Die neue Basis des Journalismus: Storytelling und Multimedia
Was sind die Grundlagen des Journalismus? Diego Yanez ist der neue MAZ-Direktor, der Schweizer Journalistenschule; er beantwortet die Frage nach der „soliden Grundausbildung“ im April-Newsletter der Schule:
Recherche, Medienrecht, Storytelling, multimediale Fertigkeiten und vieles mehr.
Schreiben und Redigieren und die Nachricht und die Reportage, über Jahrhunderte die Basis des Journalismus, gehören mittlerweile zu „vieles mehr“. Aber immerhin, so beginnt der Newsletter: „Journalismus ist nach wie vor ein Traumberuf.“ Dann tell me mal ne Story.
In den Grundkurs zum Interview gelangt sicher bald das Interview im Newsletter mit einer erfolgreichen Absolventin. Beispiel:
Frage: Pro Jahr schliessen fast 100 junge Journalisten eine Journalistenschule ab. Braucht es die alle?
Antwort: Keine Ahnung.
Braucht es die alle?
Bilder, die sich ins Gedächtnis der Menschheit einprägen: Was wäre die Welt ohne Reporter wie Anja Niedringhaus?
Die Ermordung der Fotografin Anja Niedringhaus kommentieren die meisten Zeitungen als einen Beleg, wie schlimm es um Afghanistan bestellt ist und wie wenig Chancen dieses Land hat – trotz der Wahlen; einige, wie die FAZ, kommentieren, es gebe Fortschritte – trotz der Ermordung der deutschen Fotografin.
Wir sollten uns aber zuerst vor der Fotografin verbeugen, vor ihrem Mut, für die Freiheit der Menschen und die Freiheit der Presse ihr Leben zu riskieren. Mancher mag denken: Was bringt es denn, sein Leben zu opfern in Ländern, die uns wenig angehen und denen sowieso nicht zu helfen ist?
Es bringt viel! Fotos aus Vietnam, auch unter Lebensgefahr auf den Film gebracht, leiteten das Ende dieses Krieges ein. Das Foto des nackten Mädchens, das vor der Napalm-Wolke flieht, hat sich in das Gedächtnis der Menschheit eingeprägt.
Die Welt wäre anders, wenn Fotografinnen wie Anja Niedringhaus nicht mehr ihr Leben riskierten – um der Welt, den Politikern und den Menschen guten Willens zu zeigen, welcher Wahnsinn immer noch um uns herum tobt. Die Kriegsreporter und alle, die um der Wahrheit willen recherchieren, sind eine Art Weltgewissen, vielleicht sogar eine heimliche Weltregierung. Wenn sie fehlen oder immer weniger werden, wird diese Welt eine andere sein – und sicher keine bessere.
Verneigen wir uns vor Anja Niedringhaus und all den anderen. Ihr Tod ist eine Tragödie für die Welt und ein Verlust für uns Journalisten. Ellen Dietrich, die Bildchefin der Zeit, berichtet: „Wir haben hier in der Redaktion gesessen und geweint.“ Am Ende bleiben nur die Tränen.
Jochen Reiss‘ Porträt der Fotografin Anja Niedringhaus, erschossen in Afghanistan
Braune Outdoor-Jacke mit aufgesetzten Taschen, da geht was rein. Den braunen Rucksack mit der Kamera hat sie auf dem Rücken. Anja Niedringhaus kommt mit dem Rad, sie kettet es vor dem Genfer Hauptbahnhof an. Gespräch in der Bahnhofspizzeria beim Cappuccino. Zwischendrin muss sie telefonieren. „I’ll be there just in time.“ Sie will sich Zeit nehmen, aber sie ist unter Druck. Spätestens um 16.45 Uhr muss sie los. Um 17 Uhr schließt das Konsulat Afghanistans und sie hat ihr Visum noch nicht. Morgen will sie wieder nach Kabul. Alle zehn Minuten zündet sie ihre Elektro-Zigarette an. Sechs Jahre lang war sie weg vom Rauchen. Im Krieg in Libyen hat sie wieder angefangen.
Anja Niedringhaus ist Kriegsfotografin. Der Gaza-Streifen, Afghanistan, Pakistan, Libyen, Kuwait, der Irak – die Stempel in ihrem Pass lesen sich wie die Landkarte der Krisengebiete. Mit dem Balkan-Krieg hat alles angefangen. Sie hat aber auch andere Themen: Wimbledon, Fußball-Weltmeisterschaften oder -Europameisterschaften, internationale Leichathletik-Turniere, auch mal der Papst auf Reisen.
So beginnt Jochen Reiss sein Porträt von Anja Niedringhaus, das 2013 in seinem Buch „Menschen machen Medien“ erschienen ist (mehr dazu im Anhang dieses Blogs). Am Freitag, 4. April 2014, ist die Fotografin in Afghanistan von einem Polizisten erschossen worden, als sie über den Wahlkampf berichtete.
Eines ihrer Fotos zeigt einen US-Marineinfanteristen mit entschlossenem Blick in schwerer Montur. Er führt einen jungen Mann in schwarzen Kleidern ab, barfuß, die Hände auf dem Rücken mit Kabelbindern gefesselt. Die rechte Hand des Soldaten drückt den Nacken des Festgenommenen tief nach unten. In der linken hält er sein Gewehr. Das Foto ist eines der Bilder, für das Anja Niedringhaus als erste deutsche Fotografin den Pulitzerpreis bekommen hat.
„Wenn ich es nicht fotografiere, wird es nicht bekannt“, sagt Anja Niedringhaus. Das Foto macht sie während der zweiten Schlacht um die irakische Rebellen-Hochburg Falludscha im November 2004. Phantom Fury wird die Operation genannt, gespenstische Wut. 1.200 Aufständische und 64 Soldaten werden getötet. Es ist der schwerste Häuserkampf des US-Militärs seit der Schlacht um Hué in Vietnam im Jahr 1968.
Das Foto ist eines der wenigen Hochformate, die sie macht. Sonst fotografiert sie quer. „Man sieht ja auch nicht hochkant.“ Sie hat es so schwerer, dass eines ihrer Motive es auf das Cover von Newsweek oder des Time Magazine schafft. Das nimmt sie in Kauf.
Manchmal ist Anja Niedringhaus in der Frontlinie, wo die Kugeln pfeifen. Meistens zeigen ihre Bilder die anderen Opfer eines Krieges, die toten und verletzten Zivilisten, die Hinterbliebenen, die Traumatisierten, das Ringen um Würde und Normalität in der Ausnahmesituation. „Ich bin ja nicht auf der Suche nach dem Bang-Bang. Ich glaube, dass andere Fotos viel mehr zeigen können. Was passiert nach dem Bang-Bang? Welche tiefen Spuren hinterlässt der Krieg? Wie geht es den Menschen, die leiden und sich im Krieg zurechtfinden müssen? Das ist es, was ich erzählen möchte.“
Ein Foto zeigt den Schmerz eines jungen Libyers. Pfleger trösten ihn, im Krankenhaus von Bengasi hat er gerade seinen getöteten Bruder identifiziert. Auf einem anderen ist ein US-Soldat mit nacktem Oberkörper in Afghanistan zu sehen. Er hat einen Bauchschuss, im Lazaretthubschrauber greift er nach seinem Rosenkranz. Einmal kommt Anja Niedringhaus an einem Auto vorbei, eine Granate hat es gerade getroffen. „Da klebte eine ganze Familie an den Resten der Autoscheiben. Es waren zwei Kinder dabei.“
Widerwillig nähert sie sich, die letzten Meter geht sie nur noch mit der Kamera vor den Augen, um die Strecke zu schaffen. „Wenn ich ein schreibender Journalist wäre und würde diese ganzen Dinge sehen, hätte ich ein größeres Problem. Ich bin meiner Kamera dankbar, sie ist immer auch ein Schutz. Die Konzentration schirmt mich ab gegen die Eindrücke.“ Als Anja Niedringhaus damals am Abend die Bilder editiert, muss sie sich mehrfach übergeben.
Früher hat sie mal geglaubt, wenn man ihre oder die Fotos der Kollegen druckt, dann muss ein Krieg doch aufhören. Sie weiß heute, dass sie Kriege nicht stoppen wird. „Aber ich kann trotzdem etwas tun. Ich habe die Aufgabe, darüber zu berichten, und hoffe, dass sich etwas ändert. Vielleicht werden Hilfsgüter mobilisiert. Vielleicht werden Politiker sensibler. Und gerade, wenn die Menschen zuhause müde, abgestumpft sind, weil es einen Krieg seit zehn Jahren gibt, wenn es kaum noch Interesse daran gibt – gerade deshalb muss man immer wieder hin und dokumentieren: Der ist aber noch da, dieser Krieg.“
Dafür riskiert sie seit mehr als 20 Jahren ihr Leben. Auch wenn sie vorsichtig ist. „Angst muss man sich behalten. Angst ist ja auch eine gute Warnung, ich bin ja kein Rambo. Angst ist lebenserhaltend.“
Wenn Anja Niedringhaus an die Front geht, wenn sie embedded ist, eingebettet in eine militärische Einheit, ist sie gerne mit Soldaten unterwegs, die sie schon kennt. Auch das hilft gegen die Angst. „Es hilft, sich zurechtzufinden. Es ist gut zu wissen, wo man sich sicher schlafen legen kann. Die Soldaten vertrauen mir und ich vertraue ihnen. Es ist ganz oft eine große Kameradschaft. Wenn es wirklich um Leben und Tod geht, trifft man die ehrlichsten Menschen. Wir lachen aber auch viel. Sonst hält das keiner aus.“
Die Fotografie, meint sie, sei „die ehrlichste Sparte im Journalismus. Weil ich das Geschehen mit eigenen Augen gesehen haben muss.“ Sie kennt nur wenige schreibende Kollegen, die unmittelbar von der Frontlinie berichten. Der Spar-Zwang in vielen Medienunternehmen mache es den Textern auch immer schwerer, überhaupt rauszukommen. Sie als Fotografin sei da im Vorteil. „Immer öfter heißt es doch: Können Sie das nicht reintelefonieren? Gott sei Dank kann ich kein Foto reintelefonieren. Journalismus findet auf der Straße statt. Nicht im Büro.“
Anja Niedringhaus weiß, dass sie einen mächtigen Schutzengel haben muss. Er passt auch am 11. September 2010 auf sie auf. Sie begleitet eine Fußpatrouille des Royal Canadian Regiments in Afghanistan, seit vier Uhr morgens sind sie unterwegs. Sie erreichen das Dorf Salavat in der Kandahar-Region im gefährlichen Süden Afghanistans. Anja Niedringhaus gelingt noch das Foto eines Soldaten, der mit dem rechten Fuß ein Huhn aufscheucht. Er trägt ein Maschinengewehr und zusätzlich eine Pistole in einem Halfter am Bein. Die Sonne steht noch tief, es ist ein Foto mit viel Schatten, fast wie ein Scherenschnitt. Es ist eines der schönsten Bilder der Fotografin.
Sie lehnt an einer Lehmwand, als sie die Szene fotografiert – da fliegen Handgranaten über die Mauer, detonieren. Anja Niedringhaus merkt stechende Schmerzen im Gesäß bis zur Hüfte, denkt aber: Sind das Dornen? Sie geht in Deckung, fotografiert weiter, klettert mit den anderen über eine Mauer, als einer ruft: „Anja blutet!“
Ein Hubschrauber bringt sie und einen verletzten Soldaten zum Militärhospital nach Kandahar. Dutzende sechs Millimeter große Metallsplitter stecken in ihrem Körper, einer ganz dicht am Ischias-Nerv. Ärzte operieren sie heraus. An vier kommen sie nicht heran. Anja Niedringhaus spürt sie heute manchmal noch. Lebensnotwendige Organe haben die Splitter nicht verletzt. Die kugelsichere Weste hat sie aufgehalten.
Die lebensrettenden Kevlar-Platten in der Weste lässt sie ersetzen. Zwei solcher Panzerungen hat Anja Niedringhaus. Eine der Westen ist in Kabul deponiert, die andere liegt in einem idyllisch gelegenen Forsthaus bei Kassel. Dorthin, zu ihrer Schwester, dem Schwager, deren drei Kindern und den Pferden taucht sie gelegentlich für ein paar Tage ab. Abstand bekommen! Das Lachen der Kinder! Auftanken! Eigene Kinder sind mit der Berufsleidenschaft von Anja Niedringhaus nicht zu vereinbaren. Was hätte sie fotografieren sollen? Lokaltermine? Regionalsport? „Ich hätte mich gefürchtet davor, die Kinder einmal dafür verantwortlich zu machen, dass mein Leben einen anderen Weg gegangen ist.“
In Göttingen studiert Anja Niedringhaus Germanistik, Philosophie und Publizistik, Schwerpunkt Fotografie. Nach dem ersten Semester geht sie für vier Monate nach Südindien, hilft dort in einem Heim für Polio-Kinder. „Ich wollte immer viele Länder bereisen. Aber dort gar nichts tun, das kann ich nicht.“ Schon beim Großvater sitzt sie als Kind vor dessen Globus, kann aber Höxter nicht finden. Daraus schließt sie, dass die Welt groß sein muss. Wie groß, das will sie entdecken. Vom Großvater bekommt sie auch ihre erste Kamera, eine Contax. Anja Niedringhaus fotografiert, seit sie zwölf Jahre alt ist. Mit 13 hat sie ein Nikon Einsteigermodell.
Beim Göttinger Tageblatt macht sie ein Praktikum, bekommt einen Job als Pauschalistin, schreibt und fotografiert. Sechs Jahre arbeitet sie als Freie fürs Tageblatt, danach erhält sie eine Stelle als Fotografin der European Pressphoto Agency (EPA) in Frankfurt am Main. Sport- und Gesellschaftsfotografie. Dann bricht 1991 der Balkan-Krieg aus. Anja Niedringhaus ist nachts auf der Rückfahrt von einem Termin in Baden-Baden, als sie im Radio die Nachricht hört von den ersten Kämpfen in Slowenien. „Das war für mich ganz klar: Wenn ich mich für diesen Beruf entschieden habe, dann gibt’s auch hier kein Wenn und Aber. Dann gehören die Kriege dazu.“
Sie meint, anfangs sei sie ganz schön naiv gewesen. „Wie das ist, wenn eine Rakete abgefeuert wird, die Menschen töten kann, das kannte ich ja bisher nur aus Filmen. Dies dann zu sehen in der Realität, ist eine Prüfung an sich selbst. Das war das Wichtigste für mich, dass ich gemerkt habe, ich halte das durch, ich kann das.“
Gleich in den ersten Kriegsjahren wird sie von Heckenschützen unter Feuer genommen, sie trägt auch damals schon eine kugelsichere Weste. Bei einer Demonstration in Belgrad fährt ein Polizeiauto ihr über den Fuß und bricht ihn in Stücke. Drei aufwändige Operationen sind nötig, um ihn zu rekonstruieren. Mit Kollegen ist Anja Niedringhaus an der Grenze zwischen Albanien und dem Kosovo unterwegs, als Nato-Flugzeuge die Journalisten beschießen. Sie können sich retten in Autos und Unterstände. 20 Minuten dauert der Angriff, bis die Nato ihren Irrtum bemerkt. Die International Women’s Media Foundation zeichnet Anja Niedringhaus später für mutigen Journalismus aus.
Sie lebt damals auch in Sarajewo, wird Chef-Fotografin der EPA, koordiniert die Fotografen-Einsätze. Dann der Anruf der Associated Press (AP). Man hat die Position eines reisenden Fotografen mit Standort in Genf zu vergeben. Anja Niedringhaus sagt noch am Telefon zu. „Ich kenne ja nichts anderes in meinem Leben, als zu reisen.“ Es geht gleich los. Israel, der Gaza-Streifen. Dann Kuwait, die US-Army sammelt dort ihre Truppen für den Einmarsch in den Irak. AP versichert Anja Niedringhaus. 400 Fotografen hat die Agentur weltweit, nur zwei Frauen berichten von den Kriegen. Die Kollegin von Anja Niedringhaus riskiert in Afrika Kopf und Kragen.
Es gibt eine Vereinbarung mit den Amerikanern. Fotos von Toten dürfen erst nach zwei Tagen und nur mit Genehmigung veröffentlicht werden. Die Gefahr ist zu groß, dass Angehörige die Bilder sehen, bevor man sie verständigen konnte. Verletzte dürfen nur gezeigt werden, wenn sie schriftlich zugestimmt haben. Ohnehin zeigt Anja Niedringhaus nicht alles. „Vielleicht mache ich das Foto, aber eine ganz andere Überlegung ist: Sende ich das auch? Jeder hat sein Menschenrecht. Es ist in 99 Prozent der Fälle nicht wichtig, etwa Verstümmelungen zu zeigen. Ich möchte ja vielleicht auch nicht so gesehen werden im Sterben. Man kann eine Geschichte auch anders erzählen als mit martialischen Fotos.“ In Sarajewo legt sie die Kamera einmal ganz weg. Sie fährt Verletzte ins Krankenhaus. Ein Foto hat sie abends nicht.
Südafghanistan, die Provinz Helmand. Der junge Marineinfanterist Corporal Burness Britt führt eine Patrouille durch ein Weizenfeld. Er ist erst 22 Jahre alt, dieser Einsatz ist sein erster in dieser Region. Plötzlich explodiert ein versteckter Sprengsatz nur wenige Meter entfernt. Ein großer Metallsplitter schneidet durch Burness Britts Nacken, zerfetzt eine Arterie, bleibt stecken. Die Druckwelle schleudert ihn durch die Luft.
Der Rettungshubschrauber vom Team für Medical Evacuation ist schnell vor Ort. Anja Niedringhaus ist an Bord, sie ist mal wieder embedded. Fünf Männer sind schwer verletzt, Burness Britt hat es am schlimmsten erwischt. Das Blut spritzt auch noch, als er im Helikopter liegt. In der rechten Hand hält Anja Niedringhaus die Kamera, sie macht ihre Fotos. Mit der anderen drückt sie eine Hand des Soldaten. Er erwidert die Geste, klammert sich fest, bis er bewusstlos wird. Er ringt mit dem Tod.
Britts Uniformhemd ist zerfetzt, blutgetränkt. Anja Niedringhaus entdeckt darauf eine Weizen-Ähre, steckt sie in die Tasche ihrer kugelsicheren Weste. „Ich habe viele verletzte Zivilisten und Soldaten gesehen, aber niemand hat mich mehr beeindruckt als Britt. Ich kannte ihn erst seit ein paar Minuten in diesem Hubschrauber. Aber ich hoffte, ihn eines Tages wiederzusehen. Und ihm dann dieses kleine Stück Weizen geben zu können.“ Der Helikopter fliegt den Corporal zum Außenposten Camp Edi, von dort wird er nach Deutschland ins US-Militärkrankenhaus in Landstuhl gebracht, später in die USA.
Anja Niedringhaus reist zurück in die Schweiz. Die Weizen-Ähre bewahrt sie in einem Schmuckkästchen auf. Sie geht ihrer Arbeit in Europa nach und sucht gleichzeitig nach dem jungen Soldaten. Was mag aus ihm geworden sein? Sie telefoniert die Hospitäler in den USA ab, in denen die schwerverletzten Kriegsveteranen versorgt werden. Aber niemand dort kennt Britt. Sie bittet ihre AP-Kollegen um Hilfe. Eines Abends versucht sie im Internet, mit den Buchstaben seines Namens zu spielen. Sein Vorname sei Burmess, haben sie ihr im Helikopter gesagt. Tatsächlich heißt er Burness. Sie findet einen Artikel über ihn in der Lokalzeitung in seiner Heimatstadt Georgetown, South Carolina. Burness Britt ist auch bei Facebook, er akzeptiert ihre Freundschaftsanfrage, aber er antwortet nicht. Vielleicht will er einfach nur vergessen?
Anja Niedringhaus findet heraus, dass Burness Britt in einem Krankenhaus in Richmond im Staat Virginia gepflegt wird. Sie ruft an, bekommt eine Krankenschwester ans Telefon. Sie hört diese sagen: „Britt, da ist ein Anruf für dich von einer Fotografin aus der Schweiz. Sie war in Afghanistan dabei.“ Stille, dann Burness Britts sanfte Stimme. Am Ende sagt er: „Yes, ma’am, I would like to see you. Come.“
Es ist kurz vor Weihnachten, Anja Niedringhaus fliegt nach Richmond. Im Flur des Hunter Holmes McGuire Medical Center trifft sie Burness Britt. Es fällt ihm schwer, zu gehen, den rechten Arm und das Bein zu kontrollieren. Er trägt einen Helm. Nach vier Wochen im künstlichen Koma hat er einen Schlaganfall erlitten, die Ärzte mussten die halbe Schädeldecke entfernen, um den Druck zu nehmen. Er lächelt. Immer wieder sagt er: „Oh man, it is so good to see you.“
In seinem Zimmer sitzen sie auf seinem Bett. „Haben Sie Fotos dabei?“, fragt Burness Britt. Er will die Bilder aus dem Hubschrauber sehen. Jedes schaut er sich lange an, in seinen Augen sind Tränen. Anja Niedringhaus deutet auf das Foto mit der Weizen-Ähre auf dem blutigen Hemd. „Die habe ich dabei.“ Er sagt, das wird sein neuer Talismann. „Sie geben mir einen Teil meines Lebens zurück.“
Jochen Reiss: Menschen machen Medien. Daedalus-Verlag, 246 Seiten, 19.95 Euro
Kurzbesprechung:
Gute Journalisten schreiben am liebsten über Menschen statt über Sachen. Erstaunlich selten schreiben Journalisten über Journalisten, es sei denn in hämischer Absicht.
Der Münchner Journalist Jochen Reiss hat 32 meist wenig bekannte Journalisten beobachtet und mit ihnen gesprochen: Porträts einer aufregenden und bewegenden Zunft, die sich ihrer Macht bewusst ist – zum Beispiel
> Die Lokalreporterin, die Neonazis jagt und der ein Polizist rät, sich nicht zu verstecken: „Öffentlichkeit schützt!“
> Die West-Korrespondentin in der DDR, die eine 500 Seiten starke Stasi-Akte hat und heute Medienwächterin in Sachsen ist.
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Ausschnitte aus Reiss‘ Porträt erscheinen in der Thüringer Allgemeine 7. April 2014
Elend und wenig Glanz im Sportjournalismus: „Die Sache ist durch“
Was macht aus einem Sportreporter einen guten Journalisten? Wenn er keine dämlichen Fragen stellt! Wenn er sein Urteil über ein Spiel nicht dem Trainer ins Gesicht soufliert – und noch mühsam ein Fragewort anschließt: „Oder?“?
„Die Sache ist durch – oder?“, meinte der junge ZDF-Reporter Jochen Breyer im Angesicht von Jürgen Klopp, nachdem Borussia Dortmund gerade hoch in Madrid verloren hatte. Das ist eine Suggestivfrage, die ein Journalist nur in hoher Not nutzt – wenn er beispielsweise einen Politiker in die Enge treiben will, um ihm endlich die Wahrheit zu entlocken.
„Doofe Frage“, meint Bild-Kult-Briefeschreiber Franz-Josef Wagner und rammt den ZDF-Reporter gleich in Grund und Boden: „Ein grinsendes Milchbärtchen, der sein Mikro hält wie einen Babyschnuller… und erst einmal anfangen sollte bei Blindekuh und Federball.“
Der FAZ-Redakteur Tobias Rüther, zehn Jahre älter als der ZDF-Reporter, kritisiert wie sein Bild-Kollege: „Im Vollbesitz des Mikrofons weidete sich Jochen Breyer an der Wehrlosigkeit Klopps.“
Rüther zielt aber mit seiner Kritik ins Grundsätzliche: Welches Selbstverständnis haben die Sportjournalisten im Fernsehen?
Die fünf Minuten vom Mittwochabend zeigten wieder einmal den kaum zu ertragenden Opportunismus im Fernsehsportjournalismus: Wenn es gut läuft, siegen die Moderatoren und Kommentatoren immer schön mit, wenn es schlecht ausgeht, wissen sie aber ganz genau, woran es gelegen hat. Das ist eine Machtfrage.
Das ist das Prinzip des Boulevards: Wer mit uns im Aufzug nach oben fährt, fährt mit uns auch wieder nach unten. So prinzipiell konnte Franz-Josef Wagner nicht kommentieren.
Bild-Kolumnist Alfred Daxler heute (5. April) hat in „Nachgehakt“ sein Archiv geöffnet und die schönsten Trainer-Reaktionen auf dumme Journalisten-Fragen zelebriert:
„Dann interview dich doch selbst!“ (Jürgen Klopp)
„Haut‘s euch in Schnee!“ (Ernst Happel)
„Sie (Journalisten) denken nur von der Tapete bis zur Wand!“ (Max Merkel)
„Schleich di mit deinem Kasperl-Sender…“ (Franz Beckenbauer)
Und wie reagierte Jürgen Klopp auf die Frage des ZDF-Reporters? Mit einer Gegenfrage: „Wie könnte man mir Geld überweisen für meinen Job, wenn ich heute hier stehen würde und sagen würde: Das ist durch?“
Und wie reagierte der ZDF-Reporter Breyer gegenüber Bild? „Das war eine dämliche Frage.“
Am Ende waren es doch zwei Profis, der Klopp und der Breyer.
Quellen: Bild 4. und 5. April, FAZ 4. April
Ein guter Satz, eine tolle Reportage: Guardiola-Porträt in der SZ
Ist dieser Zeitungs-Satz ein guter Satz:
Hermann Gerland, dem große Worte ansonsten so suspekt sind, wie Pep Guardiola rote Meistermützen suspekt sind, Hermann Gerland also sagt, Pep Guardiola sei „ein Genie“.
Variante 1 – Nach der reinen Stillehre hätte der Satz geteilt werden müssen:
Hermann Gerland sind große Worte ansonsten so suspekt wie Pep Guardiola rote Meistermützen. Hermann (oder: Dieser) Gerland also sagt, Pep Guardiola sei „ein Genie“.
Variante 2 – Eleganter wäre diese Teilung in zwei Hauptsätze:
Hermann Gerland also sagt, Pep Guardiola sei „ein Genie“. Ansonsten sind Hermann Gerland große Worte so suspekt wie Pep Guardiola rote Meistermützen.
Trotzdem ist der Satz, wie er in der SZ-Reportage von Christoph Kneer steht, ein guter Satz. Dafür gibt es drei Gründe:
- Wer nur Hauptsätze aneinander reiht, langweilt den Leser – erst recht in einer Reportage, die eben keine Nachricht ist, kein Bericht.
- Eine Trennung der beiden Sätze durch ein Semikolon oder einen Gedankenstrich funktioniert nicht, weil beide Sätze eine starke, eine eigenständige Aussage enthalten. Allenfalls in der zweiten Variante wäre eine Semiokolon-Lösung denkbar.
- Wenn ich aus zwei starken Aussagen, die dasselbe Subjekt haben (Hermann Gerland), einen Satz bilden will: Dann darf der eingeschobene Nebensatz maximal fünf bis sieben kurze Wörter enthalten (Drei-Sekunden-Regel). Umfasst er vierzehn Wörter wie in diesem Fall, dann muss ich das Subjekt noch einmal aufnehmen: „Hermann Gerland also…“
Zum Glück verzichtet Christoph Kneer bei der zweiten Gerland-Nennung auf ein Synonym wie „Der Co-Trainer“; die Wiederholung des Namens erleichtert dem Leser die Einordnung („wer genau ist gemeint?“).
Der Zeitungsleser ist ein schneller Leser im Gegensatz zum Buchleser. Also steht die schnelle Verständlichkeit – also das Verstehen beim ersten Lesen – an erster Stelle. Deshalb ist der Trick der Wiederholung des Subjekts in diesem Fall nicht nur schön, sondern auch notwendig; und er ist sinnvoll, wenn ich den Co-Trainer Gerland besonders herausheben will.
Dagegen ist ein Komma überflüssig (vor: „wie Pep Guardiola“) ebenso wie die „suspekt sind“ am Endes des Nebensatzes:
Hermann Gerland, dem große Worte ansonsten so suspekt sind, wie Pep Guardiola rote Meistermützen suspekt sind, Hermann Gerland also sagt, Pep Guardiola sei „ein Genie“.
Christof Kneers Porträt des Bayern-Trainers ist ein lesenswertes Porträt, ja ein vorbildliches, geeignet für die Volontärs-Ausbildung:
> Der Autor nimmt zum Einstieg eine eher beiläufige, aber aktuelle Episode – wie das Auf- und Absetzen der roten Meistermütze – und beschreibt, wie typisch sie für den Porträtierten ist.
> Er lässt dann weitere Prominente auftauchen – van Gaal und Heynkes, Klopp und Neururer – und bindet so schon das Interesse des Lesers.
> Er vergleicht Guardiola mit anderen, hier den Vor-Vorgänger Louis van Gaal, und beschreibt die Unterschiede; er nimmt übrigens nicht den direkten Vorgänger Heynkes, weil der kaum Ecken hatte und für einen Vergleich nicht taugt.
> Er erzählt Episoden, die er selber erlebt hat oder aus zuverlässiger Quelle gehört hat (und die, wenn er sie erzählt, keine Gegendarstellung provozieren). Diese Episoden, wie die erste Begegnung mit Hoeneß, machen klar, wie Guardiola als Mensch und Trainer wirklich ist.
> Er erzählt auch von den dunklen Seiten des Menschen, aber beiläufig: „Natürlich kennen sie in München auch die anderen Geschichten…“. In sieben, nur sieben Zeilen geht es um Doping, Katar-Lobbyist, Bespitzeln. Daraus hätte andere eine ganze Reportage gebastelt.
> Er nutzt noch einen Vergleich: Trainer in Spanien und Deutschland (Klopp und Neururer), Barcelona und München. Vergleiche sind besser als jede Beschreibung.
> Er beginnt die Reportage mit einem aktuellen Ereignis – dem Meisterspiel in Berlin – und endet mit der Vorschau auf das letzte Spiel. Eine tolle Szene mit vielen Anspielungen, die nur versteht, wer die Reportage gelesen hat, ein gelungener letzter Satz:
Am letzten Spieltag, wenn die Meisterschale überreicht wird, werden die Spieler ihren Mister mit Bier überschütten, und Kathleen Krüger, die Frau fürs Drumherum, muss ihm einen neuen Anzug bringen.
Quelle: Süddeutsche 29. März 2014, Seite 3 „Kunstrasen“
Schirrmachers Philippika gegen Kleber und der Unsinn des Echtzeit-Journalismus
Ist Claus Kleber, der ZDF-Moderator, ein Strafrichter? Ein Inquisitor? Vaterlands-Rhetoriker? Journalistischer Übermensch? Kurzum: einfach nur peinlich? Einer, für den sich andere Journalisten schämen müssen?
Worum geht es? Claus Kleber führte im Heute-Journal ein Interview mit dem Siemens-Vorstandschef Kaeser, der während der Krim-Krise zu Putin nach Moskau gefahren ist. Nun misslingt den ZDF-Moderatoren manch Interview: Ist der Ehrgeiz übermächtig, durch freche Fragen in den journalistischen Olymp einzufahren? Oder wollen sie allen Kritikern, inklusive des Verfassungsgerichts, beweisen, dass sie frei und objektiv und ohne Ansehen der Person berichten und recherchieren?
Marietta Slomka versuchte vor einigen Wochen Sigmar Gabriel aufs Glatteis zu führen, sagen wir zurückhaltend: eher tapsig als investigativ (darüber gab’s in diesem Blog einen Beitrag). Gabriel wusste sich zu wehren.
Der Siemens-Chef wusste nicht, wie er sich wehren sollte. So geriet ein harmloses Interview zu einem misslungenen Interview, das man Volontären zu Übungszwecken lieber nicht zeigen sollte – es sei denn in pädagogischer Absicht: So nicht! Zu Übungszwecken geeignet ist die nachrichtliche Zusammenfassung des Interviews im ZDF-Online-Auftritt – als wäre nichts geschehen.
FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat sich offenbar derart über das Interview geärgert, dass er eine Philippika, eben: Inquisitor usw., gegen den ZDF-Mann hielt. Darf man sie maßlos nennen? Eine „Sternstunde der Selbstinszenierung des Journalismus“?
Schirrmachers „Strafgericht“ reiht sich ein in eine endlose Folge von Journalisten-Demütigungen, die wir oft auf den Medien-Seiten ertragen müssen und die das staunende Publikum zur Überzeugung bringen: Journalisten, das ist ein einziger Klub von Fälschern, Manipulatoren und Idioten (Medienjournalisten ausgenommen); die guten kommen meist nur in Nachrufen vor.
Wenn ein nachdenklicher Journalist, einer der besten der Zunft wie Frank Schirrmacher, die Keule schwingt, lohnt ein genauer Blick auf Motive und Argumente. Der Vorspann des FAZ-Artikels verrät das Motiv: Am Beispiel der Krim-Krise zeigt Schirrmacher die Gefahren des Echtzeit-Journalismus auf.
Offenbar beim Schreiben des Essays schaut Schirrmacher Kleber zu und ärgert sich zuerst über seine Fragen: Er, Schirrmacher, hätte andere gestellt, in der Tat bessere. Dann ärgert er sich über den Mann, der ein Journalist ist wie er: Da fährt offenbar der Schrecken in seine Glieder und leider auch in den Kopf. Und schließlich schlägt er eine Brücke zu seinem Thema, das ihn gerade umtreibt: Glanz und Elend des Echtzeit-Journalismus.
Fünf lange Absätze, mehr als ein Drittel des gesamten Essays, drischt Schirrmacher auf den Kleber ein – um dann festzustellen: „Es nutzt gar nichts, Klebers High Noon inhaltlich zu debattieren“ – noch einmal: Nach fast siebzig Zeilen Debatte um Inhalt und Person. „Der Nachrichtenwert ist gleich null“, schreibt Schirrmacher. In der Tat.
Der Sprung von der Kleber-Kritik zum Echtzeit-Journalismus ist hart, geradezu abenteuerlich. Als der EDV-Fachbegriff „Echtzeit“ bei Journalisten noch „Direkt“ oder später „Live“ hieß, interviewten Moderatoren schon mächtige oder einfach prominente Leute und sendeten es sofort. Das erleben wir seit, sagen wir: einem halben Jahrhundert. Peinlich war da auch manches, vor allem in den Interviews mit Fußballern und Trainern – die sich auch nicht zu wehren wussten, aber treue Fans hatten, die jeden Unsinn schätzten und offenbar immer noch schätzen.
Das hat sich nicht „formal“, wie Schirrmacher es nennt, geändert, sondern atmosphärisch: Früher war das Fernsehen seriöser, liefen Gespräche ab wie in Höfers „Internationalem Frühschoppen“ am Sonntagmittag. Das änderte sich mit dem Privatfernsehen, das amerikanische Formate übernahm und Promis auf heiße Stühle setzte (dagegen ist heute Kleber geradezu erfrischend harmlos); das Internet samt Twitter und anderen Echtzeit-Hektikern spielte keine Rolle.
Zudem geriet der Journalismus in eine Identitäts-Krise. Viele wollten nur noch kritisch, super-kritisch und investigativ sein: Wallraff wurde zum Supermann stilisiert und zum Vorbild für Generationen von Volontären. Die meisten konnten es nicht, hatten weder die Fähigkeiten für eine tiefe Recherche noch die Geduld wie die Watergate-Helden; sie wählten und wählen als Ersatz das Überfall-Interview mit vielen geschlossenen Fragen: Sagen Sie einfach Ja oder Nein! Interviews waren oft, zu oft mehr Demagogie als Aufklärung, mehr Mission als Journalismus.
Die „permanente Echtzeit-Erzählung, in der das Herz gleichsam unablässig im Kriegs- und Erregungsmodus tickt“ – die Schirrmacher entdeckt -, ist nicht neu; sie ist eine Entdeckung der Achtundsechziger-Generation. Was neu ist: Erstens die Geschwindigkeit, das Rasen des Herzens; zweitens die Fülle, denn irgendwo auf der Welt erregt sich immer etwas – und wir erfahren es sofort.
Schirrmacher zitiert Karl Kraus, und der schrieb’s vor knapp einem Jahrhundert: Massenmedien lancieren alles gleich, Operette oder Krieg; das ist ihr Kennzeichen. Nur haben wir heute mehr Masse als Medien.
Was Schirrmacher umtreibt, treibt viele nachdenkliche Journalisten um: Was setzen wir der Hektik der Nachrichten entgegen, die unrecherchiert um die Welt jagen? Ich hätte gern ein Plädoyer für nachdenklichen Journalismus gelesen, für nachdenkliche Journalisten, die sich Zeit lassen. Ich hätte gern ein Plädoyer für die Zeitung gelesen – und gerne erfahren, wie sich Schirrmacher einen Journalismus vorstellt, der nachdenklich ist und gleichzeitig Massen erreicht, auf jeden Fall mehr als die Hälfte der Wahlbevölkerung.
Über die „neue automatisierte Medienökonomie“ zu jammern, so es sie überhaupt gibt, hilft so wenig, wie die Klebers dieser Welt zu verachten. Übrigens kritisiert dieselbe FAZ die ARD und das ZDF, wenn sie statt Direkt-Übertragungen vom Maidan oder anderen Schauplätzen lieber im vorherbestimmten Programm bleibt und die Redakteure nachdenken lässt bis zum nächsten Brennpunkt.
Im letzten Satz fordert Schirrmacher „Entschleunigung“ und im vorletzten: Rationalität. Nur bitte: Wie?
Quelle: FAZ 28.3.2014 „Dr. Seltsam ist heute online“ (Feuilleton)
Flugzeugabsturz: Auch dpa fiel auf Falschmeldung rein
Zu diesem Beitrag gibt es einen neuen Blog mit zusätzlichen, zum Teil korrigierenden Informationen: „Wie die Eilmeldung bei dpa in den Dienst kam – Eine Fallstudie“.
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16.12 Uhr: Flugzeug bei Gran Canaria ins Meer gestürzt.
16.35 Uhr: Flughafenbehörde: Angeblicher Absturz bei Gran Canaria falscher Alarm
Zwei Meldungen der dpa am 27. März 2014: In nicht einmal zwanzig Minuten taucht ein Flugzeug wieder auf und fliegt weiter. In dieser Zeit huschten Tausende von Tweets über die Bildschirme: aufgeregt und falsch. „Da sieht man mal, wie Redaktionen voneinander abschreiben“, twitterte einer. Ein Spanier folgte: „Viva la republica bananera!!“ Auch wenn man der Fremdsprachen nicht sicher ist, ahnt man, was der Spruch bedeuten soll.
Die 20-Minuten-Aufregung zeigt die Kehrseite der schnellen Welt: Aktualität ist gut, aber Wahrheit ist besser. Im Handbuch des Journalismus zitieren wir im Kapitel 19 „Nachrichtenagenturen“ die oberste Regel:
Be first, but first be right.
Ausgelöst hat die Falschmeldung offenbar ein Foto, das einen Schleppkahn zeigt, der wie ein Flugzeug aussieht, das gerade ins Meer stürzt.
Verfassungsgericht geht nicht weit genug: Alle Politiker müssen raus aus den ZDF- und ARD-Gremien
Der Staat darf sich die Medien nicht zur Beute machen. Er darf weder in die Redaktionen des MDR hineinregieren noch in die Redaktion einer Zeitung. So bestimmt es unsere Verfassung. In Artikel 5 reichen fünf Wörter aus, um die Pressefreiheit zu garantieren: „Eine Zensur findet nicht statt.“
„Zensur“ bedeutet in unserer Verfassung: Der Staat darf vorab weder kontrollieren noch bestimmen, was der MDR senden will und die TA drucken. Diese Freiheit gab es – beispielsweise – nicht für Redaktionen in der DDR. Das Zentralkomitee der Partei rief jeden Tag in den großen Redaktionen an und bestimmte, was berichtet wird, wie berichtet wird und welche Sätze in den Kommentaren zu stehen hatten.
Ansagen gab es auch für die Lokalredaktionen. „Meine Meinung kommt um zwei Uhr aus Berlin!“, witzelten die Redakteure, die bisweilen kuriose Anweisungen zu befolgen hatten wie „Keine Rezepte mit Haselnuss vor Weihnachten veröffentlichen!“ Hintergrund war ein Versorgungs-Engpass.
Bei einer Zeitungsredaktion rufen gerne auch Minister und andere Politiker an, manchmal erregt, manchmal fordernd; andere rufen nie an, verweigern jede Auskunft und zeigen so ihre Missbilligung einer freien Presse, die sie gerne ein bisschen unfreier hätten. Poltern wie schweigen – alles bleibt wirkungslos.
Das ist bei Rundfunk und Fernsehen anders: Politiker üben einen starken Einfluss aus. Wenn der Regierungssprecher zu einer Reise mit der Ministerpräsidentin einlädt und eine Absage bekommt, dann rutscht ihm schon mal ein Satz raus wie: „Das ist nicht schlimm. Wir nehmen ja den MDR mit.“
Nun arbeiten in TV- wie in Zeitungsredaktionen selbstbewusste Journalisten, die auf Unabhängigkeit großen Wert legen. Aber sie haben es bei ARD und ZDF schwerer: Dort sitzen Politiker in Gremien, die sie und ihre Arbeit kontrollieren.
Der Anruf eines Ministers oder der wöchentliche Telefon-Termin mit der Staatskanzlei hinterlässt schon tiefe Spuren: Bei politischen Berichten sitzt schnell die Unsicherheit im Nacken, manchmal schon die Angst.
Das Verfassungsgericht hat die Nöte der Redakteure und die Gefahr für die Demokratie erkannt. Es begrenzt den Einfluss der Politiker. Ob das reicht?
Einem Verfassungsrichter geht die Entscheidung nicht weit genug: Er will die Politiker komplett verbannen. Er hat Recht – auch mit der Befürchtung: Das Versprechen eines staatsfernen Fernsehen bleibt weiter unerfüllt.
(erweiterte Fassung eines Leitartikels der Thüringer Allgemeine, 27. März 2014)
FACEBOOK von Thomas Platt (27.43.):
Dass es in einem freien Land Staatsfernsehen gibt – noch dazu in schockierendem Ausmass -, das ist der Skandal.
Die SZ fragt: Darf ein Chefredakteur Kapuzenpullis tragen? Und dazu noch selbstbewusst auftreten?
Die Süddeutsche streitet offenbar darüber, ob der Chef der Online-Redaktion in die Chefredaktion aufsteigen darf. Alina Fichter listet in der Zeit sechs Schwächen auf, die gegen Online-Chef Stefan Plöchinger als Chefredakteur sprechen:
1. Fehlendes schreiberisches Profil;
2. fehlende begnadete Schreibe;
3. kein Intellektueller;
4. zu wenig Demut;
5 extrem selbstbewusstes Auftreten;
6. Kapuzenpulli-Träger.
Für ihn spricht laut Zeit nur: Er ist ein sehr guter Redaktions-Manager.
Muss jetzt auch Heribert Prantl in der SZ-Chefredaktion um seine Position bangen? Er trägt zwar Anzüge, aber ist nicht bekannt als demütiger und zurückhaltender Journalist.
Was in dem Zeit-Artikel auffällt:
> Plöchinger sehen wir auf dem Foto nicht mit Kapuzenpulli, sondern mit weißem Hemd und dunklem Jackett: Er kann also auch seriös.
> Für die Demütigung Plöchingers, also die Sechser-Liste, gibt es keine Zeugen: Alle bleiben anonym. Warum ist der Medien-Journalismus so oft eine recherchefreie Zone? Gerüchte werden feil geboten wie im Ein-Euro-Laden.
> In der SZ-Chefredaktion, so die Zeit, werden Kommentare umgeschrieben. Muss man sich die Chefredaktion als Fälscher-Werkstatt vorstellen: Aus einem schwarzen Kommentar wird ein roter? Aus einem Ja ein Nein? Aus einer Vermutung eine Tatsache? Oder ist schlicht „Redigieren“ gemeint?
> Ein wohlfeiler Rat für alternde Chefredakteure ist auch enthalten: Wer als Freund des Internets in Erscheinung treten will, der zeige „seinen iPad“ in der Konferenz. Kurt Kister soll ihn schon zeigen. Aber der Mann ist wirklich ein begnadeter, demütiger Schreiber ohne übertriebenes Selbstbewusstsein. Dafür stehe ich mit meinem Namen ein.
Quelle: Die Zeit 20. März 2014
FACEBOOK-Kommentar von Harald Klipp (21.3.2014)
Wir wissen doch alle, dass es auf die inneren Werte ankommt. Das wesentliche Kriterium sollte sein, dass er seine Mitarbeiter akzeptiert, mitnimmt und führt und dabei auch der Zeitung eine Perspektive gibt. Selbstbewusstsein ist gut, wenn er es auch für die gesamte Redaktion gegenüber der wirtschaftlichen Unternehmensführung ausstrahlt. Das wären meine frommen Wünsche…
Die Astronautenperspektive ist die beste für einen Journalisten
Wichtig war mir, nicht zu werten. Ich versuche beim Schreiben, die Astronautenperspektive einzunehmen: So weit wie möglich weg, erst dann sieht man, dass die Erde eine Kugel ist. Danach nähere ich mich wieder an, doch weiterhin mit dieser Erfahrung des Abstands. Dann kann man differenzieren.
Frank Schätzing, dessen neues Buch „Breaking News“ zum Palästina-Konflikt eine Startauflage von einer halben Millionen hat (Quelle: FAZ, 1.3.2014).
Diese Astronautenperspektive ist auch Journalisten zu empfehlen. In den ersten Auflagen des Handbuch des Journalismus zählten wir zu einer der vier Spielarten des bedenklichen Journalismus den „missionarischen Journalismus“, also Journalisten, die ihren Blick auf die Welt als den einzig gültigen halten: Die Erde ist eine Scheibe. Wir zitierten Johannes Gross, einst Capital-Chefredakteur und Gruner+Jahr-Vorstand:
Der Journalist hat nicht Überzeugungen feilzuhalten oder für Glaubensbekenntnisse zu wüten, sondern Nachrichten zu formulieren und Analysen auszuarbeiten. Die Ethik des Journalismus ist eine Service-Moral.
Damit wir nicht missverstanden werden: Dass ein Journalist seine Meinung formuliert und deutlich als Meinung markiert, gehört selbstverständlich dazu.
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