich würde zum Beispiel gern mal lesen, was das für Menschen sind, die uns als Polizistinnen und Polizisten jeden Tag Schutz geben – die manchmal angespuckt werden und beleidigt. Was machen die? Haben die Kinder? Ich möchte mal die Menschen hinter ihrer Uniform entdecken.
Das ist eine fantastische Anregung, die ich gerne aufgreife. Allerdings ist die Polizei, besonders in den oberen Etagen, sehr zurückhaltend, um es freundlich auszudrücken. Da kollidiert das Dienstrecht oft mit journalistischer Neugier und dem Informationsbedürfnis unserer Leser.
Gleichwohl genießt die Polizei ein hohes Ansehen. Also – wir greifen Ihre Anregung auf.
Leser Egbert König: Wir siedeln in Thüringen immer mehr Firmen an wie Zalando und andere, die viele Arbeitsplätze mit Niedriglöhnen anbieten. Können Sie nicht dafür sorgen, dass unsere Politiker mehr produzierendes Gewerbe zu uns holen?
Da überfordern Sie uns. Für Arbeitsplätze können wir nicht sorgen, und wir können keinen Unternehmer zwingen, nach Erfurt zu kommen. Aber wir können die Entwicklung kritisch begleiten. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ich habe den Eindruck, dass sich die Erfurter Politik nur halbherzig um das Bahnhofsviertel kümmert.
Die Bahn baut hier den größten Knoten Deutschlands, die Gleise 9 und 10 sind fertig. Aber die Politiker scheinen zu zögern, wenn es darum geht, das Gebiet drumherum aufzuwerten. Ich möchte dafür sorgen, dass wir diesen Politikern gegenüber noch kritischer sind – angefangen beim Oberbürgermeister. Ihm muss es Herzenssache sein, ein so wichtiges Stadtviertel für Firmen und qualifizierte Arbeitskräfte attraktiv zu machen.
Egbert König: Das ist gut, wenn Sie die Politik mehr in die Pflicht nehmen.
Aber wir müssen auch fair bleiben. Was glauben Sie: Welches Bundesland hat – im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung – die meisten Industriebetriebe in Deutschland?
Alle: Baden-Württemberg? Hessen?
Nein, Thüringen. Wir haben viele kleine und hochproduktive Firmen, nicht wenige sind Marktführer in Europa, drei Dutzend sogar in der Welt. Zudem haben wir, zumindest in Erfurt, eine der besten Industrie- und Handelskammern in Deutschland.
Egbert König: Von den kleinen feinen Unternehmen lesen wir aber wenig in der TA.
Diese Kritik nehme ich sehr ernst, und ich werde dafür sorgen, dass gerade im Lokalteil die kleinen Firmen eine wichtigere Rolle spielen. Schließlich verdienen sehr viele Menschen hier ihren Lebensunterhalt.
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Thüringer Allgemeine „Domplatz 1“, 12. April 2014
Herbert Kolbe ist tot: Der Pionier der lokalen Welt-Zeitung – aus Emden
Jede deutsche Zeitung vor dreißig Jahren war ein „Generalanzeiger“: Große Politik, große Wirtschaft, große Kultur und am Rande ein bisschen Lokales. Wer nicht mitleidig belächelt werden, wer etwas werden wollte, der sah zu, dass er so schnell wie möglich aus der Lokalredaktion in den „Mantel“ kam.
Die Revolution kam aus dem Norden, von einer kleinen Zeitung an der holländischen Grenze mit gerade mal neuntausend Abonnenten. Der Revolutionär hieß Herbert Kolbe, die Zeitung war die Emder Zeitung.
Herbert Kolbe wurde in Emden 1981 Chefredakteur: Er hatte eine Mission:
Durchdringung der ,großen‘ Nachrichten mit dem Lokalen, wobei ich es lieber umgekehrt formuliere: Durchdringung des Lokalen mit den ,großen‘ Nachrichten.“
Er hatte eine Mission, die er konsequent verwirklichte, aber er war kein Missionar. Er war Realist, der sich die Frage stellte: Ist die Zeitung im Stile eines Generalanzeigers noch zeitgemäß? Hat sie eine Zukunft?
Kolbe begann die Leser-Forschung bei seinem Verleger Edzard Gerhard, der Anfang der achtziger Jahre den Verlag von seinem Vater übernommen hatte: „Ich mochte die eigene Zeitung nicht mehr lesen“, bekannte der Verleger. So viel Ernüchterung war selten, wenn nicht einmalig vor 35 Jahren. Auch der neue Chefredakteur mochte seine Zeitung nicht – und war erstaunt, dass es seinen Lesern ähnlich ging.
Sie langweilten sich bei Meldungen wie „Außenminister Genscher wird morgen mit seinem Amtskollegen NN zusammentreffen und voraussichtlich die bilteralen Beziehungen erörtern…“ Kolbe beschloss das Ende der Langeweile, wollte nicht mehr die kostbare Zeit seiner Leser vergeuden – und verbannte „die zahllosen Handschüttel- und Bundestags-Stehpult-Bilder gnadenlos aus der Zeitung“. Er riß die Ressortgrenzen nieder, schuf eine vertikale Struktur in der Redaktion – also: Lokales und Welt auf Augenhöhe. „Rathaus und Bundeshaus in einem Team“, so arbeitete Kolbe in seiner Redaktion.
Kolbe war ein harter Chefredakteur, dem seine Leser wichtiger waren als seine Redakteure – die sich heftige Kritik gefallen lassen mussten:
> Mittelmäßiger bis schlechter Sprachstil,
> weitgehend ohne Kenntnis der journalistischen Stilmittel,
> dürftige optische Darbietung,
> ungeordnet und meist schlecht ausgebildet.
Diese Kritik übte er nicht nur an seiner Redaktion: „Das ist der Standard vergleichbarer Tageszeitungen (was ja nichts mit Auflagenhöhen zu tun hat)“.
Kolbe trennte sich vom Mantel aus Osnabrück und schuf eine Zeitung aus einem Guß. Auf der Titelseite standen gleichrangig Nachrichten aus Emden und der Welt – eben die wichtigsten des Tages aus der Perspektive der Leser. Nicht selten, wenn die Welt ruhte, standen allein Berichte und Fotos aus Emden auf der Titelseite.
Aber nicht „Local first“ wurde zum Prinzip, sondern stets: „Einordnung des lokales Sachverhalts in das Gesamtgeschehen des Tages“ – mit der Folge, die heute Online-Redakteure als von ihnen entdeckten Fortschritt preisen:
Erst in der Mischung aller bedeutenden Ereignisse eines Tages erhält das Lokale den richtigen Platz und angemessenen Stellenwert. Auch das könnte man wieder umgekehrt ausdrücken.
Das erste Buch wurde zum lokalen Buch, Politik und Meinung wanderten ins zweite Buch. Die Hausfarbe der Zeitung wechselte vom Blau zu Orange, der Blocksatz wurde vom Flattersatz abgelöst – ein bisschen und mehr sah dieEmder Zeitung aus wie USA Today. Die Auflage stieg, in manchem Jahr über vier Prozent.
Kolbe nannte seine Revolution selber den „Urschrei“ und machte sich ein wenig lustig über andere, also die meisten Zeitungen, die Alarmzeichen nicht sehen wollten. Der Rest der Chefredakteure machte sich allerdings lustig über den Provinzler von der Küste. Wer das Lokale so hoch schätzte wie Kolbe musste sich Urteile wie „Das Ende des Qualitätsjournalismus“ gefallen lassen.
Nur wenige sahen die Zeichen: Der Wiener Publizistik-Professor Wolfgang Langenbucher geißelte die Mißachtung des Lesers und die Hofberichterstattung in den meisten Zeitungen. Schon in den achtziger Jahren hielt er die wachsenden Reichweiten-Verluste bei den jungen Leuten für eine Gefahr – für die Zeitung wie für Gesellschaft und Demokratie. Die Frage, ob die Zeitung ein Integrationsmedium bleiben kann, hielt Langenbucher für eine „Schicksalsfrage der Gesellschaft“.
Ebenfalls in der achtziger Jahren schuf Dieter Golombek das „Lokaljournalistenprogramm“ – in einer Behörde, der Bundeszentrale für politische Bildung. Kaum ein Programm hat den Journalismus in Deutschland stärker verändert. 1980 vergab Golombek erstmals den „Deutschen Lokaljournalistenpreis“, der zum bedeutendsten Zeitungs-Preis in Deutschland wurde, der Trends erkannte und setzte. 1980 – das war auch das Jahr, in dem Emden aufbrach in die neue Zeitungszeit.
Die Emder Zeitung hat, wenn ich es recht überblicke, nie den Lokaljournalisten-Preis gewonnen. Das ist einer der wenigen Irrtümer der Jury. Kolbe hätte für seine Pioniertat und sein Lebenswerk den Preis verdient gehabt – ebenso wie den Theodor-Wolff-Preis, den aber bis heute vor allen Leitartikler und Helden des Generalanzeigers für ihr Lebenswerk bekommen.
Kolbes Konzept ist seltsam modern: Die meisten Debatten um die Zukunft der Zeitung und die Gegenwart des Digitalen kreisen um Themen und Ideen, die er schon früh erkannt und formuliert hatte. Am 6. April 2014 ist Herbert Kolbe gestorben, 72 Jahre alt.
Ich habe viel von ihm gelernt. Parallel zur Emder Zeitung entwickelte ich mit meiner Redaktion in der Oberhessischen Presse eine moderne Lokalzeitung im Marburg der achtziger Jahre, belächelt von den meisten in der Zunft, aber geachtet von den Lesern in der Universitätsstadt; auch in Marburg stieg die Auflage kontinuierlich, als das Lokale auf die Titelseite und ins erste Buch kam.
Der Chefredakteur der Oberhessischen Presse berief sich übrigens auf ein noch älteres Konzept, das der US-Presse-Offizier Shepard Stone 1945 bei der Lizenzvergabe so formuliert hatte:
Die Zeitung muss sich durch die Art ihrer Berichterstattung das Vertrauen der Leser erwerben: Der Lokalberichterstattung muss die stärkste Beachtung geschenkt werden und damit den vordringlichsten Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volks.
*
Quelle für Kolbe- und Langenbucher-Zitate:
> Bernd-Jürgen Martini „Journalisten-Jahrbuch 1989“, darin:
> Herbert Kolbe „Das Beispiel Emden: Wie man Erfolg hat“
> Wolfgang Langenbucher „Noch immer wird der Leser mißachtet!“
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