Müssen Journalisten vor den Live-Bildern der sozialen Medien kapitulieren?
Die Funktion von Journalisten in Abgrenzung zu den sozialen Medien: Zu verifizieren, zu recherchieren, einzuordnen und auszuwählen.
Kai Gniffke, Chef von ARD-aktuell, im Interview mit Ursula Scheer (FAZ) gegen den Vorwurf, dass Live-Videos im Netz – bei dem Attentat in Nizza beispielsweise – einfach schneller seien und ARD und ZDF den Rang ablaufen. Müssen die Sender und Journalisten überhaupt ihre ethischen Standards brechen? Ein Problem, antwortet Gniffke:
Wir zeigen keine sterbenden Menschen, wir zeigen keine rohe Gewalt. Aber was mache ich bei einem Live-Signal, bei dem ich nicht wissen kann, was passiert? … Wir leisten der Gesellschaft keinen Dienst, wenn wir einfach draufhalten und in einen Wettbewerb um das spektakulärste Bild eintreten.
Kai Gniffke bleibt dennoch optimistisch:
Menschen suchen weiterhin Einordnung durch Institutionen, die sie kennen… Ich denke, dass das normale lineare Fernsehen stärker bleiben wird, als ich selbst das vor zehn Jahren geglaubt habe.
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Quelle: FAZ 19. Juli 2016 „Wir dürfen nicht einfach draufhalten“
Erfundene und gefälschte Interviews: Kummer ohne Ende
Wer fragt, was Journalisten unter Wahrheit verstehen, bekommt schillernde, bisweilen pseudo-philosophische Antworten: Es kann die Wahrheit gar nicht geben; alles ist konstruiert oder manipuliert. Doch in einem sind sich Journalisten und Öffentlichkeit einig: Wer bewusst fälscht, betrügt Leser wie Redaktion.
Der Schweizer Journalist Tom Kummer, Jahrgang 1963, schrieb vor zwei Jahrzehnten als Hollywood-Reporter für das Magazin der Süddeutschen Zeitung und andere einige Interviews, etwa mit Brad Pitt, die er frei erfunden hatte oder aus anderen Veröffentlichungen abgeschrieben. Roger Köppel, einer der betrogenen Chefredakteure, sagte 2011 in einem Interview:
„Kummer erzählte gerne, dass er seine Stücke mit Wissen der Chefredaktoren als Kunstform verkaufte – das ist eine dreiste Lüge. Schliesslich verrechnete er dafür Spesen – die waren sehr real und kein artistisches Konzept.“
In dem Interview geht Köppel auch auf eine Variante des erfundenen Interviews ein:
„Vielleicht haben sich die Interviews nicht immer genau so zugetragen, aber sie wurden so autorisiert vom Interviewten. Das ist ja heute, beispielsweise beim Spiegel, auch eine legitime Praxis.“
Auch der Boulevard setzt bisweilen das erfundene, aber autorisierte Interview ein. Die Redakteure lassen sich einige Zitate einfallen, die als Schlagzeile auf der Titelseite taugen, bieten sie beispielsweise einem Politiker an und drucken sie, wenn er sie freigibt. So mancher Hinterbänkler, der den Parteivorsitzenden kritisieren soll, stimmt gerne der Erfindung zu.
Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen fragt im Tagesspiegel nach der Enthüllung von neuen Kummer-Täuschungen: „Der Fake ist die neue Realität?“, und er forscht, warum nach dem Skandal vor 16 Jahren Tom Kummer immer wieder gedruckt wird:
Der Autor ist zur Marke geworden. Sein eigentliches Kapital aber ist der auf Entlarvung angelegte Betrug, sein Geschäftsmodell die Enttäuschung derjenigen, die an ihn glauben wollen, weil damit ihre Profession selbst in das Glamourlicht einer freien, künstlerischen, irgendwie dramatisch wirkenden Existenz getaucht wird. Und: Ist nicht alles irgendwie verhandelbar, auch diese öde, blöde Welt der Fakten?…
Tom Kummer will Medientheoretiker sein, Konzeptkünstler, praktizierender Konstruktivist. Und Wahrheit ist Lüge. Und Lüge Wahrheit. Und Betrug Philosophie. Er braucht jetzt ganz bald mal wieder eine zweite, dritte, vierte, fünfte Chance.
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Quelle: Tagesspiegel 13. Juli 2016
Journalisten, Schreibblockaden, Alkohol und die Werkstatt Gottes (Zitat der Woche)
Franz Josef Wagner ist für seine wilden Assoziationen bekannt, die er täglich in „Post von Wagner“ auf der zweiten Seite der Bildzeitung ausbreitet. Wer käme schon vom Fußballer Thomas Müller, dem einfach kein Tor bei der EM gelingen will, über Schreibblockade von Schriftstellern und über Goethe zu Gott? Das kapitulierten selbst Streiflicht-Schreiber der SZ, die neben Wagner mit genialen Assoziationen Lesers Herz erwärmen.
Lieber Thomas Müller… Schreibblockade nennt man bei Schriftstellern das Phänomen, unter dem sie gerade leiden. Torblockade. Schriftsteller suchen meist Hilfe bei Alkohol.
Dazu kann ich Ihnen nicht raten. Aber eine Wahrheit hat der writer’s block. Man ist nicht ununterbrochen Künstler. Goethe spricht von der „geheimnisvollen Werkstatt Gottes“…
Hatte Gott eine Schreibblockade? Was weiß Goethe von Gott? Was weiß Wagner von Goethe und Gott?
Johann Peter Eckermann hat die Gespräche mit Goethe protokolliert. Am 2. August 1830 sprach Goethe über einen Streit in der französischen Akademie, er freute sich, dass „auch in Frankreich bei der Naturforschung der Geist herrschen und über die Materie Herr sein“ werde: „Man wird Blicke in große Schöpfungsmaximen tun, in die geheimnisvolle Werkstatt Gottes!“
Die Welt, die Natur, die Schöpfung – das ist die „geheimnisvolle Werkstatt Gottes“.
Und was rät Wagner gegen Blockaden? „Schriftsteller saufen. Sie (Müller) trainieren.“ Ob es schriftstellernde Journalisten auch mit Training und solider Recherche versuchen sollten?
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Quelle: Bild 6. Juli 2016 „Post von Wagner“
Wie EM-Reporter die deutsche Sprache verhunzen: Ein Fall für die „medizinische Abteilung“ (Friedhof der Wörter)
Seit drei Wochen schleichen Fußballer vom Rasen – mit „muskulären Problemen“. So näseln TV-Moderatoren, so äffen es Zeitungsreporter nach. Sogar Nachrichtenredakteure beugen sich: Mario Gomez, so schreibt die FAZ heute, war „mit muskulären Problemen vom Platz gehumpelt“.
Schleicht Euch!, möchte man den Journalisten zurufen, die solch einen Unsinn reden und schreiben. Das deutsche Wort für Adjektiv heißt „Eigenschaftswort“: Also ist „muskulär“ die Eigenschaft des Problems? Nein, das Problem hat keine Muskeln, aber die Muskeln haben ein Problem.
Problematische Muskeln wäre richtig, aber schräg. Adjektive sind die am meisten überschätzte Wortart: Auf sie in neun von zehn Fällen zu verzichten, ehrt den Journalisten. Als Alternative bietet sich fast immer das zusammengesetzte Substantiv an – ein Vorzug der deutschen Sprache im Vergleich zu den meisten anderen.
Aber in der Begeisterung, alles, auch Unsinn, aus der englischen Sprache zu nehmen, zertrümmern wir unsere Substantive: „Muscular problems“ sagt der englische Reporter, wenn einer der Stars dahinhumpelt. „Muskelprobleme“ ist das deutsche Wort, ohne Adjektiv, dafür sofort verständlich.
Im Kuppeln von Substantiven ist die deutsche Sprache der englischen überlegen. „In Fahrtrichtung rechts“, sagt der Schaffner im Zug, damit wir die richtige Tür wählen. „In the direction of travel“, wiederholt er: Drei Wörter statt einem.
Und wer kümmert sich um die Muskelprobleme? Der Arzt? Nein, die „medizinische Abteilung“, weiß der TV-Reporter. Schleicht Euch!
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Quelle: FAZ 4. Juli 2016 („Deutschland im Halbfinale ohne Khedira“)
Was heißt „wahrhaftig“? RBB-Intendantin Patricia Schlesinger antwortet
Wahrhaftig sein heißt: alles wahrnehmen, auch wenn es nicht ins eigene Weltbild passt. Es heißt, sich zu hinterfragen, seine eigene Voreingenommenheit zu überwinden. Wahrhaftig heißt, alle Seiten zu berücksichtigen, auch jene, die mir nicht passen.
Patricia Schlesinger, vor einigen Monaten zur RBB-Intendantin gewählt, in einem Interview mit Jens Schneider von der Süddeutschen Zeitung. Darin geht sie auch auf die Lügenpresse ein und auf die Menschen, die den Medien nicht mehr trauen:
Wir müssen die Menschen sehen, die nicht denken wie wir – und uns eingestehen, wenn wir das mal versäumt haben. Wenn wir das tun, wird der Vorwurf Lügenpresse an uns abgleiten.
Quelle: SZ 2. Juli 2016 „Niveau ohne Geldhaufen“
Wer ist der Mann auf dem Brexit-Foto? Ein Handelsblatt-Chef! Regeln für Fotografen und Redakteure
Journalisten gehen bisweilen recht seltsame Recherche-Wege: Matthias Brüggmann, Handelsblatt-Auslandschef, mischte sich in London unter jubelnde Brexit-Anhänger auf der Ukip-Wahlparty. Sein Porträtbild mit Nationalfarben-Papphut auf dem Kopf sendeten Reuters, AP und andere Agenturen rund um die Welt.
Brüggmann ließ offenbar Fotografen wie Reporter im Unklaren, wer er wirklich sei. Brüggmann auf Handelsblatt online:
Ich habe es sogar in den Aufmacher der Onlineausgabe des Londoner „Evening Standard“ geschafft – eine verrückte Geschichte. Und sie lässt tief blicken in Britanniens Medienlandschaft…
Fast alle Boulevard-Blätter und Gratis-Tabloids wollten ein Interview mit mir als vermeintlichem Brexit-Fan. Ungefragt nutzen sie nun die Bilder für ihre Geschichten…
Die britischen Medien fotografieren und filmen einfach, und veröffentlichen die Bilder mit ihren Geschichten dazu – ohne je gefragt zu haben, wer derjenige auf dem Bild ist. So bereut man dann angeblich, für Brexit gestimmt zu haben, ohne jemals auch nur in England stimmberechtigt gewesen zu sein.“
Drei Fragen zur journalistischen Moral schließen sich an:
- Darf sich ein Journalist in eine Wahlparty anonym einschleichen, um an Informationen zu kommen?
- Darf er anonym bleiben, wenn er selbst Objekt von Recherchen anderer Journalisten wird – oder muss er sie aufklären?
- Soll er sich über Fotografen und Reporter nachher lustig machen?
Die Antworten:
Zu 1) Ja
Zu 2) Nein, zumal der Ertrag der Recherche überaus dürftig war.
Zu 3) Das ist überheblich und hoffentlich nicht typisch deutsch.
Und wie gehen Redaktionen mit einem solchen Bild um? dpa war die einzige Agentur, die den unbekannten Mann auf dem Bild nicht als Brexit-Befürworter auswies, sondern geradezu britisch unterkühlt schrieb:
A man reacts to a vote count results screen at an ‚Leave.EU Referendum Party‘ in London, Britain, 23 June 2016. Britons await the results on whether they remain in, or leave the European Union (EU) after a referendum on 23 June.
Das Foto haben mittlerweile alle Agenturen gelöscht.
Dies sind die Regeln für Fotografen und Redakteure, denen auch dpa-Nachrichtenchef Froben Homburger folgt:
- Wer gezielt, quasi porträthaft, Personen oder kleinere Personengruppen fotografiert, gibt sich als Fotograf zu erkennen, der für Medien arbeitet.
- Er fragt nach den Namen und dem Grund, warum sie an diesem Ort sind.
- Es gibt Ausnahmen, etwa Großveranstaltungen wie die Fußball-Europameisterschaft: Dort kann man Fans, bisweilen bunt gekleidet, nicht jedes Mal fragen, ob sie tatsächlich Fußballfans des Landes sind, dessen Trikot sie tragen.
- In Zweifelsfällen steht in der Bildzeile präzise nur das, was die Redaktion ganz sicher weiß.
Zehn Thesen zur Zukunft des Journalismus (Teil 20 mit Bilanz der Kress-Serie)
„Wird mit dem Internet alles besser? Also multimedial, crossmedial, transmedial?“ Darum geht es in der letzten, der zwanzigsten Folge der Kress-Serie „Journalismus der Zukunft“. So soll der Redakteur der Zukunft arbeiten: Er soll an Facebook, WhatsApp und Snapchat denken, Communitys betreuen, Videos produzieren und Podcasts, Grafiken, Snowfalls undsoweiter. Doch – „die Technologiedebatte überlagert völlig, worum es wirklich geht“, warf Nannen-Schulleiter Andreas Wolfers ein bei einer Tagung in der politischen Akademie Tutzing. „Nur weil wir digitale Tools nutzen, ist es keine andere Art von Journalismus.“
Wolfers führt eine der großen deutschen Journalistenschule, er preist das Handwerk, die klassischen journalistischen Tugenden:
Präzise Recherche, genaue Quellenprüfung, sicherer Umgang mit Texten, Themengespür, Relevanz aufspüren: Was wähle ich aus? Was mache ich sie groß? Das ist völlig unabhängig, ob Print, Online, Bewegtbild usw. Es lässt sich alles zurückführen auf die klassischen journalistischen Tugenden.
Allerdings erweitert das Digitale die Möglichkeiten: Journalisten können tiefer und präziser recherchieren, und sie haben mehr Kanäle zur Verfügung. Bessere Recherche und größere Verbreitung: Dem Journalismus ging es noch nie so gut wie heute.
Wenn davon auch die Demokratie profitieren könnte! Sie braucht informierte Bürger, und sie braucht Bürger, die einen annähernd gleichen Informations-Stand haben. Nur wer informiert ist, kann auch mitreden und vernünftige Entscheidungen fällen – und nur wer weiß, dass auch die Bürger, die mit ihm streiten, gut informiert sind.
Die Serie schließt mit zehn Thesen zur Zukunft des Journalismus:
- Journalismus ist Freiheit: Er sichert die Qualität der Demokratie und das Selbstgespräch der Gesellschaft.
- Journalismus ist unabhängig.
- Journalismus richtet sich nach den bewährten Regeln (und braucht keine neuen für die neuen Medien): Präzise Recherche, Kontrolle der Mächtigen und über allem die Achtung vor der Wahrheit.
- Journalismus braucht Journalisten, die die Regeln kennen und achten.
- Journalismus gedeiht nur mit exzellent ausgebildeten Journalisten.
- Journalismus ist lokal und erklärt die Welt aus der Perspektive der Leser.
- Journalismus wird immer wichtiger als Gegenspieler der Unübersichtlichkeit im Netz.
- Journalismus muss experimentieren und gerade im Netz die Chancen der Technik nutzen.
- Journalismus ist angewiesen auf eine Existenz-Garantie.
- Journalismus hat eine große Zukunft vor sich.
Mehr:
Risse im Rechtsstaat und Schwäche in der Demokratie
Was tun Zeitungen und Magazine, wenn unsere Demokratie schwächelt? Was setzen Lokaljournalisten, Reporter und Korrespondenten dagegen, wenn der Staat in einer Sinnkrise steckt?
Die Diagnose stellt mit Peter M. Huber ein Verfassungsrichter, geschrieben in einem Essay zum 25-Jahr-Jubiläum der Einheit vor einem Jahr, noch einmal zitiert heute in einem FAZ-Huber-Porträt:
Ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung steckt der durch das Grundgesetz verfasste Nationalstaat in einer Sinnkrise, der Rechtsstaat zeigt Erosionstendenzen, die Demokratie schwächelt, das Gewaltenteilungsgefüge hat sich weiter zugunsten der Exekutive verschoben, und die Entwicklung des Bundesstaats lässt eine Orientierung vermissen.
Die Therapie in den Medien ist eine Debatte wert, auch jenseits von AfD und Pegida. Die Presse und ihre Freiheit zählen zu den Grundrechten, also zu den Pfeilern, auf denen Staat und Demokratie stehen: Wer durch ein Grundrecht privilegiert ist, hat nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Zu den Pflichten eines Journalisten zählt, die Demokratie zu stärken.
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Quelle: FAZ, 1.10.2015
Übt die Uefa „Zensur“ bei der EM? Vom falschen Gebrauch eines Wortes (Friedhof der Wörter)
Zensur! Wenn die Redaktion einen Leserbrief nicht druckt, regt sich der Leser auf: Zensur! Als Facebook die Seite einer AfD-Politikerin sperrt wird, schimpft einer: „Offene Zensur missliebiger Menschen“. Und nun die Uefa?
Unterdrückt sie bei der Europameisterschaft TV-Bilder von Krawallen im Stadion, so dass deutsche Zuschauer die Szenen der Gewalt nicht sehen können? Der Vorwurf ist zu hören: Zensur!
Nein, sagt WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn, der auch EM-Teamchef der ARD ist. „Es geht darum, uns künftig Bilder, die ohnehin vorliegen, schnell zur Verfügung zu stellen, damit wir entscheiden können, ob wir sie senden oder nicht“, erklärt Schönenborn der Süddeutschen Zeitung. Er kritisiert den inflationären Gebrauch des Worts „Zensur“: „Den sollten Journalisten eigentlich für die Fälle reservieren, in denen er tatsächlich zutrifft.“
Das hindert TV-Moderatoren nicht, weiter von Zensur zu sprechen. Als Zuschauer beim Spiel „Tschechien gegen Kroatien“ Leuchtraketen aufs Spielfeld werfen, spricht der Reporter – allerdings vom ZDF – von „Zensur“. Als die Bilder allerdings doch zu sehen sind, ist er stolz, dass deutsche Proteste offenbar Wirkung bei der Uefa zeigen.
Schönenborn hat Recht, wenn er vor allem Journalisten rügt, die fahrlässig von Zensur sprechen. Der Begriff ist in Deutschland eindeutig definiert: Es ist der Eingriff des Staates in die Freiheit der Presse, in Artikel 5 des Grundgesetzes ultimativ untersagt:
Eine Zensur findet nicht statt
meint den Staat, der über den Inhalt von Medien höchstens nachträglich urteilen darf in einem Gerichtsverfahren.
Das Zensur-Verbot bindet nur den Staat. In Artikel 1 des Grundgesetzes lesen wir:
Die Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Die Pressefreiheit ist eines der Grundrechte. Das Zensur-Verbot gilt also nicht für Privatpersonen, auch nicht für die Uefa und für Facebook; die können auch nicht klagen und sich dabei auf unsere Verfassung berufen.
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Quelle: SZ 17.6.2016
Kurze Sätze! Zwei Meister der Verständlichkeit: Martin Luther und Mark Twain (Journalismus der Zukunft 19)
Keine langen Sätze, keine überflüssige Paranthesen – wie diese hier – und nur wenige Wörter zwischen dem ersten und zweiten Teil eines Verbs: Um die Verständlichkeit geht es im 19.und vorletzten Teil der Kress-Serie „Journalismus der Zukunft“. Zwei Meister der Verständlichkeit stehen im Mittelpunkt: Martin Luther und Mark Twain.
Luthers Rat ist oft zitiert, aber wenig beherzigt und immer noch gültig nach einem halben Jahrtausend:
Man muss die Mutter im Haus, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt fragen und auf das Maul sehen: Wie reden sie?
Also – raus aus der Redaktion! Raus aus dem Elfenbeinturm! Raus aus dem Rotary-Klub und der abendlichen Rotwein-Runde mit Gleichgesinnten! Nur wer seine Leser respektiert, der bekommt die Chance, dass sie mit ihm reden. Nur wer mit den Lesern redet, der weiß, wie sie ihn verstehen und wie „sie es merken, dass man deutsch mit ihnen redet“.
Luther würde heute keine Kirche, sondern eine Zeitung gründen, mit den Mächtigen hart ins Gericht gehen und dem Volk aufs Maul schauen – aber nicht nach dem Munde reden. Luther fühlte sich auch im Netz wohl, hätte einen Blog, in dem er nicht nur von seinen Blähungen erzählte, sondern die Mächtigen beleidigte wie seinerzeit den Herzog Heinrich von Braunschweig:
Unsinniger, wütender Tyrann, der sich voll Teufel gefressen und gesoffen hat und stinkt wie ein Teufelsdreck.
Wer diesen Satz liest, entdeckt im Detail Luthers Rezept: Er wählt kurze Wörter, keines hat mehr als drei Silben; er meidet Synonyme, schreibt zweimal Teufel und denkt nicht daran, den „Teufelsdreck“ in einen Satansdreck zu verwandeln; er schafft eine Balance zwischen Substantiven und Verben: auf drei Substantive kommen drei Verben; er wählt starke Verben, die die Sinne reizen: fressen, saufen, stinken.
Bewege den Leser! Bringe Wörter und Sätze zum Tanzen! Das ist Luther: So wie er schrieb, so wollen die Leser lesen.
Vor 120 Jahren hielt Mark Twain als „der treueste Freund der deutschen Sprache“ vor dem Wiener Presse-Club eine Rede: „Die Schrecken der deutschen Sprache“. Twains Schrecken erschrecken uns ein gutes Jahrhundert später immer noch, sie schreiben das Schwarzbuch der Unverständlichkeit:
- „Die üppige, weitschweifige Konstruktion“ eines Satzes: Zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Verbs verrätseln viele Wörter den Sinn. Als Beispiel dient eine Meldung auf der „FAZ“-Titelseite:
Der Bundestag hat einen für diesen Donnerstag angesetzten Beschluss über die Neuregelung von Arzneimitteltests an Demenzkranken abgesetzt.
Dreizehn Wörter zwischen „hat“ und „abgesetzt“ lassen den Leser im Unklaren, ob der Beschluss umgesetzt wird, konkretisiert, verschoben oder abgesetzt.
- Auch die üppige, weitschweifige Konstruktion zwischen Subjekt und Prädikat erschwert das Verstehen eines Satzes.
- Keine langen Sätze: Mark Twain muss an Wiener Brücken denken, wenn er einen Bandwurm-Satz liest:
Meine häufige Anwesenheit auf den Brücken hat einen ganz unschuldigen Grund. Dort gibt’s den nötigen Raum. Dort kann man einen edlen, langen, deutschen Satz ausdehnen, die Brückengeländer entlang, und seinen ganzen Inhalt mit einem Blick übersehen. Auf das eine Ende des Geländers klebe ich das erste Glied eines trennbaren Zeitwortes und das Schlussglied klebe ich ans andere Ende.“
- „Die ewige Parenthese“ geißelt Twain, die meist überflüssigen Einschübe zwischen zwei Gedankenstrichen:
Vor mehreren Tagen hat der Korrespondent einer hiesigen Zeitung einen Satz zustande gebracht welcher hundertundzwölf Worte enthielt und darin waren sieben Parenthese eingeschachtelt, und es wurde das Subjekt siebenmal gewechselt. Denken Sie nur, meine Herren, im Laufe der Reise eines einzigen Satzes muss das arme, verfolgte, ermüdete Subjekt siebenmal umsteigen.
„Unterdrücken, abschaffen, vernichten!“ empfiehlt der amerikanische Dichter. Sätze mit mehr als dreizehn Subjekten in einen Satz will er verbieten lassen; das Zeitwort will er im Satz so weit nach vorne rücken, bis man es ohne Fernrohr entdecken kann. So spricht Twain mit leichtem Spott:
Mit einem Wort, meine Herren, ich möchte Ihre geliebte Sprache vereinfachen, auf dass, meine Herren, wenn Sie sie zum Gebet brauchen, man sie dort oben versteht. Ich flehe Sie an, von mir sich beraten zu lassen, führen Sie diese erwähnten Reformen aus. Dann werden Sie eine prachtvolle Sprache besitzen und nachher, wenn Sie Etwas sagen wollen, werden Sie wenigstens selber verstehen, was Sie gesagt haben.
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