Alle Artikel der Rubrik "D 12 Durchsichtige Sätze"

Journalisten lernen von Dichtern: Wenn ich meinen Text leise lese, wird er besser

Geschrieben am 4. August 2014 von Paul-Josef Raue.

Abends in einer guten Redaktion: Es murmelt – ein Journalistenchor aus Selbstgesprächen. Die Texte sind fertig, die Reporter oder Blattmacher lesen leise, in sich versunken. Es ist wie in einem mittelalterlichen Kloster, in dem die Mönche in der Bibel lesen. Erwischt der Abt einen stummen Mönch, herrscht er ihn an: „Warum liest Du nicht?“ Wenn der Mönch bockig antwortet „Ich lese doch“, tadelt ihn der Abt: „Ich höre nichts!“

Die Hirnforschung hat überraschend die These bestätigt, dass wir beim stummen Lesen und Schreiben auch hören. Unser Gehirn übersetzt die Wörter in Töne, der Lesende aktiviert also auch das Areal fürs Hören.

Schreiben ist ein einsames Geschäft, ist ein Selbstgespräch des Journalisten. Das „Gespräch“ ist dabei wörtlich zu nehmen: Wer schreibt, der spricht – selbst wenn nichts zu hören ist. So wird jeder Text besser, wenn wir ihn leise sprechen – und jedesmal, wenn wir stolpern, nicht ein zweites Mal lesen, sondern den Text verbessern. Dort wo wir stolpern, schachtelt der Satz, hemmen Zahlen oder eine Klammer den Lesefluss, reihen sich zu viele Adverbien aneinander usw.

Wenn ich schon stolpere, der den Text kennt, dann stolpert erst recht der Leser, der den Text nicht kennt. Darauf zu hoffen, dass der Leser ein zweites Mal ansetzt, um den Text zu verstehen, ist trügerisch, sehr trügerisch.

Die Schriftstellerin Judith Hermann erzählt in einem Interview mit Nils Minkmar, wie sie schreibt:

Ich habe mir den Text immer wieder laut vorgelesen, bis der Klang stimmte, meine Vorstellung von Rhythmus. Das hat ziemlich lange gedauert, am Anfang hatte ich gar keine Zeit, mich für das energetische Gespinst der Sprache zu interessieren, ich war auch viel zu aufgeregt, unruhig, zu nervös.

Judith Hermann erzählt auch, wie sie einen Roman schreibt. Diese Arbeitsweise taugt aber nur für Journalisten, die Bücher schreiben – nicht für die Tagesarbeit geeignet:

> Ich habe die Geschichte von Anfang bis Ende aufgeschrieben.
> Dann habe ich sie noch einmal abgeschrieben, und beim Abschreiben habe ich noch einmal umformuliert, geordnet, auch gekürzt,
< und dann habe ich sie ein drittes und letztes Mal abgeschrieben. Ich habe gestrichen.

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Quelle:
Hermann-Interview in FAZ 2. August 2014

Lesetipp:
Stanilas Dehaene (französischer Neurowissenschaftler): Lesen – Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert (Knaus,24.99)
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Europawahl-Parteiprogramme: AfD am unverständlichsten, SPD mit 87-Wörter-Bandwort-Satz (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 22. Mai 2014 von Paul-Josef Raue.

Warum gehen wahrscheinlich nur relativ wenige Bürger zur Europawahl? Weil sie nicht verstehen können, was die Parteien in Brüssel verändern wollen. Die Programme der Parteien sind jedenfalls, wenn es um die Verständlichkeit geht, eine Zumutung – auch wenn im Vergleich von drei Jahrzehnten die aktuellen Programme noch zu den verständlichsten gehören. Zu diesem Urteil kommen die Sprachforscher der Universität Hohenheim um Professor Frank Brettschneider.

Offenbar gehen die Wahlstrategen der Parteien davon aus, dass ihre Programme kaum gelesen werden; oder sie interessieren sich hochmütig nicht dafür, dass sie ihre Wähler in die Verzweiflung treiben mit solchen Begriffen:

> Drug Checking (Linke),
> Transition-Town-Bewegung (Grüne),
> Umsatzsteuerkarusellbetrug (CDU),
> konfiskatorische Staatseingriffe (AfD)
> Subsidiaritäts-Instrumentarium (FDP)
> one man, one vote (CSU)

Das unverständlichste Programm liefert die AfD, die angetreten war, alles besser zu machen als die etablierten Parteien. Alle liefern neben unverständlichen Wörtern auch Sätze mit ungezählten Bandwortsätzen bis zu 50 Wörtern und mehr.

Und wer holte die Europa-Bandwort-Krone? Den längsten Satz finden wir im Wahlprogramm der SPD:

Das Europa derjenigen, die sich mit Energie und Kraft für Frieden und Menschenrechte einsetzen, die ohne Wenn und Aber für gesundes und sauberes Wachstum, gute Arbeit und starke soziale Rechte sind, die sich mit Empörung gegen die Dominanz der Finanzmärkte aussprechen, die sich an Entscheidungen in Europa beteiligen wollen und ihre Stimme zur Geltung bringen wollen, die bei den schrecklichen Fernsehbildern von verzweifelten Flüchtlingen an Europas Grenzen nicht die Augen verschließen, und diejenigen, die in der Europäischen Zusammenarbeit die einzige realistische Chance sehen, all dies zu verwirklichen.

Ein Ungetüm mit 87 Wörtern verstößt gegen die einfache Regel der Verständlichkeit: 20 Wörter reichen!

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Eine redigierte Version in der Thüringer Allgemeine 26. Mai 2014 (Kolumne: Friedhof der Wörter)

Ein guter Satz, eine tolle Reportage: Guardiola-Porträt in der SZ

Geschrieben am 30. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Ist dieser Zeitungs-Satz ein guter Satz:

Hermann Gerland, dem große Worte ansonsten so suspekt sind, wie Pep Guardiola rote Meistermützen suspekt sind, Hermann Gerland also sagt, Pep Guardiola sei „ein Genie“.

Variante 1 – Nach der reinen Stillehre hätte der Satz geteilt werden müssen:

Hermann Gerland sind große Worte ansonsten so suspekt wie Pep Guardiola rote Meistermützen. Hermann (oder: Dieser) Gerland also sagt, Pep Guardiola sei „ein Genie“.

Variante 2 – Eleganter wäre diese Teilung in zwei Hauptsätze:

Hermann Gerland also sagt, Pep Guardiola sei „ein Genie“. Ansonsten sind Hermann Gerland große Worte so suspekt wie Pep Guardiola rote Meistermützen.

Trotzdem ist der Satz, wie er in der SZ-Reportage von Christoph Kneer steht, ein guter Satz. Dafür gibt es drei Gründe:

  • Wer nur Hauptsätze aneinander reiht, langweilt den Leser – erst recht in einer Reportage, die eben keine Nachricht ist, kein Bericht.
  • Eine Trennung der beiden Sätze durch ein Semikolon oder einen Gedankenstrich funktioniert nicht, weil beide Sätze eine starke, eine eigenständige Aussage enthalten. Allenfalls in der zweiten Variante wäre eine Semiokolon-Lösung denkbar.
  • Wenn ich aus zwei starken Aussagen, die dasselbe Subjekt haben (Hermann Gerland), einen Satz bilden will: Dann darf der eingeschobene Nebensatz maximal fünf bis sieben kurze Wörter enthalten (Drei-Sekunden-Regel). Umfasst er vierzehn Wörter wie in diesem Fall, dann muss ich das Subjekt noch einmal aufnehmen: „Hermann Gerland also…“
    Zum Glück verzichtet Christoph Kneer bei der zweiten Gerland-Nennung auf ein Synonym wie „Der Co-Trainer“; die Wiederholung des Namens erleichtert dem Leser die Einordnung („wer genau ist gemeint?“).

Der Zeitungsleser ist ein schneller Leser im Gegensatz zum Buchleser. Also steht die schnelle Verständlichkeit – also das Verstehen beim ersten Lesen – an erster Stelle. Deshalb ist der Trick der Wiederholung des Subjekts in diesem Fall nicht nur schön, sondern auch notwendig; und er ist sinnvoll, wenn ich den Co-Trainer Gerland besonders herausheben will.

Dagegen ist ein Komma überflüssig (vor: „wie Pep Guardiola“) ebenso wie die „suspekt sind“ am Endes des Nebensatzes:

Hermann Gerland, dem große Worte ansonsten so suspekt sind, wie Pep Guardiola rote Meistermützen suspekt sind, Hermann Gerland also sagt, Pep Guardiola sei „ein Genie“.

Christof Kneers Porträt des Bayern-Trainers ist ein lesenswertes Porträt, ja ein vorbildliches, geeignet für die Volontärs-Ausbildung:

> Der Autor nimmt zum Einstieg eine eher beiläufige, aber aktuelle Episode – wie das Auf- und Absetzen der roten Meistermütze – und beschreibt, wie typisch sie für den Porträtierten ist.
> Er lässt dann weitere Prominente auftauchen – van Gaal und Heynkes, Klopp und Neururer – und bindet so schon das Interesse des Lesers.
> Er vergleicht Guardiola mit anderen, hier den Vor-Vorgänger Louis van Gaal, und beschreibt die Unterschiede; er nimmt übrigens nicht den direkten Vorgänger Heynkes, weil der kaum Ecken hatte und für einen Vergleich nicht taugt.
> Er erzählt Episoden, die er selber erlebt hat oder aus zuverlässiger Quelle gehört hat (und die, wenn er sie erzählt, keine Gegendarstellung provozieren). Diese Episoden, wie die erste Begegnung mit Hoeneß, machen klar, wie Guardiola als Mensch und Trainer wirklich ist.
> Er erzählt auch von den dunklen Seiten des Menschen, aber beiläufig: „Natürlich kennen sie in München auch die anderen Geschichten…“. In sieben, nur sieben Zeilen geht es um Doping, Katar-Lobbyist, Bespitzeln. Daraus hätte andere eine ganze Reportage gebastelt.
> Er nutzt noch einen Vergleich: Trainer in Spanien und Deutschland (Klopp und Neururer), Barcelona und München. Vergleiche sind besser als jede Beschreibung.
> Er beginnt die Reportage mit einem aktuellen Ereignis – dem Meisterspiel in Berlin – und endet mit der Vorschau auf das letzte Spiel. Eine tolle Szene mit vielen Anspielungen, die nur versteht, wer die Reportage gelesen hat, ein gelungener letzter Satz:

Am letzten Spieltag, wenn die Meisterschale überreicht wird, werden die Spieler ihren Mister mit Bier überschütten, und Kathleen Krüger, die Frau fürs Drumherum, muss ihm einen neuen Anzug bringen.

Quelle: Süddeutsche 29. März 2014, Seite 3 „Kunstrasen“

Wolf Schneider zum Frauentag: „Der Inbegriff aller Weiblichkeit ist immer noch sächlich: das Weib“

Geschrieben am 8. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Die Gender-Sprache führt zu einer „lächerlichen Verumständlichung“ des Deutschen, so berichtet die evangelische Nachrichtenagentur idea über einen Vortrag Wolf Schneiders beim Christlichen Medienkongress im Januar. Dort bekamen bibeltreue Christen zu hören, was Schneider beim „Luther-Disput“ in Erfurt am 4. Advent schon ausgeführt hatte: Alice Schwarzer und ein kleiner Klüngel von Feministinnen fühlen sich durch die Sprache diskriminiert; das ist aber töricht, denn das natürliche Geschlecht hat nichts mit dem grammatikalischen Geschlecht zu tun. „Der Inbegriff aller Weiblichkeit ist immer noch sächlich: das Weib.“

Beim Medienkongress ermahnt Schneider laut idea Pfarrer und Journalisten: Nehmt Euch ein Beispiel an Luther! Auch wenn Luthers klare Sprache unmöglich zu übertreffen sei, bleibe die Frage: „Muss die Mehrheit der Würdenträger so weit dahinter zurückbleiben, wie ich es hundertfach erlebe.“ Unverständlichkeit gelte inzwischen als Nachweis von Wissenschaftlichkeit gelte. Wenn Bischöfe von „Apostolizität“ sprächen, von „kybernetisch-missionarischer Kompetenz“ oder „situationsbezogener Flexibilität“, dann nutzten sie Wörter, „vor denen es einer Sau graust“. Wörter, die nur fünf Prozent der Deutschen verstünden, seien akademischer Hochmut und „die Pest“.

Schneiders Rat an Prediger und Journalisten:

> Lest täglich in der Lutherbibel!
> Nutzt kurze, konkrete und saftige Wörter!
> Schreibt schlanke und transparente Sätze!
> Sprecht Wörter mit wenigen Silben, denn alle großen Gefühle sind Einsilber wie Hass, Neid, Gier, Qual, Glück oder Lust! „Viersilbige große Gefühle gibt es nicht!“

Wer dagegen verstoßen wolle, dem rät Schneider: „Ehe Sie in einer Predigt fünf Silben verwenden, machen Sie fünf Liegestütze!“

Wer die deutsche Sprache loben und Anglizismen meiden möchte, den erinnert Schneider: Deutsch steht immer noch auf Platz vier der am meisten gelernten Sprachen weltweit – nach Englisch, Spanisch und Chinesisch.

Feuilleton schlägt Politik beim Wettstreit um den längsten Satz des Jahres (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Warum schreiben Politiker lange unverständliche Sätze? Tragen Sie eine Meisterschaft aus: Wer schafft den längsten Satz? Schauen wir uns den Wettkampf an: Wer ist Deutscher Satzlängen-Meister 2103?

Im Wahlkampf gaben sich die Politiker, die ihre Wahlprogramme schrieben, viel Mühe, lang und unverständlich zu formulieren – doch reichte es nur für die Bronze-Medaille: 71 Wörter.

Mehr Mühe gaben sich die unbekannten Autoren, die „Geisterschreiber“ des Koalitionsvertrags: Die Silbermedaille für 87 Wörter in einem Satz plus eine Zahl.

Sobald der Aufbau eines europäischen Abwicklungsmechanismus beschlossen ist, kann, nachdem der deutsche Gesetzgeber eine entsprechende Entscheidung getroffen und die EZB die Aufsicht operativ übernommen hat, als Zwischenlösung ein neues Instrument zur direkten Bankenrekapitalisierung auf Basis der bestehenden ESM-Regelungen mit einem maximalen Volumen von 60 Mrd. Euro und insbesondere mit der entsprechenden Konditionalität und als letztes Instrument einer Haftungskaskade in Frage kommen, wobei sichergestellt ist, dass vorher alle anderen vorrangigen Mittel ausgeschöpft worden sind und ein indirektes ESM-Bankenprogramm mit Blick auf die Schuldentragfähigkeit des Staates ausgeschlossen ist.

Nur – was ist ein Politiker gegen einen Journalisten, einen Theaterkritiker? Nichts, wenn es um die Satzlänge geht. Gerhard Stadelmaier brachte es auf 208 Wörter: Das ist der deutsche Rekord 2013, schon einmal gewürdigt in diesem Blog:

Abgesehen davon, dass Jens im Jahr 1998 zu Mozarts „Requiem“ (KV 626) Zwischentexte, Reflexionen schrieb, die den ewigen protestantischen Aufklärer Jens und Auf-Verbesserung-der-Welt-Hoffer als doch etwas leichtfertigen Um- und Gegendeuter und Verharmloser der gewaltigen katholischen Totenmesse zeigt, die das Jüngste Gericht und die Flammen der Verdammnis und die Sühne für alle Sünden und die Gnadenlosigkeit eines Gottes beschwört, bei dem allein die unberechenbare Gnade liegt; abgesehen auch davon, dass Jens im Jahr 2006, als er zur „Reqiem“-Musik seine „Requiem“-Gedanken vortrug, plötzlich das Vermögen, etwas vorzulesen, verließ, er stockte und stotterte und sich so seine Demenz, an der er über die Jahre ohne Sprache und Gedächtnis hinweg verdämmerte, offenbarte; abgesehen auch davon, dass die Stiftskirche, in der einst die Universität Tübingen gegründet wurde und die sozusagen deren erster öffentlicher Raum war, zum Tübinger Öffentlichkeitsspieler- und Nutzer Walter Jens doch wunderbar passt: Es ist ein seltsam Empfinden, wenn jenseits aller Rhetorik und jedes Meinens und Polemisierens und Kritisierens, jedes Forschens und Ergründens und jeder Buchgelehrsamkeit ein Satz in die vollbesetzte Kirche fährt: „Liber scriptus proferetur“ (Und ein Buch wird aufgeschlagen, treu darin ist eingetragen jede Schuld auf Erdentagen), wo sich dann „solvet saeclum in favilla“ (das Weltall sich entzündet) und „quantus tremor est futurus“ (ein Graus wird sein und Zagen).

Im neuen Jahr entdeckt Gerhard Stadelmaier im FAZ-Feuilleton wieder den Reiz und die Kraft der kurzen Sätze, in denen wir kurze Wörter finden voll emotionaler Wucht – wie in der Kritik einer Luc-Bondy-Inszenierung in Paris:

„Die Sterne funkeln im Theaterhimmel. Jetzt beginnt ihr wahrer Traum: die Geschichte, die aus den beiden Schmetterlingen wird. Ein Nachtstück? Eine Eintagsfliegenaffäre? Eine Ehe? Eine Katastrophe? Eine Seligkeit? Alles ist möglich. Nichts ist ausgeschlossen. Aber so, wie es jetzt gerade ist, ist es das pure Glück. Mehr muss auch nicht sein. Ovationen.“

Wir staunen: Ja, kurz ist in der Regel besser! Also – ein Kompliment für den Kritiker. Wäre da nur nicht die „Eintagsfliegenaffäre.

Erweiterte Fassung eines „Friedhof der Wörter“ in Thüringer Allgemeine 27. Januar 2014

Wolf Schneider: Drei goldene Regeln für Redner (Luther-Disput 3)

Geschrieben am 22. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Im dritten Teil des Luther-Disputs geht es um die Predigten der Pfarrer. „Ich habe meine undankbaren Jünger Reden gelehrt“, sagte Luther einmal. Aber können das Pfarrer heute noch? So sprechen, wie es Luther tat und lehrte? Wolf Schneider gibt drei goldene Tipps für Redner und Prediger:

• Lasst die üblichen Gemeinplätze weg!
• Lasst die Fremdwörter und schrecklichen Adjektive weg – womit ihr die Sprache entlutherisiert.
• Gebt euch Mühe, Interessantes zu sagen!

Felix Leibrock:
Es gibt einen allgemeinen Verfall der öffentlichen Rede. Es fehlt der Mut zur klaren Aussage.

Das halte ich für ein gesellschaftliches Problem, weil wir so viel Zeit, so viel Energie verschwenden in Veranstaltungen, die uns wenig bringen. Deswegen mein Plädoyer für die freie Rede, für das gewagte Wort und für die Freiheit, etwas zu sagen, was falsch ist.

Vielleicht weiß Herr Schneider, wie wir das wieder hinbekommen?

Schneider:
Appelle wie „Werdet besser!“ helfen wenig. Viele Predigten sind trostlos. Ich habe im Auftrag der evangelischen Kirche Sachsen-Anhalt viele evangelische Texte und Predigten analysiert. Positiv aufgefallen sind mir nur ein paar Sätze von Margot Käßmann – zum Beispiel: „In Afghanistan ist gar nichts gut.“ Ich bin nicht ihrer Meinung, aber das ist klar und prägnant. Sonst ist kaum Besserung erkennbar.

Leibrock:
Vor so klaren Aussagen wie der von Margot Käßmann scheuen wir uns. Wir sagten lieber: „Die Situation in Afghanistan ist differenziert zu sehen.“

Wenn es um klare Worte geht, ist auch der neue Papst zu loben. In der Schrift „Evangelii Gaudium“ schreibt er:

„Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht.“

Schneider:
Oder er schreibt: „Die Kirche ist keine Zollstation. Sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit einem mühevollen Leben.“ Der Papst ist so gut, wie es Luther mal war.

Leibrock:
Ja, das sind Sätze, die verstehe ich sofort. Und andere Menschen auch. Ich habe den ersten evangelischen Papst-Franziskus-Fanklub gegründet…

Schneider:
In jeder Kirche sollte ein Plakat hängen: Wollt ihr wirklich schlechter sein als der Papst? Keinem Prediger, keinem Bischof ist es versagt, sich in klaren Sätzen zu äußern.

***
FELIX LEIBROCK leitet die Evangelische Akademie in München, war Pfarrer in Apolda (Thüringen) und ist Autor des Romans „Luthers Kreuzfahrt“ mit dem ersten deutschen Sauna-Seelsorger Wolle Luther, der auf dem Kreuzfahrtschiff „Nofretete“ arbeitet.

WOLF SCHNEIDER ist Mitautor des „Handbuch des Journalismus“ und Autor von Bestsellern über die Sprache wie „Deutsch für Kenner“.

**

Dritter Teil des Luther-Disputs, erschienen am 11. Januar 2014 im „Thüringen Sonntag“ der Thüringer Allgemeine.

Der unverständlichste Germanisten-Satz des Jahres – und ein Toast auf Hermann Unterstöger und sein Sprachlabor

Geschrieben am 4. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Das Schönste am Samstagmorgen ist die Lektüre des „Sprachlabors“ von Hermann Unterstöger in der Süddeutschen. Über die Feiertage haben offenbar auch seine Leser keine Lust, Fehler in der Zeitung zu suchen, zu kritisieren und überhaupt so zu kritteln, dass sich ein Preuße graust (vielleicht gab es auch keine Fehler, weil der Genuss von Zimtsternen und Neujahrs-Champagner die journalistischen Sprachsinne schärft).

So bedient sich Unterstöger im ersten Labor des Jahres eines Leser-Klassikers der Sprachkritik: Die Stundenkilometer. Die standen „kürzlich“ in der SZ – übrigens auch ein Klassiker: „Kürzlich“ mögen vor allem Lokalredakteure, wenn sie einen Termin verpennt haben oder der Praktikant erst nach zwei Wochen zum Schreiben der Konzertkritik kommt – und die Nachrichten-Regel, stets das „Wann“ präzise anzugeben, als peinlich empfunden wird.

Also – die Stundenkilometer. Die Sprache sei, so Unterstöger treffend, nicht immer logisch; sie müsse „allem Prägnanten, Treffenden und Knappen gegenüber offen sein“ – so zitiert er die „Gesellschaft für deutsche Sprache“. Da er offenbar unentwegt in einem der vielen Sprachbücher liest (was nur selten ein Vergnügen ist), fand er in Eichingers „Deutsche Wortbildung“ einen schönen Beleg für „die Vielzahl von Relationen zwischen den Bestandteilen“ eines Worts: Tagwerk ist ja auch nicht Tag mal Werk, sondern: Das im Lauf eines Tages zu leistende Werk.

Herrn Unterstöger empfohlen seien zum Thema „Das Vergnügen, Bücher von Sprachwissenschaftlern zu lesen“ drei Sätze von Professor Peter Eisenberg aus dem Buch „Reichtum und Armut der deutschen Sprache“:

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bilden die Anglizismen so etwas wie einen Worthaufen mit wenig Struktur. Strukturiertheit liegt insofern vor, als die Stärke der Wortarten bei den entlehnten Wörtern der Entlehnbarkeitshierarchie entspricht und als das Deutsche unmittelbar seine Kompositionsfreudigkeit auf die entlehnten Einheiten überträgt. Schließlich auch insofern, als bei den morphologisch einfachen Wörtern einige phonologisch und graphematisch wirksame Integrationsmechanismen greifen, die sich flexionsmorphologisch auswirken.

Politiker wollen nicht verstanden werden (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 7. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Ob die SPD-Mitglieder den Koalitionsvertrag wirklich lesen, bevor sie abstimmen? Und ob sie ihn auch verstehen?

Wahrscheinlich versteht ihn nur eine Minderheit, die eine Freude daran hat, Ungetüme wie „Thesaurierungsregelegungen“ oder „Schnellreaktionsmechanismus“ genüsslich zu zerlegen und einen Sinn zu finden.

Sprachforscher der Universität Hohenheim haben den Vertrag analysiert, nein: Sie haben ihn buchstäblich auseinandergenommen – und sind entsetzt. Sprach-Professor Frank Brettschneider:

Die mangelnde Verständlichkeit des Koalitionsvertrags ist enttäuschend. Alle Parteien haben sich Transparenz und Bürgernähe auf ihre Frage geschrieben. Damit die Bürger eine begründete Bewertung vornehmen können, sollten die Koalitionspartner ihre Absichten klar und verständlich darstellen.

Und das tun sie nicht.

Selbst die für den Normalbürger kaum lesbare Doktor-Arbeit eines Politikwissenschaftlers ist im Durchschnitt verständlicher als der Vertrag. Warum? Wir lesen Schachtelsätze mit Fachchinesisch, Fremd- und Fachwörtern, meist ohne Erklärung sowie Wortungetüme und viel zu lange Sätze.

Wollen die Politiker wirklich verstanden werden? Die Wissenschaftler haben Zweifel: „Sie nutzen abstraktes Verwaltungsdeutsch, um unklare oder unpopuläre Positionen absichtlich zu verschleiern.“ „Taktische Unverständlichkeit“ nennt dies der Sprach-Professor.

Einige Beispiele gefällig: „Flächenneuinanspruchnahme“, „Interoperalibiliät“ – und der „Landesbasisfallwert“.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 9. Dezember 2013

Präsenz – ein einfältiges, unbrauchbares Wort (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 24. September 2013 von Paul-Josef Raue.

Das hat Reich-Ranicki nicht verdient! „Seine Präsenz“ überschreibt TV-Weggefährte Hellmuth Karasek einen Nachruf in der Literarischen Welt. Präsenz ist ein Allerweltsbegriff  wie Bereich oder Massnahme, bedeutet alles und nichts und verweist nur auf die Denkfaulheit des Autors, sich genau auszudrücken.

Präsenz, dem Lateinischen und Französischen entlehnt, bedeutet: Anwesenheit, Gegenwart – mehr nicht. „Die Gewerkschaft fordert mehr Präsenz der Polizei auf den Straßen“, ist ein Mode-Satz in einer Pressemitteilung, gerne auch von Zeitungen übernommen; so wäre er trefflich übersetzt: Polizisten sollen mehr Streife fahren.

In einem anderen Pressetext steht:

Dieses Wissen soll dazu führen, Schnelltests zu entwickeln, mit denen die Präsenz solcher Gifte nachweisbar ist.

In diesem Satz kann man „die Präsenz“ einfach streichen, und der Satz wäre kürzer und der Sinn klarer. Denn: Was nachweisbar ist, auch auch anwesend.

Und wer sich schämt, einen Körper erotisch zu nennen, der schwadroniert so:

Die sinnliche Präsenz der Körper hat auch eine erotische Note.

Kehren wir zu Karaseks Nachruf zurück: Der Autor mag dem Redakteur die schändlich einfallslose Überschrift „Seine Präsenz“ anlasten. Allerdings steht im Text:

Reich hat eine Präsenz in der deutschen Kultur, die aus seiner Entschiedenheit, aus seiner produktiven Streitlust und aus seinen Bühnentalenten besteht…

Im Nebensatz stehen die starken Wörter: Entschiedenheit, Streitlust, Bühnentalent; im Hauptsatz das schwache Wort Präsenz. Was meint Karasek damit? Stellenwert (auch schwach), Bedeutung (noch schwach), Größe (besser), Ausstrahlung (empfiehlt der Duden). Hat Reich-Ranicki nicht Größeres verdient?

Im Duden ist auch der „Präsenzdiener“, ein österreichisches Wort, zu finden: Der Soldat, der den Grundwehrdienst leistet. Früher nannte man ihn „Schütze Arsch“ – derb, aber klar.

Thüringer Allgemeine, geplant für den 30. September

Kommentare auf Facebook:

Anton Sahlender gefällt das:
„Kann es nicht sein, dass Präsenz im Laufe der Zeit im Sprachgebrauch eine stärkere Wirkung entwickelt hat als z. B. Anwesenheit? Ich empfinde es so…“

Petra Breunig: …Präsenz im Sinne von Ausstrahlung…

Paul-Josef Raue: Wörter, die immer allgemeiner gebraucht werden, dürften nicht stärker, sondern schwächer werden. Präsenz hat immer eine spezifische Bedeutung, die wir dann auch benennen sollten – etwa Ausstrahlung. Klare Bedeutung, klarer Sinn, klare Wörter. Und oft genug kannst Du Präsenz einfach ersatzlos streichen.

Politiker und Bürger: Der Fluch des Wissens und taktische Unverständlichkeit (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 22. September 2013 von Paul-Josef Raue.

Politiker sprechen gern von Bürgernähe, vor allem vor der Wahl. Sie geloben Transparenz, also Durchsichtigkeit: Danach soll alles, was Politiker tun, für jedermann sichtbar und verständlich sein.

In den Programmen der Parteien ist die Bürgernähe nur ein Wort. Kommunikations-Forscher der Hohenheimer sprechen ein vernichtendes Urteil über die Verständlichkeit politischer Texte aus; dies war Thema der vergangenen Kolumnen.

Den Grund für die Unverständlichkeit sehen die Wissenschaftler in den Diskussionen von innerparteilichen Experten. Professor Frank Brettschneider erklärt:

Diesen ist meist nicht bewusst, dass die Mehrheit der Wähler ihr Fachchinesisch nicht versteht, wir nennen das den Fluch des Wissens.

Ein Beispiel aus einem Parteiprogramm sei zitiert und nicht erklärt: „Comprehensive Test Ban Treaty“

Doch nicht allein der „Fluch des Wissens“ hindert die Politiker, klar und verständlich zu schreiben: „Zudem nutzen sie abstraktes Verwaltungsdeutsch, um unpopuläre Positionen absichtlich zu verschleiern.“ Dies nennen die Wissenschaftler „taktische Unverständlichkeit.“

Und wie sieht ein verständliches Politiker-Deutsch aus? Die Wissenschaftler geben vier Hinweise, die für jeden hilfreich sind, der verstanden werden will:

1. Keine Fremd- und Fachwörter ohne Erklärung. Wer über kein Fachwissen verfügt – wie die meisten Bürger – und wer keine akademische Ausbildung hat, steht vor einer kaum überwindbaren Hürde.

2. Keine Wortungetüme, also lange Wörter, und zu viele Hauptwörter; sie erschweren das Lesen und blockieren das Verstehen.

3. Keine langen Sätze; Bürger, die sonst wenig lesen, haben Schwierigkeiten, lange Sätze zu zertrümmern.

4. Keine mit Informationen überfrachteten Sätze; Ein Satz soll möglichst nur eine Information vermitteln.

Wer diese Regeln nicht befolgt, wird vom Bürger bestraft: Er liest nicht weiter.

Die übrigen Folgen der Parteiprogramm-Serie:

Rekord – Der längste Satz im Wahlprogramm
Liquiditätsanforderungen – Wortungetüme in Wahlprogrammen
Wer hat das längste Wort im Wahlprogramm? Mehr als 42 Buchstaben?

Thüringer Allgemeine 23. September 2013

Seiten:«1234»

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