Christopher Schmidt, der SZ-Sprachgewaltige, ist tot
Er pflegte eine manchmal mürrische, immer unbestechliche, auf bedauerliche Weise etwas aus der Mode gekommene Distanz.
Kann man Schöneres über einen Journalisten schreiben? Sonja Zekri ehrt so heute (2. März 2017) Christopher Schmidt, den Literaturchef der Süddeutschen Zeitung; er ist mit gerade mal 52 Jahren gestorben.
Sonja Zekri zeichnet auch das Gegenbild des abgehobenen Feuilletonisten, dem Schmidt eben nicht glich:
Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, aus seiner Nähe zu den Berühmten der Bühne, des Films, der Literatur Kapital zu schlagen, ihren Glanz auf sich abstrahlen zu lassen, ein strahlender Name hier, ein Fernsehauftritt dort, eine Whiskey-Runde nach der Vorstellung.
Schmidt war ein besonderer Journalist, ein besonders guter, mehr als ein Profi. „Viele Journalisten haben ein schwieriges Verhältnis zur Sprache, seines war obsessiv“, schreibt Sonja Zekri im Nachruf:
Seine Texte verrieten eine Sprachgewalt, die reichte, um Romane zu füllen, kein Bild war schief, gebraucht, auch nur vage bekannt. Für die Entlarvung des alltäglichen politischen, medialen oder sonstigen Sprachmülls erfand er eine eigene kleine Feuilleton-Rubrik, den „Phrasenmäher“, wo er das „Pimpen“, den „Spoiler-Alarm“ oder den „Atmenden Deckel“ in ihre Einzelteile zerlegte und wieder zusammensetzte.
Sie erinnert an sein schönstes Essay, das der schreibende Heimwerker der Schraube widmete: „Ein Lob an die Schraube – Kopf hoch!“, erschienen vor sieben Jahren. Schmidt beschreibt einen Schrauben-Laden in München:
Hier wird man gemaßregelt. Hier bemüht man sich nicht um den Kunden, hier beugen sich Gleichgesinnte über das obskure Objekt ihrer Begierde. Und Laien werden nur geduldet. Jeder Besuch im Schraubengeschäft: eine Lektion in Demut.
Das Ende des Essays taugt, wie der gesamte Text, zur Ausbildung von Redakteuren: Wie man über einem scheinbar unbedeutenden Gegenstand einen bedeutenden Artikel schreibt:
Es gehört zur spröden Poesie der Schraube, dass sie eines der wenigen Dinge ist, die unendlich sind in einer von Endlichkeiten beherrschten Welt, dass man bei ihr weiß, „um was es sich dreht“, und dass es Ozeane von Erfinderschweiß kostete, um härtesten Stahl so filigran zu formen, dass er an der Spitze ins Nichts übergeht.
Übersprungen sei hier das delikate Verhältnis zwischen der männlichen Schraube und ihrem weiblichen Gegenstück: der Mutter – wie die meisten Mutter-Sohn-Bindungen eine der wenigen perfekten Beziehungen. Aber auch, nachdem die Schraube zu ihrer heutigen Gestalt herangereift war, konnte man ihr noch zweihundert Jahre lang aus dem Weg gehen. Erst als das schwedische Möbelhaus „Ikea“ mit seinen Bausätzen das Wohnen revolutionierte, musste sich fast jeder irgendwann mit der Schraube auseinandersetzen. Denn sie öffnete den Weg in die Emanzipation.
Die instabilen Spezialschrauben von Ikea sind allerdings der Sündenfall in der Geschichte der Schraubverbindungen, und deshalb wurde Ikea zur Strafe an den Stadtrand verbannt.
Vorsicht Schmähkritik! Ein wegweisendes Urteil des Verfassungsgerichts
Wenn Richter und Staatsanwälte, Bürgermeister und Amtsträger jeder Art von Journalisten kritisiert werden, drohen sie bisweilen: Das ist Schmähkritik! Dann droht Gefahr: Bei einer Anklage wegen Schmähkritik, prüfen Richter nicht mehr, ob die Kritik unter die Meinungsfreiheit fällt. So können Richter den Artikel 5 des Grundgesetzes leicht aushebeln.
Aber offenbar macht das Bundesverfassungsgericht bei dieser Praxis nicht mehr mit, sieht sie nicht durch unser Grundgesetz gedeckt; es zieht neue Grenzen, die auch für Journalisten wichtig sind, und urteilt in einem kaum beachteten Fall:
Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit schützt nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen. Vielmehr darf Kritik auch pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen.
Im Schmähkritik-Prozess vor dem Verfassungsgericht ging es um einen Rechtsanwalt in Berlin, den das Landgericht verurteilt hatte – wegen „Schmähkritik“ an einer Staatsanwältin. Das war der Fall:
Zwischen einem Strafverteidiger und einer Staatsanwältin kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung, als sein Mandant in Haft genommen wird. Beim Telefonat mit einem Journalisten tituliert der Anwalt die Staatsanwältin eine „dahergelaufene Staatsanwältin“ und „durchgeknallte Staatsanwältin“. Das Landgericht verurteilt den Anwalt zu einer Geldstrafe von 8400 Euro.
Das Verfassungsgericht kassierte das Urteil aus Berlin: Das war eine Beleidigung, aber keine Schmähkritik. Die Verfassungsrichter gaben eine wegweisende Begründung:
Wird eine Äußerung unzutreffend als Schmähkritik eingestuft, liegt darin ein eigenständiger verfassungsrechtlicher Fehler, auch wenn die Äußerung im Ergebnis durchaus als Beleidigung bestraft werden darf.
Jedes Gericht darf künftig nicht mehr automatisch und unbegründet von „Schmähkritik“ ausgehen, wenn beispielsweise eine Amtsperson kritisiert oder beleidigt wird. Gibt es einen sachlichen Grund für die Beleidigung – wie im vorliegenden Fall – kann ein Gericht nicht mehr auf Schmähkritik setzen.
Die Verfassungsrichter spekulieren ein wenig: Hätte der Anwalt die Staatsanwältin beleidigt ohne Zusammenhang mit dem Verfahren, hätte das Gericht von Schmähkritik ausgehen können; oder hätte der Anwalt das Verfahren „nur als mutwillig gesuchten Anlass oder Vorwand genutzt, um die Staatsanwältin als solche zu diffamieren“, dann wäre es Schmähkritik. Aber um eine „Abwägung zwischen seiner Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht der Staatsanwältin“ kommt ein Gericht nicht herum, das nochmals den Fall verhandeln muss.
Einen Beleidigungs-Freibrief gibt es allerdings nicht:
Ein Anwalt ist grundsätzlich nicht berechtigt, aus Verärgerung über von ihm als falsch angesehene Maßnahmen einer Staatsanwältin oder eines Staatsanwalts diese gerade gegenüber der Presse mit Beschimpfungen zu überziehen.
Wegweisend ist das Urteil auch für Journalisten, denen Richter und Staatsanwälte gerne mit einer „Schmähkritik“-Anklage drohen. Das Verfassungsgerichts-Urteil spielt schon die entscheidende Rolle im Prozess um die Rabauken-Affäre in Mecklenburg-Vorpommern. Mit Verweis auf das Verfassungsgericht hob die dritte Instanz, das Oberlandesgericht, die Geldstrafe auf, zu der ein Reporter des Nordkurier in Neubrandenburg verurteilt worden war vom Amtsgericht Pasewalk und dem Landgericht Neubrandenburg.
In der umfangreichen Urteilsbegründung stellen die Rostocker Richter fest: Ja, „Rabaukenjäger“ ist ehrverletzend und herabsetzend – aber „feuilletonistisch-ironisierend“ gemeint und somit harmlos. Wer die Ehre eines anderen verletzt, macht sich erst strafbar, wenn er ihm die persönliche Würde abspricht, ihn als „unterwertiges Wesen“ beschreibt.
Erst recht sei der Bericht keine Schmähkritik, wie noch das Landgericht urteilte – mit der Folge, dass die Meinungsfreiheit hinter den Ehrenschutz zurücktreten musste. Die OLG-Richter beziehen sich auf das eingangs geschilderte Verfassungsgerichts-Urteil zur Schmähkritik und nennen als wesentliches Merkmal für Schmähung, „eine das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängende persönliche Kränkung. Sie wäre gegeben, wenn die Diffamierung der Person und ihre Herabsetzung im Vordergrund stünde“.
Die Richter, die sogar in Grimms Wörterbuch forschen, geben in der Begründung des Freispruchs allerdings auch zu erkennen, dass sie den Bericht nicht als gelungen ansehen: Er sei „umgangssprachlich“, Zitate stünden im Indikativ statt im Konjunktiv, „eine gewisse holzschnittartige Grobheit“ sei in der Darstellung zu entdecken ebenso wie „sprachliche Ungenauigkeit“.
Doch solch Kritik am journalistischen Stil spielt für das Urteil keine Rolle, zumal der Redakteur eines nicht versäumt hatte: Er wollte den Jäger in seiner Recherche telefonisch erreichen, aber vergeblich. Dass er nicht auf eine Stellungnahme warten konnte und aktuell berichten musste, verstehen die Richter – weil der Fall schon in den sozialen Netzwerken hochkochte.
Auf eine, gerade für Journalisten wichtige Unterscheidung weisen die Richter noch hin: Wer sich öffentlich daneben benimmt wie der Jäger, genieße weniger Schutz vor Kritik, als wenn er’s privat tue. Und eine Bundesstraße ist nun einmal öffentlich.
Das Schmähkritik-Urteil des Verfassungsgerichts dürfte auch im Fall Böhmermann eine Rolle spielen. Am 10. Februar will das Landgericht Hamburg über Erdogans Begehren entscheiden, das Royal-Gedicht komplett zu verbieten.
** Die komplette Kolumne:
Quellen:
- Bundesverfassungsgerichts-Beschluss vom 29. Juni 2016 zu Schmähkritik:1 BvR 2646/15
- OLG Rostock AZ 1 Ss 46/16 20 RR 66/16
Elbphilharmonie: Wann verliert ein Orchester seinen Namen?
Das Orchester, das heute zur Eröffnung der Elbphilharmonie spielt, heißt „Elbphilharmonie-Orchester“. Es ist das alte NDR-Orchester, das für seinen neuen Stammsitz umbenannt wird. Wenn der NDR ältere Aufnahmen des Orchesters spielt, wird es auch als „Elbphilharmonie-Orchester“ genannt – obwohl es diesen Namen erst seit einigen Monaten hat.
Wann verliert etwas seinen Namen? Ein Beispiel: Die DDR verlor ihren Namen, als sie untergegangen war: Wir nennen sie weiter DDR oder auch „die ehemalige DDR“, um ihr Ende für jedermann zu betonen.
So sind die älteren Aufnahmen des Orchesters weiter die des NDR-Orchesters, das zudem zum zweiten Mal den Namen ändert; nach dem Krieg hieß der Sender NWDR. Ein Kompromiss wäre heute: „Das NDR-Orchester, das heute Elbphilharmonie-Orchester heißt, spielt in der Aufnahme von 2005…“
Sie, die die Macht haben, neue Namen zu geben, „Sie sagen: ,Das ist das und das‘, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz“, sagte Nietzsche.
Auf älteren CD- oder Schallplatten-Aufnahmen heißt das Orchester immer noch korrekt: NDR-Sinfonieorchester. Aber vielleicht kommt noch einer auf die Idee, sie alle einzuziehen und neue Cover zu verordnen.
Feuilletonisten: Gralshüter, die nicht verstanden werden wollen
Feuilletonisten schreiben zuerst für andere Feuilletonisten, für Künstler und Kulturmanager, bisweilen auch für Theater- und Ausstellungsbesucher. Feuilletonisten bleiben unter sich, die meisten jedenfalls. In der Redaktion gelten sie als nett, aber schwierig, sie sind Außenseiter. Ein garstiges Vorurteil?
Viele Feuilletonisten stimmten zu, sie schätzen diesen Status des einsamen, aber freien Nachdenkenden, ja sie genießen ihn und wollen Lichtjahre entfernt vom Rest ihrer Redaktion wirken und schreiben. Sie kümmert es kaum, dass nur wenige Abonnenten ihre Rezensionen lesen; sie sind selbstbewusst: Wir schreiben für die wichtigen Leser!
Sie wissen, was Kultur ist, und bauen einen Gral, zu deren Hüter sie sich selbst erwählen. „Der typische deutsche Kulturredakteur möchte von Hinz und Kunz gar nicht verstanden werden“, schrieben wir im Handbuch des Journalismus.
Der weibliche Nachwuchs des Journalismus, weniger der männliche, antwortet im Bewerbungsgespräch auf die Frage nach den Vorlieben: Die Kultur, vorzugsweise. Doch Vorsicht: Die meisten Feuilletonisten schreiben in ihrer eigenen Sprache, schreiben schwer verständliche Texte – eben Tagesliteratur für Eingeweihte, die zwar auch nichts verstehen, aber das Erhabene fühlen.
Wer etwa vom großen Gerhard Stadelmaier das Schreiben lernte, der dürfte für andere Ressorts kaum mehr tauglich sein. Gerhard Stadelmaier, Professor für Theaterkritik, war oberster Theaterkritiker der FAZ, der Texte schrieb, die Germanisten in ihren Seminaren als hermetisch loben würden. Unter Seinesgleichen ist er geachtet und bewundert, auch im Ruhestand, in dem er einen Roman schrieb über die Redaktion der „Staatszeitung“, die der FAZ ähnelt, und die „Verflüssigung der Zeitung“, die an Qualität verliere und an Sprachkraft.
Jan Küveler nennt ihn in der Welt einen der „begnadesten Vertreter“, lobt ihn für seine bildkräftige Sprache, für Formulierungen wie „hirnwütiger Quecksilberbubi“ oder „zentnerschwere Langeweile“. Stadelmaier ist mehrfach preisgekrönt für seine „leichte und doch gewichtige Sprache“; vor einigen Wochen verlieh ihm in Weimar eine Stiftung, die die „Reinheit der deutschen Sprache“ pflegt, den „Deutschen Sprachpreis“.
Man könnte ihm noch einen Preis verleihen – für den längsten Satz, den wohl je ein Journalist geschrieben hat: 208 Wörter lang (nach der Word-Wörterzählung). Der rekordverdächtige Satz war schon einmal Thema in diesem Blog:
Am 17. Juni 2013 druckte die FAZ die Besprechung einer Trauerfeier im Stil einer Rezension: Walter Jens wurde in Tübingen zu Grabe getragen, und Gerhard Stadelmaier schrieb darüber. Da wenig gesprochen und viel Mozart gespielt wurde, schrieb der Kritiker über Jens‘ Beziehung zu Mozart und verlor sich dabei in einem Satz mit 208 Wörtern und fast 1500 Zeichen! Der Satz taugt für jeden Volontärskurs: Wie zertrümmere ich einen Schachtelsatz? Wer findet den Hauptsatz (in der die Hauptsache stehen soll)?
Die Mühe des Zertrümmerns dürfte allerdings vergeblich sein: Der Satz ist nicht redigierbar.
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Die komplette JOURNALISMUS!-Kolumne zum Thema: https://kress.de/news/detail/beitrag/136591-208-woerter-ein-sprachpreis-fuer-den-laengsten-satz.html
10 Regeln für ein gutes Interview: „Ich stelle hier die Fragen!“
Im Interview des Magazins Cicero mit Bodo Ramelow von der „Linken“ ist Cicero-Redakteur Christoph Seils dem Gast nicht gewachsen, der die Regie übernimmt – und die Medien kritisiert, weil sie Politiker kontrollieren:
Solange wir das nicht machen (= über Werte sprechen), halten uns Journalisten weiterhin Stöckchen hin, über die wir dann springen. Und hinterher lesen wir in der Zeitung, wie doof wir sind.
Ein Kinderspiel: Über Stöckchen springen? Die Stöckchen – das sind unbequeme Fragen von Journalisten, das ist die Kontrolle der Mächtigen im Auftrag der Bürger. Soll ein Journalist solch eine Schelte, von Ramelow harmloser formuliert als Pegidas „Lügenpresse“, unwiderfragt in einem Interview stehenlassen?
Das sind zehn Regeln für ein gelungenes Interview:
- Was die Überschrift verspricht, muss der Text halten
- Der Redakteur muss nachhaken
- Auf eine geschlossene Ja-Nein-Frage verlangt der Leser eine eindeutige Antwort
- Ein Interview braucht einen roten Faden, eine Ordnung
- Der Leser liest zuerst nur die Fragen: Die müssen genau sein, verständlich und attraktiv
- Der Journalist darf provozieren, darf des Teufels Advokat sein, aber er sollte seine Meinung hinterm Berg halten
- Ein Schachtelsatz wirft Leser aus dem Text raus – und verleitet den Gast zum Schwadronieren
- Ross und Reiter nennen – darauf muss ein Journalist bestehen
- Der Redakteur führt das Gespräch und lässt nicht zu, dass sich der Gast davon redet
- „Ich stelle hier die Fragen!“, unterbricht der Kommissar das Verhör. Das gilt auch im Interview
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Mehr in der JOURNALISMUS!-Kolumne auf kress.de:
„Schreiben ist wie eine Unterhaltung mit dem Leser“, sagt Julian Barnes
„Ich will nicht über dem Leser thronen und ihm die Welt erklären“, bekennt der britische Autor Julian Barnes. Franziska Augstein interviewte ihn für die SZ vor der Verleihung des Siegfried-Lenz-Preises.
Journalisten können von Schriftstellern lernen, erst recht wenn sie über den Journalismus zur Literatur gekommen sind wie Julian Barnes. Das ist sein Verhältnis zu den Lesern, vorbildlich für Journalisten:
Ich stelle es mir eher wie eine Unterhaltung vor: Der Leser, die Leserin und ich, wir sitzen in einem Café, und ich zeige auf die Straße: Schau mal, was glaubst du, was da los ist, haben die zwei eine Affäre? Warum trägt der da einen so bekloppten Hut? Und die Frau dort läuft mit einem Gehstock, gestern hatte sie noch keinen Stock. – Ich bin kein didaktischer Autor. Mein Verhältnis zu meinen Lesern betrachte ich als Miteinander.
Dass Schreiben nicht nur Spaß ist, belegt auch Barnes, der einräumt: Die erste Seite arbeite ich fünfzig, sechzig Mal durch. So viel Zeit dürften Journalisten mit dem ersten Satz nicht bekommen, der vergleichbar der ersten Seite eines Buchs ist – auch der erste Satz ist „ein Vertrag mit dem Leser“ so formuliert es Barnes.
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Quelle: SZ, 11. November 2016: „Die erste Seite ist der Vertrag mit dem Leser“
Das Lesen deutscher Zeitungen ist Arbeit
In Skandinavien sind die meisten Lokalzeitungen ein Fest fürs Auge, die dennoch ausreichend Futter für den Verstand bieten: Zeitungen sind aufgemacht wie Magazine mit großzügigem und frischem Layout.
Warum sind deutsche Redakteure offenbar so verschieden im Vergleich zu skandinavischen?, fragte ich Norbert Küpper, einen der wichtigsten Designer für Tageszeitungen in Deutschland:
In Deutschland ist man Journalist, weil man gerne schreibt. Man geht gerne mit Sprache um, ist sprachlich kommunikativ. Dass man auch visuell kommunikativ sein kann und viele Informationen so noch besser übermitteln kann, wird offenbar noch nicht ausreichend vermittelt. Redaktionssysteme scheinen auch zu kompliziert, um alternative Storyformen zu gestalten – jedenfalls für Redakteure.
Die Abneigung, Design zu schätzen, wurzelt tief in der deutschen Zeitungs-Geschichte und der Philosophie, wie wir Journalismus sehen. Die fünf Gründe:
- Das Lesen deutscher Zeitungen ist Arbeit. Wer seinen Verstand nutzen will, muss sich mühen. Immanuel Kant ist der Vater dieser Vermutung, er schreibt in seinem Essay „Was ist Aufklärung?“: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen gerne zeitlebens unmündig bleiben.“ Das Gegenteil der Faulheit sind Eifer und Mühe; der ideale Zeitungsleser ist also der Eifrige, der im Weinberg der Aufklärung schuftet.
- Schreiben ist Arbeit.Wolf Schneider hat die Idee festgeschrieben: Nicht der Leser muss sich plagen, um Texte zu verstehen, sondern der Journalist, um sie verständlich zu schreiben. Schneiders Idee ist zwar in vielen Köpfen, die Wirklichkeit ist meist davon entfernt: Menschen scheuen Mühe, Redakteure auch, sie überlassen den Lesern die Arbeit und nennen ihr Ergebnis „anspruchsvoll“.
- Die Welt ist wichtiger als der Nachbar. Der Typ des Generalanzeigers, der in die weite Welt schaut, ist noch immer das Ideal vieler Verleger und der meisten Chefredakteure, auch wenn fast alle Leser- und Marktforschungen das Gegenteil belegen: Das Lokale vorn! Selbst den Oberstudienrat interessiert am meisten das neue Konzept für das Stadtzentrum, auch wenn er kritisiert: Dann erfahren die Bildungsfernen nichts mehr von der Regierungskrise in Bangladesch.
- Der Leser ist nicht bereit. Der Chefredakteur, der im Wochenend-Magazin mit mehr Weißraum spielt, bekommt gleich Anrufe und Briefe von Lesern: „Bekommen Sie den Platz in der Zeitung nicht mehr gefüllt? Ich hätte da einige Anregungen“; andere drohen gleich: „Ich bezahle das Abo nicht für leere Seiten“; wieder andere empfehlen: „Schreiben Sie doch darüber ,Raum für Notizen‘, dann hat es wenigstens einen Sinn.“
- Es hat noch keiner so radikal versucht. Der Verleger fürchtet Ärger und Abo-Kündigungen; er kennt die Schilderung von Kollegen, die nach einem Relaunch von den schrecklichsten Stunden ihres Lebens berichten. Der Chefredakteur fürchtet sich vor dem Unmut seiner Redakteure, die weniger Stellen bekämen zugunsten von Layoutern und Infografikern, die er für ein Qualitäts-Layout einstellen muss.
Mehr zum skandinavischen Layout und zu „Kvinnheringen“, Europas Lokalzeitung des Jahres, die aus Nordnorwegen kommt, im Blog JOURNALISMUS! bei kress.de
Bei den Sprachpäpsten führt Wolf Schneider
Es ist nur das „Streiflicht“ und keine repräsentative Statistik: Der anonyme „Streiflicht“-Autor im katholischen Bayern sucht in der „breit aufgestellten Kultur der Papst-Metaphorik“ und findet viele Päpste in Deutschland – die Wurst-Päpste, den Dübel-Papst, Koch-Papst, Schrauben-, Wein- und Wetter-Papst, Schlager- und Nudelpapst, den Geigen-Papst und den Schwarzen Papst, aber mit ihm nähert sich der Streiflicht-Autor wieder dem Vatikan.
Auch der wichtigste der Neben-Päpste wird erwähnt, der Mitautor des Handbuch des Journalismus:
Augenblicklich führt bei den Sprachpäpsten noch Wolf Schneider, wenn auch nicht unangefochten.
Das „noch“ würden wir gerne streichen. Aber immerhin sind Schneiders Konkurrenten, die Gegen-Päpste, nicht einmal namentlich erwähnt.
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Quelle: SZ vom 20. Oktober 2016
„Wir schaffen das“: Analyse einer Sprachwissenschaftlerin
„Wir schaffen das!“ – Die Geschichte ist voll von solchen Wendungen, erzählt die Sprachwissenschaftlerin Heidrun Kämper in einem Interview mit Thomas Groß vom Mannheimer Morgen:
- Alea iacta est (der Würfel ist gefallen);
- Auch Du, mein Sohn Brutus;
- Hunde, wollt ihr ewig leben?
- Blühende Landschaften.
Wendungen bleiben lange im kollektiven Gedächtnis: „Blühende Landschaften“ wird oft noch im Osten benutzt, weil die Menschen meinen, da blühe wenig.
Wendungen verschwinden aber, so Kämper, wenn sich die Umstände veränderten und erinnert an Scheidemanns „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns diese Fessel legt?“, als die Nationalversammlung kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs den Versailler Vertrag diskutierte.
Was macht den Reiz von Merkels Wendung aus, ob positiv oder negativ genutzt?
- Das „wir“ – Kämper:
Mit dem ,wir‘ richtet sich der Appell auf eine Gemeinschaft, zu der alle gehören, einschließlich die Sprecherin. Damit soll die enthaltene Botschaft für alle akzeptabel sein. Wenn es hieße ,ich schaffe das‘, wäre ein Versprechen gegeben; wenn es hieße ,ihr schafft das‘, hätte die Kanzlerin sich selbst ausgenommen… Die fremdenfeindliche Rechte fühlt sich durch diesen Satz überfahren: In der Form eines Aussagesatzes verbietet er jeglichen Widerspruch.
- Das Deixis „das“.
Die Verwendung des „das“ ist umgangssprachlich und lässt die Aussage mit mehr Leichtigkeit daher kommen, als wenn es etwa geheißen hätte „wir schaffen die Integration“.
(Deixis ist ein Fachbegriff aus der Linguistik und bezeichnet ein Wort, das auf Personen, Zeit oder Ort verweist – wie eben das Merkelsche „das“)
- Die Ähnlichkeit mit Obamas „Yes, we can do ist“? Nein! Kämper: Obama beginnt mit einer Zustimmung und hat einen deutlich positiven Charakter. Außerdem fehlt dem Satz das Objekt.
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Ob Merkel ahnte, welche Wirkung diese Wendung bekommen würde? Wer den kompletten Wortlaut aus der Pressekonferenz am 31. August 2015 liest, bekommt Zweifel, auch wenn Merkel gerade diese Wendung wiederholt:
Und ich sage ganz einfach, Deutschland ist ein starkes Land und das Motiv, in dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das! Wir schaffen das! Und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden. Und der Bund wird alles in seiner Macht stehende tun, zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen, genau das durchzusetzen.
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Info (nach Mannheimer Morgen)
Heidrun Kämper, geboren 1954 in Westfalen und verheiratet, studierte Germanistik und Politik. Seit 1993 arbeitet sie als wissenschaftliche Angestellte des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache. Sie ist außerdem Professorin an der Universität Mannheim und seit 2014 Mitglied des Mannheimer Gemeinderats, wo sie die SPD vertritt. Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist die Wechselwirkung von Sprache, Gesellschaft und Politik. Sie leitet am IDS den Themenschwerpunkt „Sprachliche Umbrüche des 20. Jahrhunderts“ in der Fachabteilung Lexik.
Wie der AfD-Politiker Holm einen Luther-Spruch missbraucht und ans Ende denkt (Friedhof der Wörter)
„Es ist vollbracht!“, jubelte Leif-Erik Holm, der AfD-Spitzenkandidat in Mecklenburg-Vorpommern, als er vom Wahlerfolg seiner Partei hörte. „Es ist vollbracht!“ stand auf der Anzeigetafel, als Fußballer den Bundesliga-Aufstieg geschafft hatten.
Luther hat den Spruch geprägt, er gehört zu den sieben letzten Worte Christi vor seinem Tod, aufgezeichnet vom Evangelisten Johannes. In der griechischen Urfassung, die Luther übersetzte, steht ein einziges Wort. In einer Karfreitags-Predigt haben Wolfgang Huber und Rolf Wischnath eine andere Übersetzung versucht: „Vollendet!“ Oder: „Am Ziel!“ Oder: „Fertig! – Fix und fertig!“
„Es ist vollbracht“ ist auf jeden Fall kein Jubelschrei, es ist der letzte Lebenshauch vor dem Tod. Er passt nicht für aufgekratzte Politiker und Fußballer, die nach Worten suchen für ihre Begeisterung – und die den Absturz, sei es politisch oder sportlich, bestimmt nicht im Sinn haben.
So lösen sich Sprüche, die Luther prägte, von ihrem Ursprung, verlieren ihren Sinn und kehren sich sogar ins Gegenteil.
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