Alle Artikel der Rubrik "G 16 Lexikon unbrauchbarer Wörter"

Geschliffenes Deutsch: Journalisten und ihr Sprachgefühl (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 23. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Was ist richtig: Das Dorf an der Grenze wurde geschleift? Oder: Das Dorf wurde geschliffen? Fügen wir diese Frage einem Test hinzu, den man sinnvoll zum Trauer-Jubiläum der Rechtschreibreform veröffentlichen könnte.

Leser beschweren sich gerne über Schludrigkeiten in unserer Zeitung, die in der Eile des journalistischen Geschäfts geschehen und die auch der Gegenleser in der Fülle der Wörter überliest. Freuen wir uns über jeden Leser, der wirklich schwere Fehler entdeckt – wie den Weimarer Professor Siegfried Freitag. Er fragt in einem Brief an die Thüringer Allgemeine: „Ist hier Sprachgefühl ein wenig verloren gegangen?“, und meint schwere Fehler  in meiner Serie „Die Grenze“.

Dort habe ich Dörfer „geschliffen“ statt „geschleift“. Aber richtig ist: Diamant werden geschliffen, Dörfer werden geschleift. Selbst der Duden achtet noch auf den Unterschied, obwohl er sich bei anderen Wörtern schon beugt wie bei „gewinkt“ (richtig) und „gewunken“.

Dörfer, die geschliffen wurden, wären nicht vom Boden der DDR verschwunden, sondern hätten den Wettbewerb zum schönsten Dorf gewonnen: Solch feinen, aber gewichtigen Unterschied nennt Professor Freitag zu Recht „Sprachgefühl“.

Brigitte Grunert schreibt die Sprach-Kolumne des Berliner „Tagesspiegel“. Sie entdeckte, wie die Grünen-Politikerin Claudia Roth im Wahlkampf auch übers Schleifen stolperte – und das Gegenteil von dem sagte, was sie sagen wollte. Als sie sich über den Plan der FDP aufregte, Steuern zu senken, meinte sie:

„Wenn es eine Entlastung der Besserverdienenden geben soll, dann kann das nur heißen, dass der Sozialstaat geschliffen werden soll.“

Das bedeutete: Der Sozialstaat wird leuchten wie ein geschliffener Diamant, wenn Politiker die Steuern senken. Das Gegenteil wollte sie sagen.

Wahrscheinlich werden ihre Anhänger „geschleift“ verstanden haben. Gleichwohl stimmt, was die Berliner Sprachexpertin Grunert schreibt: „Ach, geschliffenes Deutsch ist rar, aber es lohnt sich, die Bemühungen darum nicht schleifen zu lassen.“

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 24. August 2015

Alternativlose Bullenscheiße: Der „Friedhof der Wörter“ über den Bullshit

Geschrieben am 1. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Das Wort sollten Sie sich merken, auch wenn es ein englisches ist: Bullshit. Das Wort zählt nicht zur Hochsprache und bedeutet wörtlich: Bullenscheiße. Weil Bullenscheiße einfach zu vulgär ist, bleiben wir beim Bullshit.

Die meisten Kandidaten für unseren „Friedhof der Wörter“ sind Bullshit:

  • Wenn die Kanzlerin „alternativlos“ sagt: Bullshit!
  • Wenn ein Verkäufer den Geländewagen als „umweltfreundlich“ anpreist: Bullshit!
  • Wenn „natürliches Aroma“ aus Kräuter, Blüten und Dill erzeugt wird: Bullshit!
  • Wenn ein Biomarkt „anthroposophisches Gemüse, geerntet bei Vollmond“ verkauft: Bullshit!

Es gibt sogar einen Bullshit-Philosophen: Der Amerikaner Harry Frankfurt. Er warnt: Bullshit richtet mehr Schaden an als Lügen. Er schaut sich vor allem bei Politikern und Werbetextern um, in Behörden, bei Esoterikern – und bei Journalisten.

Schon Rudolf Augstein, der Gründer des Magazins „Spiegel“, war sicher: Mindestens ein Artikel jeder Ausgabe ist unverständlich. Ob unsere Zeitung eine Ausnahme macht?

In Konferenzen versuchen Redakteure, die Augstein-Regel zu durchbrechen. Aber es ist ein schier aussichtsloser Kampf: In jeder Konferenz gibt es einen, der Unsinn geschrieben hat, aber all seine Intelligenz einsetzt, ihn zu rechtfertigen. Ich bin sicher, dass dies in Unternehms-, Gewerkschafts- und Schulkonferenzen ähnlich ist, in Kabinetts-Sitzungen erst recht.

„Wir können wirklich nicht ohne Wahrheit leben“, schreibt der Bullshit-Philosoph Frankfurt. Aber ohne Bullshit werden wir nicht auskommen, meinen Tobias Hürter und Max Rauner, die Journalisten, die ein schönes Buch geschrieben haben: „Schluss mit dem Bullshit. Auf der Suche nach dem verlorenen Verstand“.

Sie raten: Lacht über den Bullshit! Stellt die Bullshitter bloß! Nehmt sie nicht ernst! Aber auch die Gegner des Bullshits kommen nicht ohne ihn aus – etwa bei einem netten Gespräch, einem Smalltalk. Dafür gibt es übrigens schon Computer-Programme, die automatisch Bullshit erfinden und Tiefgang vortäuschen.

In einem eigenen Kapitel gehen Hürter und Rauner auch auf  Medien und Bullshit ein: Da gibt es den Boulevard, ohne den viele Menschen nicht auskommen – auch wenn sie das, was dort geschrieben steht, nicht glauben, erst recht ihm  nicht vertrauen. Im Gegensatz zu bunten Blättern halten Hürter und Rauner die Bildzeitung für gefährlich:

Im Kern ist zumeist was Wahres dran, aber es ist bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Die Bild-Macher haben die Kunst perfektioniert, haarscharf an der Grenze vom Bullshit zur Lüge zu bleiben.

Selbst seriöse Medien geraten schnell in ein bullshitträchtiges Milieu, weil sie Nachrichten immer weiterdrehen müssen, „notfalls mit Gewalt“, weil nichts Neues zu berichten ist. Sie bedienen Sterotypen, bieten Schnipsel an statt der „ganzen Wahrheit“, befriedigen ein „tiefes menschliches Bedürfnis“: „Die Neugier. Nach der Lektüre hat man das beruhigende Gefühl, Bescheid zu wissen.“

Sie heben Rolf Dobelli hervor, den Schweizer-Bestseller-Autor, der keine Zeitungen mehr liest, diese „billigen Zuckerbonbons für den Geist“, sondern nur noch Bücher.

Man kann die Medien durchaus als Bullshit-Fabriken bezeichnen, schließen die Journalisten – und drehen sich noch einmal um die eigene Achse und zitieren den Philosophen Alain de Botton, der Bullshit preist, weil er Geschichten erzählt, „die uns mitfühlen lassen“, eben die berühmten Geschichten, die man sich seit altersher am Lagerfeuer erzählt.“Glamour ist nicht bloß lustig und albern,er ist eine wichtige Kraft des gesellschaftlichen Wandels“, sagt de Botton.

Wem dieser Medien-Bullshit zu dünn erscheint, wandere aus auf eine intellektuelle Spielwiese, die Hürter und Rauner erwähnen: Die Philosophen Mail (Philosophers‘ Mail), ein Blog, in dem Philosophen ein Jahr lang Nachrichten philosophisch erzählten (auf englisch). Den Blog haben sie beendet und beginnen einen noch aufregenderen: Das Buch des Lebens (www.thebookoflife.org) mit den sechs Kapiteln Kapitalismus, Arbeit (darin zum Beispiel: Die Leiden der Führung), Beziehungen („How to start having sex again„), Ich, Kultur und Curriculum. Lesen!

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Das Bullshit-Buch erscheint im Piper-Verlag: 304 Seiten, 16.99 Euro

Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 3. August 2015 (hier erweiterte Fassung)

 

 

 

 

Wen schändet ein „Kinderschänder“? Polemik gegen einen unsäglichen Begriff (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

Screenshot_reinhold_gall_tweetDer Innenminister in Baden-Württemberg ist SPD-Mitglied und Anhänger der Vorratsdaten-Speicherung. Als seine Partei auf einem Konvent über die Vorratsdaten diskutierte, schrieb er einen Tweet:

Ich verzichte gerne auf vermeintliche Freiheitsrechte wenn wir einen Kinderschänder überführen.“ (Das Komma fehlt im Original)

Immer wieder gehe ich an einem parkenden Auto vorbei, das auf der Heckscheibe propagiert:

Todesstrafe für Kinderschänder

„Kinderschänder“ ist ein Wort, das Neonazis und die NPD gerne gebrauchen; sie fangen damit auch Bürger, die weder braun sind noch NPD-Wähler, aber Gewalt gegen Kinder verurteilen (und wer tut das nicht?). Was bedeutet aber der Begriff „Kinderschänder“?

Er erinnert an einen Begriff wie „Rassenschande“ aus dem Wörterbuch der Nationalsozialisten. Der „Rassenschänder“ wie der „Kinderschänder“ sind zwiespältige Begriffe: Beide bringen Schande über den Schänder – und über den Geschändeten. Wer ein Kind „schändet“, liefert es der Schande aus; es ist befleckt – womöglich gemeinsam mit der Familie. Neben dem Leid steht auch noch der Verlust des Ansehens, der soziale Abstieg.

Zudem suggeriert der Begriff: Das Opfer der Vergewaltigung hat sich nicht gewehrt, es vielleicht sogar provoziert, es ließ sich schänden und gehört somit nicht mehr zum ehrenwerten Teil der Gesellschaft. Das Opfer wird zum zweifachen, zum ewigen Opfer

Der Blogger Sascha Lobo meint: Wer den menschenfeindlichen Begriff „Kinderschänder“ benutzt, nimmt „ein Sitzbad im braunen Schlammwasser hinter dem rechten Rand“. Ein Innenminister, der den NPD-Begriff nutzt, sei „unwürdig in einer Demokratie“.
„Um wie Könige zu prahlen, schänden kleine Wütriche ihr armes Land“, schrieb der Dichter Hölderlin in einem Gedicht. Wir brauchen „schänden“ nicht, wir können von „vergewaltigen“ oder „misshandeln“ sprechen. „Kinderschänder“ sollten wir schnell und geräuschlos auf dem Friedhof der Wörter beerdigen.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 29. Juni 2015 (geplant)

Das „Blabla“ der Politiker: Von Vorratsdatenspeicherung und Infrastrukturabgabe (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 21. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

In guten Zeiten gehen die Menschen in den Supermarkt und bekommen alles, was sie brauchen. In schlechten Zeiten legen sich die Menschen einen Vorrat an: Das ist klug, sagen wir, und hören den Geschichten unserer Groß- und Urgroßeltern zu, wenn sie aus den Jahren nach dem Krieg erzählen.

Wenn Politiker von Vorrats-Daten sprechen, die sie speichern, meinen sie nichts Gutes: Sie greifen nach der Freiheit der Bürger und vermuten, dass alle irgendwann etwas Böses tun. Würden sie das Gesetz aber ein Anti-Freiheitsgesetz nennen, spürten die Bürger genau das Ungemach.

„Infrastrukturabgabe“ ist auch ein Nebelwort. Politiker nennen so die Maut, also eine Steuer, die wir – früher oder später – für die Benutzung der Straßen zahlen müssen, die schon mit unserem Geld gebaut worden sind.

Vorratsdatenspeicherung und Infrastrukturabgabe sind zwei Beispiele für die Flucht in politische Sprachspiele. Von dieser Flucht sprach schon Helmut Kohl, als er vor dreißig Jahren die Frankfurter Buchmesse eröffnete: „Da werden Begriffe besetzt, umgedeutet, konstruiert, aufgebläht, demontiert.“ Diese Einsicht hinderte weder ihn noch seine Nachfolger, diese Spiele zu spielen.

Heiner Geißler, kein Freund Kohls, sondern nur ein Parteifreund, sprach vom „Blabla“ mancher Politiker – und schloss uns Journalisten gleich mit ein; er forderte: „Die Wahrheit muss deutlich gesagt werden.“

Nun ist das Gegenteil der politischen Wahrheit nicht die Lüge, sie ist selten. Wer lügt, den erwischen die Kollegen, richten einen Untersuchungsausschuss ein oder verlangen den Rücktritt. Das Gegenteil der politischen Wahrheit ist der Nebel, der uns an der freien Sicht auf die Wirklichkeit hindert.

Fordern wir also: Politiker, sprecht die Wahrheit! Ja, hören wir das Echo. Aber wenn es darauf ankommt, also bei Wahlen, Parteitagen und ähnlichen Wahrheits-Kongressen, gewinnt meist der, der im Nebel die beste Sicht hat – und Helmut Kohl folgt: „Der Kampf um Worte gerät zum Machtkampf.“

Im vergangenen Bundes-Wahlkampf war es Peer Steinbrück, der den Nebel mied, klare Positionen bezog – aber sprach, als fühle er sich im Kühlschrank wohl. Der Dresdner Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth hat während des vergangenen Bundes-Wahlkampfs in einer detaillierten Analyse die Reden Merkels und Steinbrücks verglichen: Steinbrück verzichtete auf den Nebel, aber auch auf Emotionen; Merkel nutzte die Emotionen und den Nebel.

Wir schimpfen also auf den Nebel und lassen uns doch gern von ihm einlullen.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 22. Juni 2015; erweiterte Fassung

 

Gender, die Kirche und die Sprache: Das Mikrofon ist eine Frau (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 5. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

Evangelische Kirchentage sind Seismografen der Gesellschaft: Wo müssen wir bald ein Erdbeben erwarten? Wo bebt es schon – aber wir haben es noch nicht gespürt?

Vor allem das Beben zwischen Mann und Frau ist meist auf Kirchentagen zu fühlen. „Wer hat Angst vor Gender?“ lautete denn auch der Titel einer Debatte, an der laut Programm ein „Frl.“ teilnahm und eine Professorin für „Gendersensible Soziale Arbeit“.

Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kirchentags – so die gendergerechte Sprache – war die Frage eine rhetorische. Für die Mehrzahl unserer Leser sei erklärt:

Gender, ein englisches Wort, meint, stark vereinfacht: Ist die soziale Gleichheit von Frau und Mann überall verwirklicht? Mit Energie stürzt sich die Genderforschung himmlisch gern auf die Sprache und vermutet den Mann als Urheber von Wörtern, die für die Ungleichheit verantwortlich ist.

Also – warum sind Gott und Mensch männlich, aber Ziege und Ameise weiblich und Kind, Krokodil und Mikrofon eine Sache? Der Kirchentag machte Schluss mit der Ungleichheit und  baute auch sprachlich Eine Welt.

Im Programm ist auf Seite 12 zu lesen:

„Die Teilnehmenden des Kirchentages sind eingeladen, mitzureden und ihre Meinung deutlich zu machen: über Anwältinnen und Anwälte des Publikums und über Saalmikrofoninnen und -mikrofone.“

Nun kann sich das Mikrofon nicht dagegen wehren, weiblich zu werden. Aber der gendersensible Luther, der Meister der Sprache,  würde wettern, so wie er über Lehrer und Mönche wetterte, die die Sprache verdorben hatten: „Die Leute wurden zu Bestien und haben beinahe die natürliche Vernunft verloren.“

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Thüringer Allgemeine, 8. Juni 2015, Friedhof der Wörter

„Mein lieber Schwan!“ – Warum Lorenz Maroldt zu Recht einen der Deutschen Lokaljournalistenpreise gewinnt (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 21. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

Die Poesie aus den Schreibstuben der Politik ist ein beliebtes Thema auf dem Friedhof der Wörter. Wie vernebeln wir die Wahrheit! So dürfte der Auftrag in den Kommunikations-Abteilungen lauten – in denen alles geschieht außer Kommunikation

Die einfallsreichsten Nebel-Poeten sitzen in Berlin. Lorenz Maroldt, der Chefredakteur des Tagesspiegel, hat gerade einen der Lokaljournalisten-Preise bekommen für seinen täglichen Newsletter „Checkpoint“ – das ist ein Nachrichten-Brief -, in dem er Tag für Tag seine Funde präsentiert wie zum Beispiel einen Text, der für die Baudirektorin Lüscher geschrieben wurde.

Der Umbau der Staatsoper wird teurer und teurer und immer noch teurer. Und wie begründet die Baudirektorin die Geldvernichtung?

„Die Optimierungsvorschläge und Einsparungsvorschläge wurden in der Regel nach ihrer Machtbarkeit und Sinnhaftigkeit unter Wahrung der Sanierungsziele auf breiter Ebene unter Einbeziehung des Bedarfsträgers und des Nutzers nach sorgfältiger Prüfung entschieden.“

„Machtbarkeit“ ist kein Verschreiber in dieser Kolumne, sondern einer im Original, sozusagen ein Freudscher Verschreiber.

Was ist typisch für die Verwaltungs-Poesie, mit dem gut bezahlte Beamte die Bürger quälen? Ein 31-Wörter-Satz mit 12 Substantiven und einem Verb und einigen Verben, die in Hauptwörter verwandelt wurden, zum Beispiel: vorschlagen in „Vorschläge“, einbeziehen in „Einbeziehung“ oder prüfen in „Prüfung“.

Der Sinn der Nebelwörter? Den gibt es nicht. Dafür sucht die Verzweiflung einen Satz, der selbst nach dreimaligem Lesen unverständlich bleibt. Man kann ihn noch öfter lesen: Er wabert und wabert und kann vom Klügsten nicht enträtselt werden.

Lorenz Maroldt, der kluge Redakteur, kommentiert mit einem 6-Wörter-Satz aus Wagners Lohengrin: „Nun sei bedankt, mein lieber Schwan!” Den Satz muss man auch nicht verstehen, aber er ist immerhin kurz und schön.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 26. Mai 2015

Der Platz im Leben – Ein „Friedhof der Wörter“ über Kreative und Sitzenbleiber

Geschrieben am 17. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

In der DDR wurden Sie platziert, in den USA werden Sie immer noch platziert ebenso wie bei uns in teuren, beliebten oder überfüllten Restaurants. Wer die DDR nicht mehr kennt, die USA und teure Restaurants noch nicht, dem sei erklärt:

Sie können sich nicht einfach an einen freien Tisch setzen, vielmehr müssen Sie warten, bis Ihnen ein Platz zugewiesen wird (oder nicht). War die Zuweisung erfolgreich, dann haben Sie Ihren Platz gefunden.

Und wie ist es mit dem Platz in Leben? Wer weist den zu? Die Berliner Bildungs-Senatorin Sandra Scheeres hat das „Sprachlerntagebuch“ erfunden, in dem Eltern zum Beispiel auf die Frage antworten: „Wie reagiert Ihr Kind auf ein Nein von Ihnen?“; oder in dem das Kind aufschreibt: „Was ich in meiner Kita überhaupt nicht mag.“

Im Vorwort zu dem Tagebuch schreibt die Senatorin an die Eltern: „Sie wollen das Beste für Ihr Kind: Es soll glücklich und erfolgreich werden und seinen Platz im Leben finden.“ Also wird in Berlin der Platz nicht vergeben, sondern wird von jedem, der glücklich werden will, im Irrgarten von Kita und Schule gefunden.

Und wenn mein Kind seinen Platz gefunden hat: Bleibt es dann ein Leben lang sitzen? Lässt es sich die Speisekarte des Lebens bringen und sucht sein Lieblingsessen aus? Und wer räumt den Tisch ab?

Der Platz im Leben – er ist nur ein Sprachbild, aber ein verräterisches: Es zeigt uns das Leben nicht als langen Lauf zu stets neuen Orten, gespeist aus Neugier und Phantasie, sondern als kurzen Lauf.

Wer sich selbst sucht und seinen Platz findet, der bleibt sitzen: Er erledigt seine Arbeit und sich selbst. Alle anderen sind „kreativ“, um ein Modewort recht zu nutzen: Am Ursprung des Worts steht das Lateinische „creare“, also erschaffen – so wie es Gott mit der Welt getan hat.

„Wie werde ich kreativ?“ Mit Seminaren dieser Art lässt sich viel Geld verdienen. Dabei ist die Antwort leicht zu geben: Genieße, unentwegt Schöpfer Deiner Welt zu sein!

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 18. Mai 2015

Ein Mord ist keine Hinrichtung – Der Kampf um Worte und der Terrorismus (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 30. April 2015 von Paul-Josef Raue.
„Mediendialog“ über Terrorismus und Journalismus in  München: Juri Durkot, ein Journalist aus Lemberg in der Ukraine, erzählt von Manipulationen und Verschwörungs-Theorien; von Redakteuren, die auf Todeslisten stehen; von inszenierten Video-Morden oder wirklichen; von Reportern aus dem Westen des Landes, die nicht mehr im Osten arbeiten dürfen, und lokalen Reportern im Osten, die nur schreiben können, wenn sie sich der Propaganda unterwerfen.
Und er berichtet vom Kampf um Worte:
> Das russische Staatsfernsehen spricht von der „Bürgerwehr“, die den Donbass beherrscht, das Donez-Kohlebecken im Osten.
> Deutsche Zeitungen bevorzugen „Rebellen“: Ein romantischer Begriff, der zudem besser auf einen kleinen Kreis von Kämpfern passte statt für eine gerüstete Armee.
> Andere schreiben von „Separatisten“: Ein meist positiv besetzter Begriff, den wir auch für Katalanen und Schotten nehmen.
Wechseln wir den Schauplatz:  Terroristen, beispielsweise in Arabien, kämpfen nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten. Wir fallen darauf  rein, wenn wir eine Mörderbande wie  „IS“ einen „Staat“ nennen, einen Mord eine „Hinrichtung“, einen Mörder einen „Henker“ und eine Serie von Morden „Kriegsverbrechen“, die vor den Internationalen Gerichtshof gehört.
Moderne Terroristen foltern und töten wie im Mittelalter, aber nutzen souverän das Internet samt sozialen Netzwerken für ihre Propaganda – und nicht selten Journalisten, die ihre Wörter übernehmen und kruden Botschaften verbreiten.
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Thüringer Allgemeine,  4. Mai 2015

Nach dem Airbus-Absturz: Sehnsucht nach Betroffenheit (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 2. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Ein Flugzeug stürzt ab, dabei sind viele Opfer aus Deutschland. Wie reagiert  der Bundespräsident: „Mit größter Bestürzung habe ich von dem schweren Flugzeugunglück erfahren. Meine Gedanken sind bei den Familienangehörigen und Freunden der vielen Opfer. Ihnen gilt meine tief empfundene Anteilnahme.“

Es sind Worte aus dem Floskel-Repertoire: Bestürzung und Anteilnahme, alles stets groß oder größer und tief empfunden; es fehlt nur das Allerweltswort „Betroffenheit“. So oder ähnlich reagieren fast alle Politiker: Unser Vorrat an Worten für Trauer und Tod ist endlich und mittlerweile aufgebraucht. Unsere Sprache hat auch ihre Grenzen.

Offenbar meinen Politiker und Funktionäre, dass die Öffentlichkeit von ihnen Bestürzung und Betroffenheit erwartet. Dank Facebook und Twitter ahmen Tausende mittlerweile die sprachliche Hilflosigkeit unserer Politiker nach:

Gabi schreibt in Großbuchstaben: „FASSUNGSLOSIGKEIT. TRAUER“. Matthias Opdenhövel ist  auch „fassungslos“ und  Andy wünscht „Good night. Unsere Gedanken sind bei den Betroffenen des Flugs“ und fügt an „traurig, nur traurig“.

Wer braucht diese tausendfache Betroffenheit? Wer die Fassung verloren hat, sollte besser schweigen und – so er es kann – beten.

Es melden sich allerdings auch die Zyniker der Betroffenheit. Ines Pohl, die Chefredakteurin der taz twittert:

fast scheint es, als könnte Deutschland endlich die dringende Sehnsucht erfüllen, auch mal eine Katastrophe für sich zu beanspruchen.

Und ein Verwirrter verschwört sich schon: „Warum gibt man nicht zu, dass es ein missglücktes Manöver der US-Streitkräfte war???“ Und ein Pegidianer, der gern über die Lügenpresse schimpft, weiß, dass der Kopilot vorher zum Islam konvertiert ist. 

Da bleibe ich doch lieber bei unserem bestürzten Bundespräsidenten.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 7. April 2015

Mario Schattney per Facebook am 7. April um 16:04

Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen unserer Welt(erfahrung)? Ludwig Wittgensteins Postulat: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen!

Textbausteine, Satzbaukasten, Klischees: Wenn einer schreibt wie Tausende vor ihm

Geschrieben am 3. Februar 2015 von Paul-Josef Raue.

Als die Zeitung noch im Bleisatz hergestellt wurde, stellten Techniker aus Papier-Fotos Druckplatten her, die Klischees; ein Klischee konnte, auch im Buchdruck, tausendfach genutzt werden. Wer vor dreißig Jahren das Wort „Klischee“ nutzte, hatte also ein reales Bild im Kopf. Wer von den Jüngeren „Klischee“ gebraucht, kennt meist nur noch den übertragenen Sinn: Abgegriffene Wörter oder Wendungen, in der Regel im abwertenden Sinn.

Lorenz Maroldt, Chefredakteur des Tagesspiegel, nutzt in seinem formidablen Newsletter „Checkpoint“ den Begriff „Satzbaukasten“, auch ein Bild aus der alten Druckersprache des Bleisatzes. Als Beispiel nennt er den BZ-Kolumnisten Ulrich Nußbaum mit seiner Kolumne, aus der er zitiert:

> „Mächtig auf den Senkel“,
> es „tickt die Uhr“,
> der „Kapitän muss auf die Brücke“,
> da zittert die Politik (fragt sich nur, vor was, wirft Maroldt ein).
Und als Klimax: „Wer Schultoiletten zur Chefsache macht, der kann bei Olympia nicht kneifen“. Maroldt kommentiert: „Zum Start (der Olympia-Kolumne) ein Griff ins Klo.“

Klischee, Satzbaukasten – und noch ein dritter Begriff für abgegriffene und damit nichtssagende Wendungen: Textbaustein – der moderne Begriff aus der Word-Familie. Man legt in einen Speicher Wörter und Sätze ab, die man beliebig oft nutzen kann, ohne Aufwand und meist ohne Verstand.

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