Der NSA-Skandal – „Was ist der Staat anderes als eine große Hackerbande“ (Zitat der Woche)
Um Augustinus von Hippo zu paraphrasieren: Nimm die demokratische Legitimität weg – was ist der Staat dann noch anderes als eine große Hackerbande?
Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über die eigentlichen digitalen Feinde der Demokratie, über die Idee der Vorratsdatenspeicherung, die wir Rot-Grün zu verdanken hätten, und über das Ausspähen durch amerikanische und britische Geheimdienste (FAZ, 9. Juli 2013).
Das Zitat von Augustinus, aus dem dem vierten Buch des „Gottesstaats“, lautet im Original:
„Remota itaque iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia? Quia et latrocinia quid sunt nisi parva regna?“, also: „Ohne das Recht in einem Staat: Was sind Staaten anderes als große Räuberbanden? Und was sind Räuberbanden anderes als Staaten im Kleinen?“
Bitte um Nachsicht:
In der ersten Fassung stand irrtümlich „NSU-Skandal“. Es geht, selbstverständlich, um den amerikanischen Nachrichtendenst NSA (National Security Agency). Wer sich so viel mit der NSU beschäftigt wie ich, der kommt leicht zu einem Freudschen Verschreiber.
Der neue Duden: Rabaukin ist ein Vollpfosten (Friedhof der Wörter)
Der erste Duden erschien 1880, er listete knapp dreißigtausend Wörter auf. Der neue Duden erscheint in diesen Tagen, er listet fast fünf Mal so viele Wörter auf.
Der Duden wird immer dicker. Unsere Sprache entwickelt sich so völlig anders als unsere Bevölkerung: Mehr Geburten als Beerdigungen.
Immer mehr Wörter, aber immer weniger Wissen, wie unsere Wörter korrekt geschrieben werden – so lautet ein lauter werdender Vorwurf der Liebhaber der deutschen Sprache, auch in vielen Briefen an den Friedhofs-Wärter. Ob alle, die so klagen, auch alle Veränderungen kennen und verstehen?
Ob Liebhaber oder Ignorant: Testen Sie Ihr Wissen! Dies sind zwölf Wörter, die erstmals im Duden stehen: a) Was bedeuten Sie? b) Sind sie korrekt geschrieben?
1. abzippen
2. Compi
3. Enkeltrick
4. fremdvergeben
5. gentrifizieren
6. Low-Carb-Diät
7. nanoskalig
8. performant
9. Rabaukin
10. Schüttelbrot
11. Spacko
12. Vollpfosten
Das Rechtschreib-Programm markiert übrigens elf dieser zwölf Wörter als falsch oder unbekannt
Der längste Satz und die meisten Klicks
Ich freue mich, dass sich viele Journalisten um die Sprache sorgen:
– ECHO –
Meistgeklickter Link am Freitag Morgen war der bisher längste Zeitungssatz 2013. Er kommt von „FAZ“-Feuilletonisten Gerhard Stadelmaier und ist 208 Wörter lang.
journalismus-handbuch.de
Turi2, 1. Juli 2013
Lange Sätze, kurze Sätze und das Drei-Sekunden-Gesetz
Es geht nicht darum, ob Sätze lang sind oder kurz. Es geht darum, ob wir sie beim ersten Lesen leicht verstehen. Wer gelesen werden will, sollte sich darum bemühen.
Lange Sätze müssen nicht unverständlich sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch.
Lange Sätze können auch schön sein – beispielsweise in Caroline Emckes preisgekrönter Afrika-Reportage, die ich in diesem Blog gelobt habe. Sie schrieb 120 Wörter in einem Satz: Nur kurze Hauptsätze.
Kurze Sätze können unverständlich sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist gering.
Auf dem Schild vor einem Rathaus steht:
Vor vor dem Rathaus unbefugt vorfahrenden Kraftfahrzeugen wird gewarnt.“
Der Satz ist kurz, aber schwer verständlich. Dagegen sind die ersten Sätze der Bibel kurz und leicht verständlich:
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.
Wenn man die Erschaffung der Erde in kurzen Sätzen schildern kann, dann auch eine Trauerfeier in Freiburg.
Heinz W.Pahlke schreibt in seinem Sprachrand-Blog: Ein Satz mit 208 Wörtern kann zwar einen Durchschnittsleser überfordern, aber keinen Leser des FAZ-Feuilletons.
Das sieht der Psychologie-Professor Ernst Pöppel anders, und er begründet das mit wissenschaftlicher Erkenntnis:
Wir haben ermittelt, dass es in allen Bereichen, die wir untersucht haben, die merkwürdige universelle Konstante von ein paar Sekunden gibt. Wir sprechen von einem Operationsbereich von maximal zwei bis drei Sekunden, der mit menschlichem Willen nicht verlängert werden kann…
Satzkonstruktionen liegen in diesem Zeitbereich. Dieses Phänomen gilt für alle Sprachen dieser Welt, so dass wir sagen können: Diese Rhythmik ist eine universelle Konstante.
Auf die Frage, ob diese Konstante auch auf die Poesie zutreffe, antwortete der Psychologe:
Interessanterweise ja. Es gibt Ähnlichkeiten zwischen der temporalen Struktur von Gedichten und der gesprochenen Alltagssprache. Jede Verszeile ist eingebettet in das genannte Zeitfenster…
Unbewusst nutzen die Dichter den Gehirnmechanismus, um optimal Informationen abzubilden.
Dies Interview war 1998 in der Silvesterausgabe der FAZ zu lesen, als sie noch ihr großartiges Magazin beilegte.
Nach Erkenntnis des Wissenschaftlers müsste das Drei-Sekunden-Gesetz auch für FAZ-Leser gelten und nicht nur für Durchschnittsleser; mit Willenskraft allein sei dies Naturgesetz des Lesens nicht zu überlisten. Also müsste es auch für einen „wunderbar poetisch formulierten Nachruf“ gelten, wie Heinz W. Pahlke den 208-Wörter-Satz rühmt.
Der Drei-Sekunden-Regel folgen auch alle SMS-und Twitter-Autoren, die also nicht für den Untergang des Abendlands stehen. Die zehn Gebote beispielsweise passen locker in maximal zehn Tweets: „Du sollst nicht töten“ besteht gerade mal aus 21 Zeichen.
Dies sind die Regeln der Verständlichkeit:
1. Schreibe stets so, dass der Leser nicht länger als drei Sekunden braucht, um eine Information zu verstehen.
2. Ein Satz darf durchaus unbegrenzt lang sein, wenn er gut gebaut ist:
a. Er beachtet die Drei-Sekunden-Regel;
b. er ist gegliedert durch Komma, Semikolon, Doppelpunkt und Gedankenstrich;
c. er besteht aus Hauptsätzen;
d. er lässt nur wenige eingeschobene Nebensätze zu oder einen längeren Nebensatz am Ende;
e. er schiebt höchstens sieben kurze Wörter zwischen Subjekt und Prädikat („der Vater auf einem Schaukelpferd lobt…“), zwischen Artikel und Substantiv („der auf einem Schaukelpferd sitzende Vater„) sowie zwischen das zweiteilige Verb („Der Vater hat seinen gehorsamen Sohn gelobt„);
f. er nutzt wenige Ziffern und keine Klammern, es denn am Ende des Satzes (wogegen ich in dieser Aufzählung unter Punkt e verstoßen habe).
3. Journalisten schreiben so, dass ihr Text beim ersten schnellen Lesen zu verstehen ist. Alles andere überlassen sie Poeten, die für eine Minderheit schreiben wollen.
Die Deutsche Meisterschaft des längsten Satzes: 208 Wörter – Wer findet mehr?
Wir sind auf der Suche nach dem längsten Satz in diesem Jahr, der in einer Zeitung gedruckt wurde. Zur Zeit führt der Feuilletonist Gerhard Stadelmaier, der in seinem Text über die Trauerfeier von Walter Jens 208 Wörter in einem Satz unterbrachte (nach der Word-Wörterzählung):
Abgesehen davon, dass Jens im Jahr 1998 zu Mozarts „Requiem“ (KV 626) Zwischentexte, Reflexionen schrieb, die den ewigen protestantischen Aufklärer Jens und Auf-Verbesserung-der-Welt-Hoffer als doch etwas leichtfertigen Um- und Gegendeuter und Verharmloser der gewaltigen katholischen Totenmesse zeigt, die das Jüngste Gericht und die Flammen der Verdammnis und die Sühne für alle Sünden und die Gnadenlosigkeit eines Gottes beschwört, bei dem allein die unberechenbare Gnade liegt; abgesehen auch davon, dass Jens im Jahr 2006, als er zur „Reqiem“-Musik seine „Requiem“-Gedanken vortrug, plötzlich das Vermögen, etwas vorzulesen, verließ, er stockte und stotterte und sich so seine Demenz, an der er über die Jahre ohne Sprache und Gedächtnis hinweg verdämmerte, offenbarte; abgesehen auch davon, dass die Stiftskirche, in der einst die Universität Tübingen gegründet wurde und die sozusagen deren erster öffentlicher Raum war, zum Tübinger Öffentlichkeitsspieler- und Nutzer Walter Jens doch wunderbar passt: Es ist ein seltsam Empfinden, wenn jenseits aller Rhetorik und jedes Meinens und Polemisierens und Kritisierens, jedes Forschens und Ergründens und jeder Buchgelehrsamkeit ein Satz in die vollbesetzte Kirche fährt: „Liber scriptus proferetur“ (Und ein Buch wird aufgeschlagen, treu darin ist eingetragen jede Schuld auf Erdentagen), wo sich dann „solvet saeclum in favilla“ (das Weltall sich entzündet) und „quantus tremor est futurus“ (ein Graus wird sein und Zagen).
Wetten dass der Autor stolz ist auf diesen Satz? Dass er stolz ist, dass ihn nur wenige verstehen? Dass er stolz ist, dass er klüger als alle, die nur kurze Sätze schreiben?
Trotzdem taugt der Satz für jeden Volontärskurs: Wie zertrümmere ich einen Schachtelsatz?
In demselben Text findet sich auch dieser Satz – ohne Semikolon und Doppelpunkt -, der es auf 54 Wörter bringt:
Der Rhetorikprofessor, Schriftsteller, Polemiker, republikanische Redner, Sich-überall-Einmischer, Pazifist, Praeceptor, Germaniae, Akademiepräsident, Homo politicus, Essayist, Linker und Großaufklärungsgrundbesitzer scheint auf dem Zauberberg am Neckar, den er – eine Mischung aus Nathan der Weise, Vater Courage und wenigstens Worte, wenn schon nicht Wirklichkeiten verändernder Prospero – über Jahrzehnte beherrschte, doch irgendwie eine Figur respektvoll anerkannter Vergangenheit zu sein.
Wer hat das Verb im Hauptsatz entdeckt? Es ist „scheint“ – mittendrin, schlapp und unscheinbar muss es sich gegen starke Hauptwörter durchsetzen wie Polemiker, Linker und das 27-Buchstaben-Wort Großaufklärungsgrundbesitzer. Da haben wir den Anwärter auf die Meisterschaft des längsten Wortes auch schon gefunden.
Beide Sätze erschienen in „Das letzte Wort“, FAZ 18. Juni 2013.
Wer entdeckt noch längere Sätze?
Reportage-Schreiben ist wie Brot-Schneiden: „Sägen, nicht drücken“
„Schreibt so behutsam, wie meine Großmutter es für das Brotschneiden forderte: Sägen! Nicht drücken!“, lobt Carolin Emcke, Deutschlands vielleicht beste Reporterin, den SZ-Gerichtsreporter Hans Holzhaider, der den Herbert-Rhiel-Heyse-Preis gewonnen hat. In seiner Reportage „Der nackte Wahnsinn“ sägt der 66jährige Holzhaider laut Emcke langsam und rhythmisch, ohne Druck, ohne Vergeudung von Kraft und ohne Empörung.
Holzhaiders Reportage porträtiert einen Mann, der seit 18 Jahren in der geschlossenen Psychiatrie leben muss – weil er sich in der Öffentlichkeit entblößt hatte, mehr nicht. Carolin Emcke: Es ist die Geschichte eines Skandals, die ohne Skandalisierung auskommt; die Geschichte eines Menschen, der sich entblößt hat, die aber erzählt wird, ohne dass der Mensch vom Autor entblößt wird. „Eine zutiefst humanistische Haltung“, sagt Emcke.
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 19. Juni 2013
Studie: Jeder Zweite versteht keine Anglizismen
Journalisten, die ihre Leser mögen, wissen es: Vermeide Anglizismen, wenn du verstanden und gelesen werden willst! Jetzt gibt es auch einen Beweis: Über 47 Prozent haben keine oder nur geringe Kenntnisse der englischen Sprache nach einer Studie der GfK für Wall Street English. Nimmt man noch all die dazu, die mittelmäßig die englische Sprache beherrschen, dann sind es fast drei Viertel.
Es gibt also keinen Grund, Anglizismen zu nutzen – es sei denn Journalisten wollen ihre Leser nicht respektieren, wollen nur Ihresgleichen gefallen oder ihrer Faulheit nachgeben, ein verständliches deutsches Wort zu finden.
Ähnliches gilt für Politiker, die ihre Wähler nicht ernst nehmen wollen, und für Werber und Agenturen, die ihren zahlenden Kunden schaden, wenn sie mehr englische als deutsche Slogans erfinden. Also – come in and find out.
Quelle: Bild, 14. Juni 2013, Titelseite
Gespreizte Verben: Hat der Papst dementiert – oder nicht?
Eine der häßlichsten Konstruktionen in der deutschen Sprache findet sich heute auf der Titelseite der FAZ: Das gespreizte Verb. Das Verb – „dementierte“ – steht im ersten Teil des Satzes, die wesentliche Aussage – dementierte „nicht“ – erst 27 Wörter später am Ende des Satzes. Relativ lange wird der Leser in der Erwartung gehalten, der Sprecher des Papstes habe die Korruption im Vatikan dementiert; erst spät wird diese Erwartung revidiert.
Der komplette Satz lautet:
Vatikansprecher Lombardi dementierte das auf der Internetseite der chilenischen Zeitschrift „Reflexion y Liberacion“ veröffentlichte Protokoll des Gesprächs mit sechs Vorstandsmitgliedern des „Verbandes lateinamerikanischer religiöser Männer und Frauen“ (CLAR) in Rom nicht.
Die Spreizung und das mögliche Missverständnis kann der Autor leicht vermeiden, indem er sofort nach dem Verb „dementierte“ das „nicht“ einfügt: „Vatikansprecher Lombardi dementierte nicht das …“
In demselben Text findet sich die Spreizung ein zweites Mal: Ein Nebensatz beginnt mit dem Verb „erhielten“, aber erst 31 Wörter und einen weiteren Nebensatz später klärt der Autor auf: „(erhielten) neue Nahrung“. Der komplette Satz:
Mutmaßungen über homosexuelle Seilschaften in der Kurie waren vom Vatikan bisher nie kommentiert worden, doch erhielten sie im Zusammenhang mit dem weiter unter Verschluss gehaltenen Bericht der drei Kardinäle, die für den Papst Benedikt XVI. die Affäre um die von seinem Schreibtisch gestohlenen Dokumente („Vatileaks“) aufklären sollten, neue Nahrung.
Dieser komplizierte Satz lässt sich leicht entwirren:
Mutmaßungen über homosexuelle Seilschaften in der Kurie waren vom Vatikan bisher nie kommentiert worden: Sie erhielten neue Nahrung durch den Bericht der drei Kardinäle, die für Papst Benedikt XVI. die Vatileaks-Affäre aufklären sollten. Darin geht es um Dokumente, die von seinem Schreibtisch gestohlen wurden; der Bericht wird weiter unter Verschluss gehalten.
Quelle: FAZ 13.Juni 2013 „Korruption und homosexuelle Seilschaft im Vatikan“
Wörter haben eine Seele oder: Journalisten sind für die Wirkung ihrer Texte verantwortlich
Wo ist Ihr Mitgefühl?
fragt ein Leser nach der Lektüre einer Kolumne, die sich mit dem Dativ beschäftigte: Ist es richtig, in der Überschrift zu schreiben „Mädchen ertrinkt in Ententeich“ – oder muss es heißen „Mädchen ertrinkt im Ententeich“?
Der Leser weiter:
Ein zweijähriges Mädchen ist durch unglückliche Umstände ertrunken. War es nun im oder in Ententeich, das war Ihnen eine Kolumne wert. Fragen Sie mal die Familie, wie wichtig in diesem Fall der Dativ für sie ist.
Meine Antwort:
Sie haben Recht, und Sie haben auch ein Recht darauf, dass ich um Entschuldigung bitte. Zudem ärgere ich mich. Denn in meiner Kolumne „Friedhof der Wörter“, die montags auf der Kultur-Seite erscheint, schreibe ich mit einer Beharrlichkeit, die manche Deutschlehrer ebenso irritiert wie einige der Gebildeten unter unseren Lesern:
Unsere Sprache ist keine Maschine, die nach einem Takt läuft, der einmal festgelegt wurde. Unsere Sprache spiegelt unser Leben wieder, sie ist die Seele der Gesellschaft.
Es reicht also nicht, korrekt zu schreiben. Wichtiger als jeder korrekte Dativ, wichtiger als die perfekte Grammatik ist die Wirkung, die wir mit den Wörtern erzielen.
Wir sind verantwortlich dafür, dass wir korrekt schreiben, aber wir sind auch verantwortlich dafür, was wir anrichten mit den Wörtern. Wir können mit Wörtern ebenso verletzen wie mit dem Sprechen über Wörter, wie mit dem Sprechen über Regeln der Wörter und Sätze. Wörter fordern den Verstand, aber sie berühren auch unsere Seele.
Unsere Sprache ist uralt, reicht zurück in die Steinzeit des Denkens und Fühlens. Also müssen wir den Wörtern und Regeln misstrauen, den alten und erst recht den neuen. Denn die Sprache ist für die Menschen da und nicht umgekehrt.
Der Teufel trifft sich in der von Goethe ausgeschmückten Hexenküche mit Faust. Es ist dieser neugierige Mensch, der entdecken will, was sein Leben und die Welt im Innersten zusammenhält.
„So schwätzt und lehrt man ungestört“, doziert der Teufel als Sprachkritiker und fügt hinzu:
„Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“
Thüringer Allgemeine, unredigiert, 4. Mai 2013 (Leser fragen)
„Unausrottbarer Volksglaube“ oder: Wer macht die Sprache? (Friedhof der Wörter)
Auf der Leserseite ist mir ein Fehler aufgefallen, dem ich sehr häufig in der TA, aber auch anderswo begegne. ,Erstmal auf eigene Leute setzen‘, lautet eine Überschrift. Richtig müsste es heißen: ,Erst mal…‘, denn es handelt sich um die Kurzform von „,erst einmal‘, und das schreiben Sie ja auch getrennt.
So schreibt ein Leser aus Erfurt an die „lieben Zeitungsmacher“. Der Leser hat Recht, aber der Redakteur hat trotzdem keinen Fehler gemacht. Der Duden empfiehlt „erst mal“ – also eine Empfehlung, keine Regel; „erstmal“ ist möglich, eine „alternative“ Schreibweise. Zudem setzt der Duden „erstmal“ auf seine Liste der „rechtschreiblich schwierigen Wörter“.
Warum drückt sich der Duden vor einer verbindlichen Regel? Wie der Leser korrekt feststellt, ist „erst einmal“ die hochsprachliche Urform. Im Alltag neigen wir aber dazu, Wendungen aus der Hochsprache zu verkürzen. So wird aus „erst einmal“ ein „erst mal“.
Wenn das Alltagswort oft gebraucht wird, schleicht es sich in die Hochsprache, also in die Sprache der Dichter und Journalisten. An der Universität Leipzig schauen Forscher Tag für Tag in die Zeitungen und die großen Internet-Seiten: Welche Wörter werden heute am meisten benutzt? In den Jahren wuchs eine große Sammlung des deutschen Wortschatzes. Der Wettlauf zwischen „erstmal“ und „erst mal“ hat keinen eindeutigen Sieger, beide Schreibweisen kommen ähnlich oft vor.
Wolfgangs Peters‘ Hinweis auf die Logik reicht nicht hin. Unsere Sprache, die sich auch auf der Straße bildet, ist nicht immer logisch. Das verwandte Adverb „erstmals“ schreiben wir zusammen – verbindlich. Und auf der Straße holen wir zwischen „erst“ und „mal“ keine Luft. Das spricht für die Ein-Wort-Lösung. Die Ursprungsform „erst einmal“ legt die Zwei-Wörter-Lösung nahe.
Ich wage die Prognose: „Erstmal“ setzt sich durch. Das Volk und mit ihm eine ausreichend große Zahl von Journalisten wird dafür sorgen – auch wenn das „Zwiebelfisch-ABC“ des Spiegel, wo die Hohepriester der Sprache richten, zur Volksbeschimpfung greift:
Entgegen einem unausrottbaren Volksglauben wird ,erst mal‘ in zwei Wörtern geschrieben.
Thüringer Allgemeine, geplant für den 6. Mai 2013
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