Wer entdeckt das längste Wort des Jahres? 31 Buchstaben – oder mehr?
„Direktluft-Zuschauer“ ist eine Wort-Entdeckung von Christian Lindner, Chefredakteur der Rhein-Zeitung; er fand sie im Theater auf einem Schild in den Kulissen, gemeint ist wohl ein technischer Hinweis auf Direktluft in den Zuschauerraum.
Beim Theaterbesuch erfindet Lindner gleich ein neues Wort, mit dem wir den Wettbewerb um das längste Wort des Jahres eröffnen:
Bei unserem Wettbewerb geht es, wie im Sport, um die Jahresbestleistung. Den Allzeit-Duden-Rekord hält die „Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung“ mit 36 Buchstaben; im Duden-Korpus steht ein Wort mit 104 Buchstaben, das allerdings nur einmal gesichtet wurde.
Noch ein paar Zahlen: Im Durchschnitt umfasst ein deutsches Wort elf Buchstaben. Das am meisten gebrauchte Substantiv ist – Jahr, gefolgt von Uhr, Prozent, Euro und Million. „Frau“ wird häufiger genannt als „Mann“.
Feuilleton schlägt Politik beim Wettstreit um den längsten Satz des Jahres (Friedhof der Wörter)
Warum schreiben Politiker lange unverständliche Sätze? Tragen Sie eine Meisterschaft aus: Wer schafft den längsten Satz? Schauen wir uns den Wettkampf an: Wer ist Deutscher Satzlängen-Meister 2103?
Im Wahlkampf gaben sich die Politiker, die ihre Wahlprogramme schrieben, viel Mühe, lang und unverständlich zu formulieren – doch reichte es nur für die Bronze-Medaille: 71 Wörter.
Mehr Mühe gaben sich die unbekannten Autoren, die „Geisterschreiber“ des Koalitionsvertrags: Die Silbermedaille für 87 Wörter in einem Satz plus eine Zahl.
Sobald der Aufbau eines europäischen Abwicklungsmechanismus beschlossen ist, kann, nachdem der deutsche Gesetzgeber eine entsprechende Entscheidung getroffen und die EZB die Aufsicht operativ übernommen hat, als Zwischenlösung ein neues Instrument zur direkten Bankenrekapitalisierung auf Basis der bestehenden ESM-Regelungen mit einem maximalen Volumen von 60 Mrd. Euro und insbesondere mit der entsprechenden Konditionalität und als letztes Instrument einer Haftungskaskade in Frage kommen, wobei sichergestellt ist, dass vorher alle anderen vorrangigen Mittel ausgeschöpft worden sind und ein indirektes ESM-Bankenprogramm mit Blick auf die Schuldentragfähigkeit des Staates ausgeschlossen ist.
Nur – was ist ein Politiker gegen einen Journalisten, einen Theaterkritiker? Nichts, wenn es um die Satzlänge geht. Gerhard Stadelmaier brachte es auf 208 Wörter: Das ist der deutsche Rekord 2013, schon einmal gewürdigt in diesem Blog:
Abgesehen davon, dass Jens im Jahr 1998 zu Mozarts „Requiem“ (KV 626) Zwischentexte, Reflexionen schrieb, die den ewigen protestantischen Aufklärer Jens und Auf-Verbesserung-der-Welt-Hoffer als doch etwas leichtfertigen Um- und Gegendeuter und Verharmloser der gewaltigen katholischen Totenmesse zeigt, die das Jüngste Gericht und die Flammen der Verdammnis und die Sühne für alle Sünden und die Gnadenlosigkeit eines Gottes beschwört, bei dem allein die unberechenbare Gnade liegt; abgesehen auch davon, dass Jens im Jahr 2006, als er zur „Reqiem“-Musik seine „Requiem“-Gedanken vortrug, plötzlich das Vermögen, etwas vorzulesen, verließ, er stockte und stotterte und sich so seine Demenz, an der er über die Jahre ohne Sprache und Gedächtnis hinweg verdämmerte, offenbarte; abgesehen auch davon, dass die Stiftskirche, in der einst die Universität Tübingen gegründet wurde und die sozusagen deren erster öffentlicher Raum war, zum Tübinger Öffentlichkeitsspieler- und Nutzer Walter Jens doch wunderbar passt: Es ist ein seltsam Empfinden, wenn jenseits aller Rhetorik und jedes Meinens und Polemisierens und Kritisierens, jedes Forschens und Ergründens und jeder Buchgelehrsamkeit ein Satz in die vollbesetzte Kirche fährt: „Liber scriptus proferetur“ (Und ein Buch wird aufgeschlagen, treu darin ist eingetragen jede Schuld auf Erdentagen), wo sich dann „solvet saeclum in favilla“ (das Weltall sich entzündet) und „quantus tremor est futurus“ (ein Graus wird sein und Zagen).
Im neuen Jahr entdeckt Gerhard Stadelmaier im FAZ-Feuilleton wieder den Reiz und die Kraft der kurzen Sätze, in denen wir kurze Wörter finden voll emotionaler Wucht – wie in der Kritik einer Luc-Bondy-Inszenierung in Paris:
„Die Sterne funkeln im Theaterhimmel. Jetzt beginnt ihr wahrer Traum: die Geschichte, die aus den beiden Schmetterlingen wird. Ein Nachtstück? Eine Eintagsfliegenaffäre? Eine Ehe? Eine Katastrophe? Eine Seligkeit? Alles ist möglich. Nichts ist ausgeschlossen. Aber so, wie es jetzt gerade ist, ist es das pure Glück. Mehr muss auch nicht sein. Ovationen.“
Wir staunen: Ja, kurz ist in der Regel besser! Also – ein Kompliment für den Kritiker. Wäre da nur nicht die „Eintagsfliegenaffäre.
Erweiterte Fassung eines „Friedhof der Wörter“ in Thüringer Allgemeine 27. Januar 2014
Cool: Jugendliche und ihre Sprache – und warum Zeitungen sie meiden sollten (Friedhof der Wörter)
Eine Leserin aus Erfurt liest „mit großem Interesse“ den „Friedhof der Wörter und reagiert auf die Kritik an unverständlichen Wörtern im Koalitionsvertrag:
Sind sich die Herrschaften auch darüber im Klaren, dass sie ein gutes Vorbild für die Menschen hinsichtlich der Pflege der deutschen Sprache abgeben müssen. Die Probleme auf diesem Gebiet müßten m.E. von ganz oben in Angriff genommen werden.
Ein passendes Beispiel dazu fand ich ebenfalls in der Zeitung im Artikel „Medientalente gesucht“, in dem ich sofort über das Wort „Yougendmedienpreis“ gestolpert bin. Zuerst dachte ich an einen vorliegenden Schreibfehler, aber dieses seltsame Wort kam noch zweimal vor.
Also überlegte ich, wie es wohl ausgesprochen werden soll, wobei gleichzeitig Ärger über so viel Blödsinn in mir aufstieg. Es geht doch nur darum, einen Medienpreis für talentierte Jugendliche zu vergeben und warum nennt man ihn nicht einfach „Jugendmedienpreis“.
Das versteht jeder, aber es scheint nicht cool genug zu sein.
In meiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortete ich:
Ich stimme Ihnen zu:
Erstens: Politiker sollten ein Vorbild sein mit einer verständlichen, klaren Sprache; ich schließe uns Journalisten mit ein: Wir sollten schiefe, unverständliche und vernebelnde Sätze von Politikern nicht verbreiten, es sei denn kommentiert und in eine einfache Sprache übersetzt.
Zweitens: Die seltsame Verballhornung unserer Sprache, die Mischung aus englischen und deutschen Wortbrocken, ist entsetzlich.
Ich stimme nicht zu:
Erstens: Jugendliche brauchen eine eigene Sprache. Sie spielen gern mit Wörtern und freuen sich, wenn die Alten sich darüber ärgern. Das war so, und es wird so bleiben – und es ist gut so, denn die eigene Sprache, die Abgrenzung zu den Erwachsenen, gehört zur Entdeckung der Welt.
Ob sich Erwachsene an Jugendliche anbiedern müssen, indem sie deren Sprache imitieren, wage ich zu bezweifeln. Ich bin sicher, dass sich Jugendliche über diese Anbiederung amüsieren.Zweitens: Die Pflege der deutschen Sprache von oben in Angriff zu nehmen, ist ein grässlicher Vorschlag. Es ist in der Tat ein Angriff: Sollen unsere Politiker, die oft die Sprache missbrauchen, unsere Sprache wirklich regeln? Das hieße, den Bock zum Gärtner zu machen.
Wir haben uns bis heute noch nicht von der Rechtschreibreform erholt, die von oben verordnet war. Ein zweites Mal sollten wir uns nicht überrumpeln lassen.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 25. Januar 2013
Wolf Schneider: Zwei (plus eins) einfache Regeln für einen guten Stil (Luther-Disput 4)
Es gibt zwei einfache Regeln für einen guten Stil, sagt Wolf Schneider:
• Erstens: Die Wörter sollten möglichst wenig Silben haben. Die einsilbigen Worte sind das Größte – Blood, sweat, toil and tears –, die zweisilbigen sind das Zweitbeste.
• Zweitens: Keine Schachtelsätze, sondern vor allem Hauptsätze. Eingepferchte Nebensätze sind immer schlecht. Es möge laut vorgelesen gut ins Ohr gehen. Wir schreiben immer für die Ohren.
Felix Leibrock fügt eine dritte Regel hinzu:
Kein Passiv! Aktivformen verwenden! Beim Passiv stiehlt man sich aus der Verantwortung. Statt „Wir wurden heute begrüßt…“, besser: „Herr Müller, Meier, Schulze hat uns begrüßt…“.
Schneider: Ja, Passiv entpersonalisiert – das ist heimtückisch und frech. Die Deutsche Bank hat mir einen unverschämten Brief geschrieben: „Die Geschäftsbedingungen sind geändert worden.“ Sie hat nicht geschrieben: „Wir möchten ändern“ – dann hätte ich ja vielleicht widersprochen.
Und wie schreibt Wolf Schneider? „Meine Werkstatt verlässt kein Text, den ich nicht mindestens dreimal laut gelesen habe.“
Im vierten Teil des Luther-Disputs standen klare Sätze im Vordergrund und Vorbilder, die klare Sätze schrieben. Auf die Frage „Kann man nicht auch in Hauptsätzen Blödsinn reden?“ antwortete Wolf Schneider:
Wo immer mir klare Hauptsätze begegnen, bin ich angetan. Es ist eine Wohltat, eine Aussage in einem klaren harten Satz zu hören. Sich in klaren Sätzen zu äußern, ist keinem Prediger, keinem Bischof versagt.
Das allerdings von Politikern zu fordern, ist in meinen Augen weltfremd; das können Politiker sich nicht leisten, sie machten sich unglücklich. Von Festrednern sollte man fordern, dass sie gar nicht erst antreten, mit all den Allgemeinplätzen.
Von welchen Schreibern können wir noch gutes Deutsch lernen?
Schneider:
Ich kann nur jedem raten, möglichst viel von Bertolt Brecht, Franz Kafka, Georg Büchner und Heinrich Heine zu lesen. Da gibt es viele starke Sätze. Man denke nur an den geschundenen Woyzeck bei Büchner, der da sagt: „Wenn wir in den Himmel kämen, müssten wir donnern helfen“.
Das ist ein gewaltiger Satz, das ist Lutherdeutsch. Auch Brecht hat sich vom Lutherdeutsch inspirieren lassen und andauernd die Bibel gelesen. Seine Aussage „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ ist ein strittiger Spruch, aber er hat Kraft. Und das Fressen darf eben auch mal vorkommen in einer Predigt.
Luthers Übertragung aus dem Alten Testament, aus dem Buch Jesus Sirach: „Die Geißel macht Striemen, aber ein böses Maul zerschmettert das Gebein“ verstehen auch heute 14-Jährige noch.
Oder Kafkas Briefe: Sie gehören zum Herrlichsten, was auf Deutsch je geschrieben wurde. Hier wird das akademische Vorurteil klar widerlegt, dass, wer verständlich schreibt, keine große Literatur produzieren könne.
Leibrock:
Ich suche nach vergleichbaren Gegenwartsautoren…
Schneider:
Heinrich Böll hat gutes Deutsch geschrieben, Magnus Enzensberger auch. Von Günter Grass gibt es ein paar starke Sätze, aber nicht mehr. Mit großer literaturtauglicher Sprache Millionen erreichen – das können wohl nur Kafka und Brecht.
Kann auch ein Ungläubiger Luther verstehen und schätzen?
Schneider:
Ja! Brecht war ein sehr heftiger Luthergegner, ein Kirchengegner überhaupt. Trotzdem hat er von Luther gelernt. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Das ist ein großartiger Satz Luthers, nicht nur im Vertrauen auf die Allgegenwärtigkeit Gottes. So schreibt man, und so schreibt auch Bertolt Brecht.
Leibrock:
Die Hauptfrage Luthers ist allerdings heute nicht mehr aktuell. Luther fragt: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“. Heute fragen wir eher: „Gibt es Gott?“. Auch Luther würde heute diese Frage zu beantworten versuchen, und er hätte sicher gute Antworten.
Wir können Luther nicht einfach auf unsere Zeit übertragen, das sollten wir auch für das Lutherjahr 2017 bedenken. Viele Menschen könnten damit wenig anfangen, weil es nicht ihre Fragen sind.
Eine heutige Frage ist die nach Schuld und Vergebung:
> Wo bekomme ich Vergebung, wenn mir diese Welt nicht vergibt?
> Kann Michail Chodorkowski Herrn Wladimir Putin vergeben?
> Kann Wladimir Putin Herrn Chodorkowski vergeben?
Die Nachrichten sind voll mit Fragen nach Schuld und Vergebung. Die Frage ist, ob Luthers Antworten aus dem Mittelalter heute noch passen.
FELIX LEIBROCK leitet die Evangelische Akademie in München, war Pfarrer in Apolda (Thüringen) und ist Autor des Romans „Luthers Kreuzfahrt“ mit dem ersten deutschen Sauna-Seelsorger Wolle Luther, der auf dem Kreuzfahrtschiff „Nofretete“ arbeitet.
WOLF SCHNEIDER ist Mitautor des „Handbuch des Journalismus“ und Autor von Bestsellern über die Sprache wie „Deutsch für Kenner“.
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Vierter Teil des Luther-Disputs, erschienen am 11. Januar 2014 im „Thüringen Sonntag“ der Thüringer Allgemeine.
„Nichtverständlichkeitserlass“ für Autoren des Koalitionsvertrags
Wenn es um „solide Finanzen“ geht, wird bei unserer Regierung die Sprache unsolide. Da wimmelt es im Koalitionsvertrag von Wörtern, die auf einer Eil-Beerdigung zu Grabe getragen werden sollten.
Wörter türmen sich zu Ungetümen auf: „Schnellreaktionsmechnismus“ oder „Nichtanwendungserlasse“ oder ein Wort wie „OECD-BEPS (Base Erosion and Profit Shifting)-Initiative“, das selbst Fachleute ins Grübeln verschlägt. So ließe sich ein Vorrat an Unwörtern sammeln für viele Jahre.
Das Argument, Spezialbegriffe müssen nur Experten verstehen, zählt nicht: Ein Koalitionsvertrag bestimmt das Leben aller Bürger auf Jahre hinaus – und muss von allen und nicht von wenigen verstanden werden. So ist das in einer Demokratie.
Ein „BEPS“ interessiert jeden: Warum hat es ein mittelständischer Betrieb im Thüringer Wald so schwer, auf dem Weltmarkt mit großen Konzernen mitzuhalten? Die Großen bringen ihre Gewinne, ganz legal, in Staaten mit niedrigen Steuern, etwa auf die britischen Jungferninseln. Dies Urlaubsparadies in der Karibik hat so viele Einwohner wie Mühlhausen, ist aber in China der zweitgrößte Investor aller Staaten.
Der mittelständische Unternehmer, der beispielsweise Kurbelwellen herstellt, will faire Bedingungen und nicht immer verlieren gegen einen Konzern, der in seiner Steuerabteilung mehr Angestellte beschäftigt als der Mittelständler in seiner Produktion. Was die Regierung dagegen tun will, interessiert den Chef ebenso wie seine Arbeiter. Also muss ein politisches Programm für alle verständlich sein.
Offenbar gab es einen Nichtverständlichkeitserlass für die Autoren, die den Koalitionsvertrag geschrieben haben. Ein Kapitel, wie Politik verständlich werden kann, fehlt im Vertrag. Ob es Absicht ist?
Thüringer Allgemeine 20. Januar 2014 (Friedhof der Wörter)
Sozialtourismus: Das Unwort des Jahres ist Unsinn
Junge Leute mögen Jugendherbergen: Sie sind oft naturnah und immer billig. In der Schweiz betreibt die Jugendherbergen eine „Stiftung für Sozialtourismus“.
Auch in der DDR gab es den Sozialtourismus: Der FDGB organisierte einen preiswerten Urlaub für alle – und fast alle mochten ihn. Vor einigen Jahren schrieb Thomas Schaufuß ein Buch: „Sozialtourismus im SED-Staat“. Im Vorwort schreibt Vera Lengsfeld: „Die Ferienanlagen dienten auch dazu, den Frust der Werktätigen über die Versorgungslage des Landes abzubauen. Die Buffets waren gefüllt mit Obst und Südfrüchten, die sonst schwer zu bekommen waren. Man konnte sich wie im Paradies fühlen.“
Sozialtourismus – das bedeutete: Preiswerter Urlaub für Menschen in der DDR, die sich einen Urlaub nicht leisten können. Das ist „sozial“ – auch wenn die Diktatoren dieser Welt, das „Soziale“ gern für ihre Propaganda nutzen, zuerst die Nazis, dann die Kommunisten.
Sozialtourismus im Wortsinn ist etwas Gutes, ist menschenfreundlich – und wird plötzlich zum Unwort erklärt. Warum?
Ein paar Politiker und Kommentatoren nutzen seit einigen Wochen den Begriff, um EU-Bürger aus Rumänien und Bulgarien zu diffamieren, in feindlicher Absicht und pauschaler Abneigung. Die meisten Deutschen allerdings werden heute in den Zeitungen erstmals vom „Sozialtourismus“ lesen.
Die Jury hat sich offenbar nicht mit der Geschichte des Wortes beschäftigt, schaut nicht über die Grenzen der Bundesrepublik, wo auch deutsch gesprochen wird, und geht einigen Demagogen auf den Leim. Auch das Unwort des Jahres kann schlicht Unsinn sein.
Wolf Schneider über geschlechter-gerechte Sprache: Ich habe ihr öffentlich den Krieg erklärt
Beim LUTHER DISPUT der Thüringer Allgemeine stritten Wolf Schneider und Pfarrer Felix Leibrock aus Thüringen über die geschlechter-gerechte Sprache:
Wolf Schneider: Ich habe dieser Sprache öffentlich den Krieg erklärt. Ich polemisiere dagegen, wo es nur geht. Ich finde sie Schwachsinn, von Alice Schwarzer durchgesetzter und von Gewerkschaften betriebener und von Betriebsräten, Politikern und leider auch Theologen übernommener Schwachsinn. (weiblicher Applaus, aber nicht die Mehrheit)
Dazu muss ich sagen: Diese Sprache geht von der törichten Vorstellung aus, das natürliche Geschlecht habe etwas mit dem grammatischen Geschlecht irgendetwas zu tun.
Nein! Bekanntlich heißt es „das Weib“, das ist schon ein Skandal; es heißt „der Löwe“, aber: „das Pferd“ und „die Schlange“. Das grammatische und das natürliche Geschlecht stehen in keinerlei Zusammenhang. Noch darf man sagen, München hat 1,3 Millionen Einwohner. Noch sagt man nicht Einwohnerinnen- und Einwohnermeldeamt, das ist gar nicht durchführbar.
Pfarrer Leibrock: „Die Einwohnenden“ kommt demnächst!
Schneider: Ein Bedürfnis der deutschen Sprachgemeinschaft, dies zu tun, gab und gibt es nicht. Ein Bedürfnis deutscher Schriftsteller und deutscher Journalisten gab und gibt es auch nicht. Es war eine ungeheure geschickte PR-Kampagne einer Gruppe militanter Feministinnen, die diese Sprache durchgesetzt haben. Meine Behauptung ist: Das ist 90 Prozent der Deutschen völlig egal.
Pfarrer Thomas Seidel aus Erfurt: Am Verrücktesten wird es bei „Christinnen und Christen“, das gibt es in der Tat. Christ steht allerdings als Synonym zu Mensch und ist nicht biologisch zu verstehen. Mir hat Katrin Göring-Eckardt mal gesagt: „Ich sehe das auch so, aber man muss das heute so sagen.“ Das ist das Verrückte: Man muss das heute ebenso sagen – auch ohne Sachgrund.
Leibrock: Ich finde diese Sprache nicht ganz verkehrt, wenn sie den Sprachfluss nicht zerstört. Das tut es sehr oft.
Ich arbeite jetzt in einem Bildungswerk; wir haben ein Veranstaltungsheft, und da kommen in jeder Veranstaltung fünf Berufsgruppen vor. Wir brauchen in der Vorschau doppelt so viel Platz, wenn wir jedes Mal die weibliche und männliche Form nutzen.
Ich habe ich meinen Mitarbeiterinnen gesagt: „Das ist absolut unverständlich, das kann ich nicht mittragen.“
Schneider: Stellenbeschreibung im Norddeutschen Rundfunk: „Der Intendant/ die Intendantin benennen seinen Stellvertreter/seine Stellvertreterin bzw. ihren Stellvertreter/ihre Stellvertreterin“ – das ist ein Satz der deutschen Sprache, der Unsinn ist. Dieser Unsinn hat abgeschafft zu werden!
Leibrock: Es ist aber auch eine Geschichte der Emanzipation – und die ist auch gut. Dass Frauen gleichberechtigt sind, das ist das Ziel hoffentlich aller; das Ziel ist noch nicht erreicht, wir sind da noch in einem Prozess. Insofern finde ich es nicht verkehrt und auch nicht anstrengend – eben wenn man den Sprachfluss nicht zerstört. Mir kommt es locker über die Lippen: „Die Predigerinnen und die Prediger“ – ich habe damit kein Problem und finde das auch nicht so verkehrt.
Schneider: Ich höre das mit wachsendem Misstrauen, dass es bereits Leute gibt, denen das locker über die Lippen geht. Ich dachte, sie hätten sich wenigstens einen Rest von Widerwillen bewahrt.
Leibrock: Sie müssen es nur üben, Herr Schneider, wie guten Stil. Ich bin Mitglied einer Körperschaft und muss da auch gewisse Spielregeln anerkennen. Da gibt es auch Richtlinien, wie wir Texte schreiben – da können wir nicht einfach so schreiben, wie wir wollen. Sie, Herr Schneider, sind ein freier Mensch: Sie können schreiben, wie sie wollen,
Die Stadt Halle hat es per Ratsbeschluss untersagt, nur die männliche Form zu nutzen…
Leibrock:: Die Universität Leipzig geht noch weiter: nur die weibliche Form – „Herr Professorin“.
Schneider: Schrecklich!
Das Interview erscheint am 10. Januar 2014 in der Thüringer Allgemeine; das komplette Interview „Luther Disput“ am 11. Januar.
Welches war Ihr Unwort des Jahres 2013?
Zuerst noch einmal: Das Wort des Jahres. Die Wahl ist meist einfach Unsinn, denn die Jury wählt in der Regel kein Wort, sondern eine Sache wie:
> Die Abwrackprämie;
> oder ein Ereignis wie: die Finanzkrise;
> oder ein Amt wie: die Bundeskanzlerin;
> oder eine Katastrophe: wie Tschernobyl;
> oder etwas Ewiges: wie den Wutbürger und die Ellenbogengesellschaft.
Können Sie sich noch an das Wort des Jahres 2012 erinnern? Rettungsroutine! Nur noch eine Handvoll weiß, was es bedeutet und warum es eine Jury in die Begeisterung trieb.
Können Sie sich an diese Wörter erinnern:
> Szene (1977)
> Besserwessi (1991)
> das alte Europa (2003)
> Stresstest (2011)?
Da ist das „Unwort des Jahres“ wenigstens eines, über das sich zu streiten lohnt – weil es übel, menschenverachtend, vernebelnd oder einfach dumm ist:
> Döner-Morde (2011)
> notleidende Banken (2008)
> Herdprämie (2007)
> Kollateralschaden (1999)
> Rentnerschwemme (1996)
> Überfremdung (1993)
Welches war Ihr persönliches Unwort im vergangenen Jahr? Ich freue mich auf Ihre Vorschläge: Nutzen Sie die Kommentarfunktion oder schreiben mir eine Mail:
pj@raue.it
Der unverständlichste Germanisten-Satz des Jahres – und ein Toast auf Hermann Unterstöger und sein Sprachlabor
Das Schönste am Samstagmorgen ist die Lektüre des „Sprachlabors“ von Hermann Unterstöger in der Süddeutschen. Über die Feiertage haben offenbar auch seine Leser keine Lust, Fehler in der Zeitung zu suchen, zu kritisieren und überhaupt so zu kritteln, dass sich ein Preuße graust (vielleicht gab es auch keine Fehler, weil der Genuss von Zimtsternen und Neujahrs-Champagner die journalistischen Sprachsinne schärft).
So bedient sich Unterstöger im ersten Labor des Jahres eines Leser-Klassikers der Sprachkritik: Die Stundenkilometer. Die standen „kürzlich“ in der SZ – übrigens auch ein Klassiker: „Kürzlich“ mögen vor allem Lokalredakteure, wenn sie einen Termin verpennt haben oder der Praktikant erst nach zwei Wochen zum Schreiben der Konzertkritik kommt – und die Nachrichten-Regel, stets das „Wann“ präzise anzugeben, als peinlich empfunden wird.
Also – die Stundenkilometer. Die Sprache sei, so Unterstöger treffend, nicht immer logisch; sie müsse „allem Prägnanten, Treffenden und Knappen gegenüber offen sein“ – so zitiert er die „Gesellschaft für deutsche Sprache“. Da er offenbar unentwegt in einem der vielen Sprachbücher liest (was nur selten ein Vergnügen ist), fand er in Eichingers „Deutsche Wortbildung“ einen schönen Beleg für „die Vielzahl von Relationen zwischen den Bestandteilen“ eines Worts: Tagwerk ist ja auch nicht Tag mal Werk, sondern: Das im Lauf eines Tages zu leistende Werk.
Herrn Unterstöger empfohlen seien zum Thema „Das Vergnügen, Bücher von Sprachwissenschaftlern zu lesen“ drei Sätze von Professor Peter Eisenberg aus dem Buch „Reichtum und Armut der deutschen Sprache“:
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bilden die Anglizismen so etwas wie einen Worthaufen mit wenig Struktur. Strukturiertheit liegt insofern vor, als die Stärke der Wortarten bei den entlehnten Wörtern der Entlehnbarkeitshierarchie entspricht und als das Deutsche unmittelbar seine Kompositionsfreudigkeit auf die entlehnten Einheiten überträgt. Schließlich auch insofern, als bei den morphologisch einfachen Wörtern einige phonologisch und graphematisch wirksame Integrationsmechanismen greifen, die sich flexionsmorphologisch auswirken.
Darf der Orkan mit „Stundenkilometern“ über die Küste jagen?
Wer die Berichte über das Orkantief Xaver liest, findet fast überall: 140 „Stundenkilometer“. Und schon regen sich Leser auf:
Ich habe in der Schule gelernt, dass die Geschwindigkeit in Kilometer pro Stunde angegeben wird.Scheinbar ist mit der Rechtschreib- oder einer anderen Reform diese Maßeinheit auch geändert worden, denn man hört und liest in den Medien deutschlandweit immer mehr diese „Stundenkilometer“ als Geschwindigkeitsangabe.
Das ist nicht richtig!!!
In der Thüringer Allgemeine steht in der Kolumne „Leser fragen“ diese Antwort:
Sie haben Recht: Ein Physiker schreibt als Formel „km/h“, das ist in der Tat“ Kilometer pro Stunde“. Beide Bezeichnungen taugen aber wenig für die normale und schnelle Verständigung: „km/h“ ist zwar kurz, aber nicht sprechbar; „Kilometer pro Stunde“ besteht aus drei Wörtern und ist den meisten Menschen offenbar zu lang und kompliziert – zudem passt es nicht in die meisten Zeitungs-Überschriften.
Was machen die Menschen dann mit unserer Sprache? Sie nutzen den großen Vorteil des Deutschen und packen Kompliziertes in ein Hauptwort – wie beispielsweise Stundenkilometer.
Andere Weltsprachen wie das Englische oder Französische schaffen dies nicht: „Society for prevention of cruelty to animals“ ist die komplizierte englische Version des „Tierschutzvereins“.
So tauchen auch deutsche Hauptwörter in der englischen Sprache auf wie Kindergarten oder Bratwurst oder Weltschmerz.Die „Bratwurst“ zeigt auch, wie vieldeutig zusammengesetzte Substantive im Deutschen sind: Die Bratwurst ist eine Wurst zum Braten. Und die Blutwurst? Eine Wurst zum Bluten? Oder: Das „Schweineschnitzel“ ist vom Schwein – aber das Jägerschnitzel?
Physiker und andere Experten brauchen eine eindeutige Sprache; die Alltagssprache muss verständlich sein. Und jeder weiß, was „Stundenkilometer“ bedeutet – auch wenn ihm die Schule anderes eingetrichtert hat.
Hilfreich ist die Sprachberatung der „Gesellschaft für deutsche Sprache“: „Stundenkilometer“ ist nicht nur,erlaubt‘, sondern durchaus richtig und angemessen. Pedanterie führt, von strengen terminologischer Definitionsarbeit abgesehen, zu nichts.“
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 7. Dezember 2013
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