Alle Artikel der Rubrik "D. Schreiben und Redigieren"

Chefredakteure zur Rabauken-Affäre: „Post-diktatorische Unterdrücker-Mentalität“

Geschrieben am 8. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

Mein Kommentar zur Rabauken-Affäre in Mecklenburg:

Danken wir Staatsanwalt und Richterin! Sie schreiben das Drehbuch für ein Lehrstück, das gerade im Osten unserer Republik mit Pauken und Flöten aufzuführen ist: Ohne die Freiheit der Presse, die die wichtigste Freiheit der Bürger ist, bleibt unsere Demokratie nicht lebendig. Diese Freiheit steht zwar weit vorne in unserer Verfassung, aber sie muss immer wieder zum Thema werden, erkämpft und verteidigt. Aber geht es überhaupt um die Pressefreiheit? Geht es nicht einfach um einen schwachen Artikel, wie der Presserat urteilt, der sich vom Staatsanwalt als Hilfstruppe benutzen lässt?

Man kann trefflich streiten, wie unglücklich die Vermischung von Nachricht und Meinung ist, wie hoch Persönlichkeitsrechte zu hängen sind – aber in der Rabauken-Affäre geht es um einen Grundsatz: Darf ein Staatsanwalt, darf eine Richterin nach eigenem Gusto über die Presse entscheiden? Kontrolliert der Staat die Journalisten? Oder die Journalisten den Staat? Das Grundgesetz gibt eine klare Antwort. Also warten wir, wenn nicht zuvor Vernunft einkehrt, auf unser Verfassungsgericht: Sein Spruch wäre ein würdiger Schlussakt im Rabauken-Lehrstück.

Diese Version steht online beim Nordkurier, der Schluss (ab: „aber in der Rabauken-Affäre…“) stand auch in der gedruckten Ausgabe vom Samstag, 6. Juni 2015.

So kommentierten andere Chefredakteure:

Michael Bröcker, „Rheinische Post“, Düsseldorf

Die Freiheit wird selten mit einem großen Knall, sondern schrittweise und schleichend eingeschränkt. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Öffentlichkeit schnell, klar und eindeutig gegen die verwunderliche Neuinterpretation der Meinungsfreiheit durch die Staatsanwaltschaft in Neubrandenburg stellt. Die Rheinische Post steht jedenfalls an der Seite der Redaktion des Nordkurier.

Andreas Ebel, Chefredakteur „Ostsee-Zeitung“, Rostock

Armes Deutschland! In MV gehen Strafverfolgungsbehörden gegen Journalisten vor, die kritisch berichten und kommentieren. Das ist ein Skandal. Der Presse- und Meinungsfreiheit ist es zu verdanken, dass wir in Freiheit und Frieden leben. Wir Journalisten informieren, kritisieren und decken auf. Ja, das ist manchmal unbequem und tut weh. Eine gleichgeschaltete, von Behörden beeinflusste Presse wäre der Untergang der Demokratie. Sehr geehrte Vertreter der Justiz, sehr geehrte Vertreter der Landesregierung – bitte beenden Sie diesen Unsinn.

Wolfram Kiwit, Chefredakteur der „Ruhr Nachrichten“

,Rabauken in Richterroben‘ hat Lutz Schumacher seinen Kommentar überschrieben. Dem schließe ich mich gerne an. Wer im Namen einer unabhängigen Justiz die Presse- und Meinungsfreiheit mit einer post-diktatorischen Unterdrücker-Mentalität einschränken und beschneiden will, schadet der Demokratie. Untergräbt unsere Freiheit. Und ist der Richterrobe nicht würdig. Ausziehen, hinsetzen, nachdenken, schämen. Die Staatsanwaltschaft in Neubrandenburg scheint aus unserer Geschichte nichts gelernt zu haben. Ihr fehlt es offensichtlich an Demokratie-Verständnis. Der Nordkurier hingegen hat seine Wächter-Rolle verstanden. Das immerhin unterscheidet uns von ‚früher‘. Das war ein Meinungsbeitrag. Staatsanwaltliche Post bitte über den Nordkurier Briefdienst an Wolfram Kiwit.

Horst Seidenfaden, Chefredakteur „Hessisch-Niedersächsisch Allgemeine“, Kassel

Die Meinungsfreiheit, die uns das Grundgesetz garantiert, ist bisweilen für den, der sie ertragen oder gar unter ihr leiden muss, eine lästige Sache. Aber welch großartige Einrichtung stellt dieser Artikel unserer Verfassung doch für unser Leben in Freiheit und Demokratie dar. Die Medien, die täglich von ihr profitieren, pflegen sie und hegen sie – unsere Kunden, die Einwohner dieses Landes, schätzen das und nutzen die Chancen dieses Rechts in Leserbriefen, Online-Kommentaren. All das führt zu einem offenen Diskurs, der in der Regel weiter hilft.

Meinungsfreiheit ist also ein Segen, eine Säule für ein stabiles demokratisches System. Wenn Gericht und Staatsanwaltschaft abseits der Verfassung, die ja auch ihre Tätigkeit regelt, dieses Recht aushebeln, dann ist das der Versuch, einen Staat im Staate aufzubauen bzw. diesen Staat zu schädigen oder zu zerstören. Was ist also nun der eigentliche Verstoß? Freie Meinungsäußerung oder das Verbieten derselben?

Ralf Geisenhanslüke, Chefredakteur „Neue Osnabrücker Zeitung“

Warum läuten nicht bei allen Politikern und Juristen in unserem Land die Alarmglocken? Dreister und direkter kann der Angriff auf die Pressefreiheit nicht gefahren werden. Hier liegt die Vermutung nahe, dass jeder, der nicht eingreift oder sich vor die Pressefreiheit stellt, das Vorgehen gutheißt.

Michael Seidel, Chefredakteur „Schweriner Volkszeitung“

Als hätte sich die Justiz beim Wutbürgertum auf der Straße angesteckt. Die unselige Lügenpresse-Diktion, die oft eher den Boulevard oder den Diskussionsstil von Nicht-Journalisten in sozialen Medien meint, verlagert sich zusehends in Gerichtssäle, scheint mir. Journalisten konnten sich noch nie rühmen, zu einer besonders beliebten Berufsgruppe zu gehören. Lästig sind wir, stellen hartnäckig unbequeme Fragen, suchen ‚das Haar in der Suppe‘, pirschen uns notfalls durch die Hintertür wieder zum Ort des Geschehens, wenn wir zur Vordertüre rausgeflogen sind – kurzum, wir sind schon ein ziemlich unsympathischer Berufsstand. Andererseits wird von uns erwartet, dass wir den Mächtigen auf die Finger schauen und bei Fehlverhalten auch (verbal) hauen. Wir gehen mit diesem Gegensatz professionell um.

Wenn Richter und Staatsanwälte sich jetzt aber anheischig machen, das Niveau einer Zeitung bestimmen zu wollen, widerspricht dies diametral dem Grundgedanken der Pressefreiheit, die übrigens die Zulassungsfreiheit einschließt: Jeder, der das Geld dafür hat, darf ein Medium gründen – egal welcher ideologischen, politischen, weltanschaulichen oder ggf. sogar sexuellen Ausrichtung dieses Medium sein soll. Pressefreiheit bedeutet nach landläufiger Auffassung – zumindest außerhalb Mecklenburg-Vorpommerns und seit Abschaffung der Sozialistengesetze 1890 sowie dem Ende der beiden deutschen Diktaturen – dass Ausrichtung, Inhalt und Form des Presseerzeugnisses frei bestimmt werden können. Sie gilt gleichermaßen für „seriöse Presse“ wie für Boulevardmedien.

Stefan Hans Kläsener, Chefredakteur „Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag“, Flensburg

Als ich vor 25 Jahren (zu Nachwende-, aber noch DDR-Zeiten) in Mecklenburg arbeitete, hätte ich mir in den pessimistischsten Träumen nicht vorstellen können, dass es einmal so weit kommt. Zu Recht wird die so genannte Vierte Gewalt immer mal kritisiert. Wenn die Dritte sich aber an der Vierten vergreift, geht es an die Wurzeln des Grundgesetzes. Ich bin sprachlos, dass die Politik das so hinnimmt. Das wäre mal ein Betätigungsfeld für den West-Ministerpräsidenten und die Ost-Bundesministerin!

Manfred Sauerer, Chefredakteur „Mittelbayerische Zeitung“, Regensburg

Wenn schon Staatsanwaltschaften und Richter(innen) die besondere Bedeutung der Meinungsfreiheit und die Schutzwürdigkeit der Presse nicht (mehr) erkennen, bleibt eigentlich die Hoffnung auf die Politik. Die war in diesem Fall aber offenkundig vergeblich. Die Justizministerin hätte eines machen müssen: die Sache möglichst geräuschlos kassieren. Hat sie aber nicht – und nun darf ermittelt werden. Was eigentlich? Dass Lutz Schumacher Chefredakteur des Nordkurier ist? Richtig! Dass er Journalist ist? Richtig? usw.

Die Sache ist so bizarr und unglaublich, dass man sich eigentlich gar nicht vorstellen kann, Mecklenburg-Vorpommern sei Teil eines Staates mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Ist es aber – jedenfalls in der Theorie. Insofern sollte mitermittelt werden, ob hier von offiziellen Organen das Grundgesetz verletzt wird. Aber das macht hoffentlich am Ende das Bundesverfassungsgericht.

Jan Emendörfer, Chefredakteur „Leipziger Volkszeitung“, Leipzig

Ich finde den Begriff Rabauken-Jäger fast noch schmeichelhaft, wenn man dazu Synonyme wie etwa Rüpel, Flegel oder Grobian in Betracht zieht. Der Autor hätte auch vom Kadaverschänder schreiben können … Es bleibt die Frage: Haben Gerichte und Staatsanwälte in Mecklenburg-Vorpommern keine anderen Sorgen? Die Kriminalitätsstatistik mit Raub, Diebstahl, Erpressung und schlimmeren Delikten bietet eine große Angriffsfläche, an der Ermittler sich abarbeiten können. Der Versuch, eine Zeitung mundtot zu machen, muss scheitern und geht nach hinten los, wie das bundesweite Medienecho im Fall Nordkurier nun zeigt.

Aus den Kommentaren der Leser:

Haben sich die Chefredakteure gut überlegt, ob sie sich solidarisch auf die Seite von Straftätern stellen dürfen ? Nicht, daß sie vom AG Pasewalk noch als geistige Mittäter belangt werden… Den Chefredakteuren ist ohne weiteres zu bestätigen, daß sie sich im Presserecht auskennen, aber darüber hinaus wird auch noch deutlich, was sie von der Justiz (zu Recht) halten: In diesem konkreten Fall – nichts Positives. Also heißt es für die Zukunft aufzupassen, dass Bürger in Erfüllung ihrer Berufspflichten nicht noch belangt werden dafür, dass sie die Wahrheit sagen und schreiben. Denn dann sind wir wieder bei einer Gesinnungsjustiz…

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Ich kann es nicht mehr hören. Hier ist nicht die Meinungsfreiheit in Gefahr, sondern Euer Ton. Rabauke ist ein Schimpfwort. Ich kann mich noch an einen Fall im letzten Jahr erinnern, da ging es um „Frauenschläger“. Davor habt ihr immer wieder mit Häme berichtet, wenn es gegen die NPD ging. Damals ging es um „Gesinnungsextremistin“. Jetzt seid ihr selbst mal dran und siehe da, das Geschrei ist groß.

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„Man wird doch mal sagen dürfen … “ – so ist eine doppelseitige Solidaritäsbekundung heute im Nordkurier betitelt. Ich meine: Nee – „Rabauken in Richter-Roben“ darf man eben nicht „mal sagen“. Das ist schlichtweg beleidigend, und alleine deshalb nicht tolerabel. Als Rechtfertigung für eine solch geschmacklose Unverschämtheit die Meinungs- und Pressefreiheit heranzuziehen, zeigt doch nur, dass der Mann (und offensichtlich auch der ein oder andere seiner Kollegen) völlig die Bodenhaftung verloren hat. Bezüglich der Frage, ob in diesem konkreten Fall ein Straftatsbestand zu konstatieren ist, vertraue ich auf unseren Rechtsstaat. Unabhängig davon wäre eine Entschuldigung Schumachers gegenüber den „Robenträgern“ das Mindeste. Aber auch das ist eine Frage von Kinderstube und Anstand. Zumindest letzteren kann man sich erschließen und zu eigen machen – oder eben auch nicht.

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Ständig ziehen sie Leute Firmen und Personen durch den Dreck. Jetzt geht es ihnen an den Kragen, da ist alles schlimm. Ich sage: Verdammt richtig so. Die müssen doch erst Gehirn einschalten und dann schreiben. Und nicht schreiben und bei Gegenwehr jammern. Und sie jammern richtig :-))) Wie Peinlich :-)))) PS.

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Es ist schade wie einige versuchen, bei diesem brisanten Thema ihre „offene Rechnung“ mit der vermeintlichen „Lügenpresse“ zu begleichen, ohne dabei zu merken, dass es um ihre eigenen Grundrechte geht. Nein, mit einem „in den Dreck ziehen“ von Personen oder Firmen hat eine investigative, kritische Berichterstattung – wie sie täglich im Nordkurier und Uckermark Kurier passiert – nichts gemein. Im Gegensatz zu Juristen, Politikern und hinter Nicknamen versteckten Kommentatoren halten die Reporter täglich mit offenem Visier ihren Kopf hin, nicht in irgendwelchen Hinterzimmern, an Stammtischen, sondern Schwarz auf Weiß nachzulesen. Und sie bekommen diesen (ihren Kopf) auch gründlich gewaschen, wenn ihnen dabei ein Fehler passiert (und wer ist schon fehlerfrei). Nicht den Reportern geht’s bei dem aktuellen Urteil an „den Kragen“, sondern der Meinungsfreiheit und einer unabhängigen, pluralistischen Berichterstattung, die die Leserinnen und Leser zu Recht von ihrer Zeitung erwarten. „Das möchte ich lieber nicht öffentlich sagen, schon gar nicht mit meinem Namen.“ Einen Satz, den die Redakteure in der Region wieder zunehmend bei ihren Recherchen zu hören bekommen. Genau gegen diese Angst schreiben sie täglich mutig an.

Gender, die Kirche und die Sprache: Das Mikrofon ist eine Frau (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 5. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

Evangelische Kirchentage sind Seismografen der Gesellschaft: Wo müssen wir bald ein Erdbeben erwarten? Wo bebt es schon – aber wir haben es noch nicht gespürt?

Vor allem das Beben zwischen Mann und Frau ist meist auf Kirchentagen zu fühlen. „Wer hat Angst vor Gender?“ lautete denn auch der Titel einer Debatte, an der laut Programm ein „Frl.“ teilnahm und eine Professorin für „Gendersensible Soziale Arbeit“.

Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kirchentags – so die gendergerechte Sprache – war die Frage eine rhetorische. Für die Mehrzahl unserer Leser sei erklärt:

Gender, ein englisches Wort, meint, stark vereinfacht: Ist die soziale Gleichheit von Frau und Mann überall verwirklicht? Mit Energie stürzt sich die Genderforschung himmlisch gern auf die Sprache und vermutet den Mann als Urheber von Wörtern, die für die Ungleichheit verantwortlich ist.

Also – warum sind Gott und Mensch männlich, aber Ziege und Ameise weiblich und Kind, Krokodil und Mikrofon eine Sache? Der Kirchentag machte Schluss mit der Ungleichheit und  baute auch sprachlich Eine Welt.

Im Programm ist auf Seite 12 zu lesen:

„Die Teilnehmenden des Kirchentages sind eingeladen, mitzureden und ihre Meinung deutlich zu machen: über Anwältinnen und Anwälte des Publikums und über Saalmikrofoninnen und -mikrofone.“

Nun kann sich das Mikrofon nicht dagegen wehren, weiblich zu werden. Aber der gendersensible Luther, der Meister der Sprache,  würde wettern, so wie er über Lehrer und Mönche wetterte, die die Sprache verdorben hatten: „Die Leute wurden zu Bestien und haben beinahe die natürliche Vernunft verloren.“

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Thüringer Allgemeine, 8. Juni 2015, Friedhof der Wörter

„Mein lieber Schwan!“ – Warum Lorenz Maroldt zu Recht einen der Deutschen Lokaljournalistenpreise gewinnt (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 21. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

Die Poesie aus den Schreibstuben der Politik ist ein beliebtes Thema auf dem Friedhof der Wörter. Wie vernebeln wir die Wahrheit! So dürfte der Auftrag in den Kommunikations-Abteilungen lauten – in denen alles geschieht außer Kommunikation

Die einfallsreichsten Nebel-Poeten sitzen in Berlin. Lorenz Maroldt, der Chefredakteur des Tagesspiegel, hat gerade einen der Lokaljournalisten-Preise bekommen für seinen täglichen Newsletter „Checkpoint“ – das ist ein Nachrichten-Brief -, in dem er Tag für Tag seine Funde präsentiert wie zum Beispiel einen Text, der für die Baudirektorin Lüscher geschrieben wurde.

Der Umbau der Staatsoper wird teurer und teurer und immer noch teurer. Und wie begründet die Baudirektorin die Geldvernichtung?

„Die Optimierungsvorschläge und Einsparungsvorschläge wurden in der Regel nach ihrer Machtbarkeit und Sinnhaftigkeit unter Wahrung der Sanierungsziele auf breiter Ebene unter Einbeziehung des Bedarfsträgers und des Nutzers nach sorgfältiger Prüfung entschieden.“

„Machtbarkeit“ ist kein Verschreiber in dieser Kolumne, sondern einer im Original, sozusagen ein Freudscher Verschreiber.

Was ist typisch für die Verwaltungs-Poesie, mit dem gut bezahlte Beamte die Bürger quälen? Ein 31-Wörter-Satz mit 12 Substantiven und einem Verb und einigen Verben, die in Hauptwörter verwandelt wurden, zum Beispiel: vorschlagen in „Vorschläge“, einbeziehen in „Einbeziehung“ oder prüfen in „Prüfung“.

Der Sinn der Nebelwörter? Den gibt es nicht. Dafür sucht die Verzweiflung einen Satz, der selbst nach dreimaligem Lesen unverständlich bleibt. Man kann ihn noch öfter lesen: Er wabert und wabert und kann vom Klügsten nicht enträtselt werden.

Lorenz Maroldt, der kluge Redakteur, kommentiert mit einem 6-Wörter-Satz aus Wagners Lohengrin: „Nun sei bedankt, mein lieber Schwan!” Den Satz muss man auch nicht verstehen, aber er ist immerhin kurz und schön.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 26. Mai 2015

Der Platz im Leben – Ein „Friedhof der Wörter“ über Kreative und Sitzenbleiber

Geschrieben am 17. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

In der DDR wurden Sie platziert, in den USA werden Sie immer noch platziert ebenso wie bei uns in teuren, beliebten oder überfüllten Restaurants. Wer die DDR nicht mehr kennt, die USA und teure Restaurants noch nicht, dem sei erklärt:

Sie können sich nicht einfach an einen freien Tisch setzen, vielmehr müssen Sie warten, bis Ihnen ein Platz zugewiesen wird (oder nicht). War die Zuweisung erfolgreich, dann haben Sie Ihren Platz gefunden.

Und wie ist es mit dem Platz in Leben? Wer weist den zu? Die Berliner Bildungs-Senatorin Sandra Scheeres hat das „Sprachlerntagebuch“ erfunden, in dem Eltern zum Beispiel auf die Frage antworten: „Wie reagiert Ihr Kind auf ein Nein von Ihnen?“; oder in dem das Kind aufschreibt: „Was ich in meiner Kita überhaupt nicht mag.“

Im Vorwort zu dem Tagebuch schreibt die Senatorin an die Eltern: „Sie wollen das Beste für Ihr Kind: Es soll glücklich und erfolgreich werden und seinen Platz im Leben finden.“ Also wird in Berlin der Platz nicht vergeben, sondern wird von jedem, der glücklich werden will, im Irrgarten von Kita und Schule gefunden.

Und wenn mein Kind seinen Platz gefunden hat: Bleibt es dann ein Leben lang sitzen? Lässt es sich die Speisekarte des Lebens bringen und sucht sein Lieblingsessen aus? Und wer räumt den Tisch ab?

Der Platz im Leben – er ist nur ein Sprachbild, aber ein verräterisches: Es zeigt uns das Leben nicht als langen Lauf zu stets neuen Orten, gespeist aus Neugier und Phantasie, sondern als kurzen Lauf.

Wer sich selbst sucht und seinen Platz findet, der bleibt sitzen: Er erledigt seine Arbeit und sich selbst. Alle anderen sind „kreativ“, um ein Modewort recht zu nutzen: Am Ursprung des Worts steht das Lateinische „creare“, also erschaffen – so wie es Gott mit der Welt getan hat.

„Wie werde ich kreativ?“ Mit Seminaren dieser Art lässt sich viel Geld verdienen. Dabei ist die Antwort leicht zu geben: Genieße, unentwegt Schöpfer Deiner Welt zu sein!

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 18. Mai 2015

Wolf Schneider: Wie werde ich ein Sprach-Liebhaber? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 9. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

Den schönsten Heiratsantrag der Literatur schrieb Wilhelm Busch, und Wolf Schneider, der Meister der deutschen Sprache, zitiert ihn als Vorbild in seinen Memoiren:

Mädchen, sprach er, sagt mir, ob…
Und sie lächelt: Ja, Herr Knopp.

Wie alt kann einer werden, der die deutsche Sprache liebt? 90 Jahre und noch mehr – dabei jung im Kopf und immer noch auf den Beinen, wenn auch mühsamer als zuvor. Wer eine Sprach-Kolumne schreibt wie diesen „Friedhof der Wörter“, der muss Schneider zum 90. gratulieren, wenn auch einige Tage zu spät: Aber Kolumnen haben ihren Rhythmus, und das Leben hat einen anderen.

Schneider erzählt, wie ihn nicht Deutschlehrer, sondern der sprachverliebte Vater zum Liebhaber der Sprache machte: Beim Sonntagsfrühstück, die Familie komplett beisammen! Zwei Stunden tafelte und plauderte die Familie, damit sich die Mutter das Mittagessen sparen konnte. Der Vater deklamierte Heinrich Heine, Wilhelm Busch und Christian Morgenstern:

Korf erfindet eine Mittagszeitung, welche, wenn man sie gelesen hat, ist man satt.

Brunch nennen wir das lange Frühstück heute, „bransch“ gesprochen. Schneider mag keine Anglizismen, aber er mochte das Sonntagsfrühstück, und er müsste zugeben: Bransch ist viel kürzer und schöner.

Deutschlehrer mag Schneider nicht, und so erwähnt er sie in seinen Memoiren auf 447 Seiten auch nur mit einem schönen langen Satz: „Die Deutschlehrer sollten zur Kenntnis nehmen, dass man mit völlig korrektem Deutsch einen Leser verscheuchenden, Leser ohrfeigenden Unfug treiben kann.“

Nun werde ich wieder viele böse Briefe von Deutschlehrern bekommen.

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Thüringer Allgemeine, 11. Mai 2015, „Friedhof der Wörter“

Wie wird man 90? Wolf Schneider: „Ein tägliches Quantum Selbstgerechtigkeit und Schadenfreude“

Geschrieben am 6. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

„Es lag an mir, ob ich diesen Tag überleben wollte.“ Mit solch einem „Erdbeben“ beginnt Wolf Schneider seine Memoiren. „Erdbeben“ kommt in seinem Lieblingszitat vor, das jeder seiner Schüler dutzendmal gehört hat, das ihm in den Ohren klingt, wenn er zu schreiben beginnt, das er jedem weitergibt, der ein guter Journalist werden will: „Mit einem Erdbeben anfangen und dann ganz langsam steigern“, Samuel Goldwyns Forderung an seine Drehbuch-Schreiber.

Also fängt Wolf Schneider nicht mit seiner Geburt an: Die hat keiner erlebt und die ist meistens langweilig; dass man sie überlebt hat, versteht sich, denn ein Toter schreibt in der Regel keine Memoiren. Die Geburt folgt in Kapitel 32.

Der Tag des verhinderten Selbstmords, beschrieben in Kapitel 1, war der Tag der Kapitulation: Ein romantischer Abend mit „Mondlicht an einem Teich bei der alten Villa“ – und ein grübelnder Unteroffizier, der gerade 20 geworden war, und sich fragt: „Sollst du dich erschießen?“

Wolf Schneider hat es nicht getan, wovon gut vierhundert Seiten zeugen, die auf „Leben oder Tod?“ folgen. Diese Seiten müssen alle Journalisten lesen, um zu staunen, was ihnen alles nicht gelungen ist, um zu lernen, was ihnen meist schwer fällt, um sich zu ärgern und aufzuregen, was ihnen meistens nicht schwer fällt. Schneiders „Hottentotten“ ist das erste Geschichtsbuch des Journalismus in Deutschland, in dem ohne Verklärung oder Verkleisterung zu lesen ist, wie es wirklich in den Redaktionen zugegangen ist.

Wen wundert’s, wie eitel das Journalisten-Volk war und ist, zumindest in den Führungskreisen? War Wolf Schneider arrogant? Er dürfte der einzige sein, der das bestreitet: „Ich hatte mein Leben lang niemals das Gefühl, arrogant zu sein.“ Als er mit 17 vernahm, er wirke so, war er erstaunt und ratlos. Der 90-jährige Memoiren-Schreiber fragt: „Was soll man da machen?“

War Wolf Schneider nett? Die Frage könnte man mit einer Gegenfrage beantworten: Gibt es überhaupt nette Chefredakteure? Ich kenne keinen, wenigstens keinen, der lange erfolgreich war und erfolgreich bleiben will.

Henri Nannen zum Beispiel. „Ein zu großer Mann, um auch noch ein angenehmer Mensch zu sein“, stellt Schneider fest und ergänzt: „Die ganz Großen sind das nie.“ Wahrscheinlich war Nannen ein Kotzbrocken; wer ihn erleben durfte, wird es kaum bestreiten. Schneider erzählt von einer Abkanzelung unter Zeugen: Ein Redakteur gibt Nannen ein zehnseitiges Manuskript, und Nannen gibt es nach einer Minute zurück, „Ihr Manuskript taugt nichts!“

Was folgt, ist widerlich und brutal in der Form, wie es Schneider nennt, aber lehrreich für den Schreiber und alle, die zuhören:

Der Autor, entgeistert: „Aber Sie können doch die zehn Seiten unmöglich schon gelesen haben!“
Nannen: „Nein, ich habe im dritten Absatz aufgehört“
Der Redakteur: „Aber ich musste doch im dritten Satz…“
Darauf Nannen mit Donnerstimme: „Das erzählen Sie mal unseren zehn Millionen Lesern, was Sie im dritten Absatz mussten! Gehen Sie raus.“

Solche Patriarchen ohne Manieren gibt es wohl nicht mehr, solche Redaktionen wie „ein Hochdruckkessel“, den Chefredakteure lustvoll beheizen, wohl auch nicht. Den Leser mag das Gefühl beschleichen, dass der Niedergang der Magazine und Zeitungen mit dem Niedergang der Patriarchen einherging, die Unlust der Leser und die Erlahmung der Redakteure ebenso.

Nannen war für Schneider wie ein Bruder: Brillantes Handwerk, berserkerhafte Entschlossenheit. Dies permanent von allen Redakteuren zu erzwingen, bewunderte Schneider und übernahm es zur Ertüchtigung seiner Journalistenschüler. Ein Lehrgang ließ in Stein meißeln: „Qualität kommt von Qual“.

Nannen war es auch, der Schneider im „Gruner+Jahr“-Vorstand empfohlen hatte als Leiter der Journalistenschule – mit den Worten: „Der Schneider ist zwar ein Arschloch, aber er ist der Einzige, der das kann.“ Der 90-jährige Schneider kommentiert dies in der ihm eigenen Bescheidenheit: „Mit solchen Komplimenten konnte ich leben.“

Wer weitere Beispiele sucht wie die Forderung an seine Schüler „Sie werden bitte nicht krank“, der wird auf nahezu jeder Seite fündig. Und wer sich über den Schinder entsetzen sollte, wird einräumen: Erzählen kann er jedoch, der Schneider, erzählen wie kein anderer.

So ist das Geschichtsbuch zuerst ein Geschichtenbuch über eine Karriere, wie sie so nur nach dem Krieg möglich war: Redakteur – ohne Volontariat oder Uni wohlgemerkt – zuerst bei den amerikanischen Besatzern, dann bei AP, der größten Agentur der Welt, und schließlich bei der Süddeutschen Zeitung, als Autor von 167 Streiflichtern und zum guten Ende als Korrespondent in Washington.

Es folgten Henri Nannen und der Stern, die Chefredaktion der „Welt“, die ersten Bücher und schließlich die Journalistenschule: 330 Schüler, nicht wenige von ihnen Chefredakteure, Star-Reporter oder –Kolumnisten. Kein Journalist in Deutschland hat den Journalismus und die Journalisten so geprägt wie Schneider, als Lehrer und als Autor der besten Stil-Lehren, ein Nachfahre Luthers, der in der Stadt gepredigt hatte, in der Schneider geboren wurde, Erfurt.

„Ungeduld war mein Lebenselexier“, schreibt er im letzten Kapitel „Abenddämmerung“. Und – ich bin im Alter nicht gelassen geworden. Das stimmt so wenig wie die Erinnerung, in der DDR habe man die Heizung per Ventil regulieren können. Nein, sie sperrten die Fenster auf, wenn’s zu warm wurde in der Stube, und sie machen es heute noch so in Erfurt und spotten jeder Energiewende.

Das dürfte auch sein einziger Fehler sein auf gut vierhundert Seiten, die faszinierend geschrieben sind, prall und lebenssatt. Und sein Rezept, 90 Jahre alt zu werden – und im Kopf wie 50? „Ein tägliches Quantum Selbstgerechtigkeit und Schadenfreude hält mich bei vorzüglicher Gesundheit“, hatte er Peter Tamm zugerufen, dem Springer-Chef, nachdem der ihn gerade gefeuert hatte.

Nett und ein wenig gelassen geworden ist er übrigens auch, zumindest ist beides zu ahnen. Es gibt kein Leben, auch kein großes, ohne Energiewende. Heute wird Wolf Schneider 90, und alle, die ihn gelesen haben, die ihn erlebt haben, die ihn erlitten haben, die ihn noch verfluchen, werden ihn nicht vergessen. Einige knien nieder.
Wolf Schneider ist ein Erdbeben.

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kress.de zu Schneiders 90. Geburtstag am 7. Mai 2015
Seine Memoiren „Hottentotten Stottertrottel“ sind bei Rowohlt erschienen (448 Seiten, 19.95 Euro)

Ein Mord ist keine Hinrichtung – Der Kampf um Worte und der Terrorismus (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 30. April 2015 von Paul-Josef Raue.
„Mediendialog“ über Terrorismus und Journalismus in  München: Juri Durkot, ein Journalist aus Lemberg in der Ukraine, erzählt von Manipulationen und Verschwörungs-Theorien; von Redakteuren, die auf Todeslisten stehen; von inszenierten Video-Morden oder wirklichen; von Reportern aus dem Westen des Landes, die nicht mehr im Osten arbeiten dürfen, und lokalen Reportern im Osten, die nur schreiben können, wenn sie sich der Propaganda unterwerfen.
Und er berichtet vom Kampf um Worte:
> Das russische Staatsfernsehen spricht von der „Bürgerwehr“, die den Donbass beherrscht, das Donez-Kohlebecken im Osten.
> Deutsche Zeitungen bevorzugen „Rebellen“: Ein romantischer Begriff, der zudem besser auf einen kleinen Kreis von Kämpfern passte statt für eine gerüstete Armee.
> Andere schreiben von „Separatisten“: Ein meist positiv besetzter Begriff, den wir auch für Katalanen und Schotten nehmen.
Wechseln wir den Schauplatz:  Terroristen, beispielsweise in Arabien, kämpfen nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten. Wir fallen darauf  rein, wenn wir eine Mörderbande wie  „IS“ einen „Staat“ nennen, einen Mord eine „Hinrichtung“, einen Mörder einen „Henker“ und eine Serie von Morden „Kriegsverbrechen“, die vor den Internationalen Gerichtshof gehört.
Moderne Terroristen foltern und töten wie im Mittelalter, aber nutzen souverän das Internet samt sozialen Netzwerken für ihre Propaganda – und nicht selten Journalisten, die ihre Wörter übernehmen und kruden Botschaften verbreiten.
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Thüringer Allgemeine,  4. Mai 2015

Christian Krachts Rat an junge Schriftsteller und Journalisten (Zitat der Woche)

Geschrieben am 26. April 2015 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 26. April 2015 von Paul-Josef Raue in D 12 Durchsichtige Sätze.

Schreiben Sie kürzere Sätze. Lesen Sie Joseph Roth.

Ausnahmsweise keine Empfehlung von Wolf Schneider, sondern die Antwort von Christian Kracht, der vor 20 Jahren Faserland“ geschrieben hatte, auf der FAZ-Frage: „Was raten Sie denen, die heute Schriftsteller werden wollen?“

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Quelle: FAZ 25. April 2015

Mehr als ein Streit um ein Wort: „Völkermord“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 23. April 2015 von Paul-Josef Raue.

„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“, so beginnt Karl Marx sein Kommunistisches Manifest. Er hätte den Satz nicht schreiben können, wäre er den Journalisten, Wissenschaftlern und Politiker gefolgt, die proklamieren: Man kann eine komplizierte Wirklichkeit, eine komplexe Sache nicht auf einen Begriff reduzieren!

Man kann, und wir tun es immer wieder. Sicher können wir streiten und Bibliotheken füllen, was „Kommunismus“ ist und was nicht – aber für den Streit brauchen wir ein Wort und keine wissenschaftliche Abhandlung. Dies gilt für alles, was wichtig ist, umstritten, weltverändernd.

Das Argument, die Welt sei zu kompliziert für ein Wort, soll in der Regel eine Diskussion verhindern. So war es beim „Unrechtsstaat“ in Thüringen, so ist es in der aktuellen Debatte um den „Völkermord“ an den Armeniern. Wie argumentiert unser Außenminister Steinmeier aus Sorge um diplomatische Verwirrungen mit der Türkei:

Die Greuel der Vergangenheit lassen sich nicht auf einen Begriff oder den Streit um einen Begriff reduzieren.

Doch, Herr Minister – oder wollen Sie auch den Völkermord an den Juden unter diesen Satz stellen?

Wer Menschen vernichten will, die einer Religion, Abstammung oder Kultur sind, der will ein Volk vernichten. Genau dies geschah vor hundert Jahren in der heutigen Türkei. Übrigens wussten deutsche Diplomaten Bescheid und funkten ihre Berichte nach Berlin. Dort herrschte, offenbar den Mord billigend: Funkstille.

„Völkermord“ ist mehr als ein Streit um ein Wort, es ist der Versuch, Verantwortung abzuwälzen. Der Versuch unserer Regierung, sich vor der Verantwortung zu drücken, ist gottlob gescheitert. Wir wissen, zum Schrecken der Welt, was Völkermord ist.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 27. April 2015

Günter Grass und sein wohl längster Satz, gleichwohl schön und verständlich (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 16. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Günter Grass war ein Dichter, der sich immer wieder in die politischen Debatten einmischte. Dafür lobten ihn die meisten seiner Nachrufer: Seine Stimme und seine Unbeugsamkeit wird uns fehlen.

Nein, sie wird uns nicht fehlen. Warner, Unbeugsame und Wachrüttler, Querdenker und Provokateure im besten Sinne erheben in ausreichender Zahl ihre Stimme. Wer uns fehlen wird, ist der Meister des Erzählens, der Meister der deutschen Sprache: Keiner hat nach dem Krieg mehr dafür getan als Grass – und das in einer Zeit, in der die unsere Sprache Einfluss in der Welt verliert, in der Frankreich den Deutschunterricht in der Schule stark reduzieren will und selbst Deutsche keinen Spaß mehr haben sondern „fun“.

Wolf Schneider, der bald 90-jährige Sprachpapst, zitiert Grass immer wieder. Er lobt ihn für seine kurzen Sätze wie „Ilsebill salzte nach“ (im „Butt“); er lobt ihn für seine langen Sätze, die ein Meister wie Grass schreiben kann, verständlich und schön. Erliegen wir einfach der Faszination über 69 Wörter in der „Blechtrommel“: Ein Subjekt – die Großmutter – mit vielen Prädikaten, ein kurzer einleitender Nebensatz und ein langer, die Hauptsache erzählender Hauptsatz:

Als ich meinte, genug geblasen zu haben, öffnete sie die Augen nacheinander, biß mit Durchblick gewährenden, sonst fehlerlosen Schneidezähnen zu, gab das Gebiß sogleich wieder frei, hielt die halbe, noch zu heiße Kartoffel mehlig und dampfend in offener Mundhöhle und starrte mit gerundetem Blick über geblähten, Rauch und Oktoberluft ansaugenden Naslöchern den Acker entlang bis zum nahen Horizont mit den einteilenden Telegrafenstangen und dem knappen oberen Drittel des Ziegeleischornsteins.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 20. April 2015

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