Eines der beliebtesten Sprachbilder von Journalisten: Die Reißleine ziehen
Rot-Weiß zieht die Reißleine
und trennt sich vom Trainer
Die Überschrift demonstriert die Schwierigkeit, die Sprachbilder bereiten. Das Bild „Reißleine ziehen“ ist nur denen vertraut, die mit dem Fallschirm springen: Die ziehen die Leine, um den Schirm zu öffnen – also den ungebremsten Fall zu stoppen; allerdings ist das Ziehen der Leine geplant und keine panische Reaktion (wie bei den meisten Trainerwechseln).
Weil dem Schreiber der Überschrift offenbar bewusst war, wie wenige das Bild verstehen, übersetzt er es in der zweiten Zeile, damit auch jeder weiß, was passiert ist: Der Trainer wird gefeuert. Warum nutzt der Redakteur dann ein Bild, das nichts mit Fußball zu tun hat, sondern aus einer anderen Bilder-Welt genommen wird? Es herrscht der Glaube, ein Journalist kennt Bilder, nutzt sie souverän und beweist so seine Qualität, Modernität und sein Stilgefühl. Seine Leser teilen den Glauben nicht.
Besonders beliebt ist das Reißleinen-Bild bei Kommentatoren und auf den Wirtschaftsseiten; einige Beispiele aus Tageszeitungen der vergangenen Tage (Dezember 2015):
> Wirtschaft und Reißleine:
Da muss man betriebswirtschaftlich irgendwann die Reißleine ziehen. (14. Dezember)
> Jetzt nicht mehr: Montag musste er die Reißleine ziehen und die Insolvenz beantragen (17. Dezember)
Also die Stop-Loss-Verkäufe, bei denen der halbe Planet an nahezu derselben Kursmarke ‚die Reißleine ziehen‘ will‚ (15. Dezember)
> Fußball, Trainer und die Reißleine
Für internen Eintracht-Zirkels steht bereits seit geraumer Zeit fest, dass die Verantwortlichen dann die Reißleine ziehen (14. Dezember)
> Politik und Reißleine
Mitte Juli dann entschied sich die Landesregierung dafür, die Reißleine zu ziehen und die Berufung zunächst auszusetzen. (17. Dezember)
> Kultur und Reißleine
Also musste der Chor die Reißleine ziehen. (16. Dezember)
Übrigens ziehen Fallschirmspringer nicht an einer Leine, sondern an einem Griff.
Alexander Osang über die Lust an der Recherche und die Qual des Schreibens
Ich recherchiere lieber, das Schreiben ist eher Quälerei. Schreiben bedeutet ja, die Wirklichkeit einzugrenzen, zu beschneiden. Ich recherchiere also so lang wie möglich und fange immer zu spät an zu schreiben. Ich bin ein Deadline-Schreiber, was meine Redakteure ziemlich nervt.
Alexander Osang in einem Interview mit der TLZ (Thüringische Landeszeitung), 12. Dezember 2015
Was macht eine Zeitung erfolgreich? Ein Standpunkt, nicht Nachrichten (Zitate der Woche)
Die Wahrnehmung der Richtlinienkompetenz ist für einen Chefredaktor zentral. Das ist in jeder erfolgreichen Zeitung so.
Eric Gujer (53) ist Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung. Dies sind die schönsten Sätze aus einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung:
> Im Internetzeitalter sind Nachrichten Commodities. Gratisware. Was zählt ist ein Standpunkt.
> Wie die „Zeit“ den großstädtischen deutschen Studienrat abholt, das ist hohe Kunst.
> Wir haben einen sehr gepflegten Sprachstil. Wir formulieren vielleicht nicht so umgangssprachlich wie die Blätter in Deutschland. (Zur Frage, warum auffallend oft Stilblüten in der NNZ stehen wie „Bäume wachsen nicht in den Himmel“)
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 12. Dezember 2015
Wenn Sprachbilder Fieber bekommen: Zum Heulen und Husten (Filmkritik „Bridge of Spies“)
Auf der Glienicker Brücke in Berlin tauschten Sowjets und Amerikaner im Kalten Krieg ihre Spione aus. Hier spielt Steven Spielbergs Film „Bridge of Spies“, ein angenehm altmodischer und sehenswerter Spionage-Film mit Tom Hanks in der Hauptrolle. Der Film animierte Dietmar Dath, Kulturredakteur der FAZ, zu einer Kritik, die in einem beispiellosen Bilder-Rausch endet:
Der Konflikt zwischen der sozialistischen und der bürgerlichen Staatenwelt war eine weltweite grippale Bewegungseinschränkung mit Ideenfieber, wirtschaftlichen Gelenkschmerzen und verschleimten Kommunikationskanälen. Zum Heulen und Husten, das Ganze.
Feuilletonisten sind bisweilen verhinderte Dichter, die unsere Sprache biegen und brechen: Von den sechs Hauptwörtern sind alle, vom „Konflikt“ abgesehen, zusammengesetzte Wörter – mühsam gedrechselt mit zu vielen Silben.
Die „Staatenwelt“ ist kürzer und verständlicher, wenn die „Welt“ verschwindet; die „grippale Bewegungseinschränkung“ muss man zweimal lesen, um zu ahnen, was der Dichter sagen will – und „Grippe“ hätte genügt; was das Fieber mit Ideen zu tun hat, die schmerzenden Gelenke mit der Wirtschaft und die Kommunikation mit Schleim erschließt sich nicht einmal beim zweiten Lesen.
So wäre der Satz schlank und verständlich:
Der Konflikt zwischen den sozialistischen und bürgerlichen Staaten war eine weltweite Grippe mit Fieber, Gelenkschmerzen und Schleim.
Der Satz in seiner Schlichtheit entlarvt die Analyse: Der Kalte Krieg war eben keine Krankheit, sondern Politik, also Menschenwerk. Die Bilder sind nicht nur schief, sondern auch mit Antibiotika nicht mehr zu heilen.
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Quelle: FAZ 25.11.2015
Die wandernde Wiederholung: Luther lässt die Wörter tanzen (Friedhof der Wörter)
So kennen wir Luther – als Schöpfer der deutschen Sprache und als Erfinder kräftiger und die Jahrhunderte überdauernde Ausdrücke:
Rüstzeug, Fratze, Denkzettel, wetterwendisch, Feuertaufe, Machtwort, Schandfleck, Lückenbüßer, Gewissensbisse, Lästermaul, Lockvogel, zusammengebissene Zähne, Ausposaunen und Tappen im Dunkel.
Diese Wendungen zusammengetragen hat die Übersetzerin Susanne Lange, die in Barcelona lebt. Sie rühmt den Luther für seine prächtigen Übersetzungen der Bibel, aber lenkt den Blick auch auf einen Luther, dessen Sprache recht weit entfernt ist von unserer.
Diese Erfahrung macht jeder, der die Lutherbibel im Original liest: Die Sätze sind anders konstruiert, als wir es heute tun; die Worte taumeln scheinbar wild durcheinander. Es ist keine Freude, das Original zu lesen, selbst wenn man von der altertümlichen Schreibweise absieht und manchen Wörtern, die längst begraben sind auf dem Friedhof der Wörter.
Luther bekäme heute auch manch roten Kringel als „Ausdrucksfehler“ im Deutschaufsatz. Denn verpönt ist die Wiederholung von Wörtern, die Luther schätzte:
„Pharao sprach: Ihr seid müßig, müßig seid ihr. Darum sprecht ihr: Wir wollen hinziehen und dem HERRN opfern.“
Diese Wiederholung unterläuft Luther nicht einfach, weil ihm kein anderes Wort mit ähnlichem Sinn einfällt: Die Wiederholung ist Absicht, ist mehr als ein Echo, sie gibt dem Wort des Pharaos Kraft und Macht – sie prägt sich ein.
Die Übersetzerin Susanne Lange nennt diese Wiederholung eine „wandernde Wiederholung“, weil nicht einfach das Wort verdoppelt wird, sondern wiederkehrt in einer neuen Satzkonstruktion: Im ersten Teil „Ihr seid müßig“ steht „müßig“ als Teil des Verbs am Ende, so wie wir es kennen; im zweiten Teil beginnt der Satz mit „müßig“, also einer ungewohnten Satzstellung. Wer jetzt nicht auf das „müßig“ aufmerksam geworden ist, ist ein schwacher Leser.
Sprache ist mehr als eine Ansammlung von Wörtern, Sprache hat einen Rhythmus – und nicht nur in der Literatur. Luther lässt die Wörter tanzen.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 30. November 2015
Diese Kolumne folgt dem Essay von Susanne Lange in dem Buch „Denn wir haben Deutsch“ (Matthes & Seitz-Verlag, 336 Seiten, 24.90 Euro).
Darf man Terroristen „Kämpfer“ nennen? Mehr als ein Streit um Worte
Leser empören sich über ein Wort: „IS-Kämpfer“. Sie schreiben Briefe an Redaktionen und protestieren: Das sind keine Kämpfer, das sind Terroristen.
In der Thüringer Allgemeine empfahl ein Leser aus Sömmerda:
Kämpfer ist ein zu positiver Ausdruck für eine Bande von Verbrechern und Mördern. Vor allem bei Jugendlichen wird dadurch – auch durch PC-Spiele, in denen es immer um Kämpfer geht – ein positiver Eindruck erweckt. Benutzen Sie doch bitte den zutreffenden Ausdruck „IS-Terroristen“
Interims-Chefredakteur Thomas Bärsch gibt in seiner Kolumne „Leser fragen“ dem Leser Recht, verweist aber auch auf eine Mitteilung des Oberlandesgerichts Celle in Niedersachsen; das verhandelt gegen zwei Männer, die für den IS gekämpft haben: „Die beiden Angeklagten sollen sich als Kämpfer bzw. Selbstmordattentäter zur Verfügung gestellt haben.“ Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft lautet: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
Auch die Staatsanwaltschaft kommt an dem Wort „Kämpfer“ nicht vorbei; noch schwieriger wird es, wenn wir das Verb bedenken: Welches nutzen wir statt „kämpfen“? Was schreiben wir statt „IS-Terroristen kämpfen um die Stadt XY?“
Das Substantiv „Kämpfer“ können wir noch ersetzen durch „Mörder“ oder „Terroristen“. Das Verb „kämpfen“ ist nur schwer zu ersetzen.
Der TA-Chefredakteur verweist darauf: Der „Kämpfer“ rutscht in der Wendung „IS-Kämpfer“ von einer positiven in eine negative Bedeutung. Und er schlägt den Lesern vor: „Wir in der Redaktion haben uns dennoch darauf verständigt, IS-Kämpfer möglichst sparsam zu verwenden.“
Er hätte auch noch auf Goethes „West-östlichen Divan“ verweisen können. Huri, der Wächter vor dem Paradies der Muslime, kommt dem Dichter verdächtig vor, der Einlass verlangt:
Zählst du dich zu jenen Helden? Zeige deine Wunden an, die mir Rühmliches vermelden. Und ich führe dich heran.
Und Goethe, der Humanist aus Weimar, spielt mit den Worten und lässt den Dichter antworten:
Lass mich immer nur herein: Denn ich bin ein Mensch gewesen. Und das heißt ein Kämpfer sein.
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Quelle: Thüringer Allgemeine, 21. November 2015, Leser fragen
Schäubles Flüchtlings-Lawine: Hütet Euch vor Sprachbildern aus der Natur!
Der „Fallstrick“ steht im Duden, aber kaum einer weiß noch, was ein „Fallstrick“ war: Mehrere Stricke flocht man zu einer Falle, um Ratten und Füchse zu fangen. Wenn ich heute einen Fallstrick lege, will ich einen Menschen täuschen, ihn in eine Falle locken: Die Bedeutung ist geblieben, aber es ist eines der Sprachbilder, das wir noch nutzen, ohne das Bild vor Augen zu haben.
Martin Luther kannte noch den Fallstrick und nutzte das Bild, als er die Bibel übersetzte: „Der Jüngste Tag wird wie ein Fallstrick kommen über alle auf Erden.“ Luther konnte sich darauf verlassen, dass seine Zuhörer ihn verstanden: So wie die Stricke über den Fuchs fallen, so werden sie über Dich fallen, wenn die Welt untergeht.
Journalisten und Politiker nutzen gerne Sprachbilder, um Kompliziertes verständlich zu machen.
„Lawinen kann man auslösen, wenn ein etwas unvorsichtiger Skifahrer an den Hang geht und ein bisschen Schnee bewegt. Nur wo sich die Lawine befindet, ob im Tal oder noch am Hang, das weiß ich nicht.“
Die „Berliner Zeitung“ fand die Sprachbild „schief“. Der Korrespondent des Südwestrundfunks meinte, der „Vergleich von Flüchtlingen mit einer Lawine ist daneben“ und fügte den „unpassendsten Vergleich“ hinzu: Jörg Meuthen, Co-Vorsitzender der AfD, verglich Flüchtlinge mit einem Tsunami.
Die meisten Sprachbilder aus der Natur scheitern: Lawine oder Tsunami – wie jede Naturkatastrophe – können wir nicht stoppen, ihr sind wir schutzlos ausgeliefert. Das Sprachbild suggeriert Ohnmacht. Im Gegensatz dazu steht alles, was Menschen anrichten, verändern oder dulden, in ihrer Macht: Sie müssen nur handeln wollen.
Ein Politiker, der für sein Handeln und Durchgreifen bekannt ist, sollte seinen Redenschreibern die Sprachbilder aus der Natur verbieten – und sich selbst erst recht.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 23. November 2015
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Kommentare zu Schäubles Lawinen-Vergleich:
> Neue Osnabrücker Zeitung: Bild unpassend, Sache richtig
Wolfgang Schäuble hat den Flüchtlingszustrom mit einer Lawine verglichen. Das ist zwar im Ton unpassend, in der Sache aber richtig.
> Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), Tweet: „Menschen in Not sind keine Naturkatastrophe.“
> Roland Nelles in Spiegel Online: Gefährliches Bild
Wie bitte? Wolfgang Schäuble vergleicht die Zuwanderung von Flüchtlingen mit einer Lawine? Das sind fiese Worte – aus mehreren Gründen.Wer schon einmal in den Alpen eine Lawine gesehen hat, weiß um deren zerstörerische Kraft. Lawinen wälzen alles nieder, Bäume, Häuser. Sie begraben Menschen unter sich, sie töten.
Das ist ein falsches, ein gefährliches Bild – und das sollte er als langjähriger Minister wissen. Das ist die Sprache der Aufwiegler und Fremdenfeinde. Das ist schlicht: eine Entgleisung.
> Melanie Reinisch im Kölner Stadtanzeiger: Bilder mächtiger als Wörter
Wieder einmal hat ein Politiker eine Naturkatastrophe mit Flüchtlingen verglichen. Das ist nicht neu. Oft bedienen sich Politiker – und auch Medien – bei Sprachbildern, um Themen greifbarer zu machen. Und das macht es nicht besser.
In der aktuellen Flüchtlingsdebatte spricht man häufig von Flüchtlingsflut, -strömen oder -wellen. Doch was vermittelt man mit solchen Sprachbildern? Angst. Schäuble provoziert mit solchen polemischen Äußerungen nicht nur, sondern er zeigt damit auch, dass er selbst Angst vor der Entwicklung hat. Ein Politiker sollte Menschen selbige jedoch nehmen und Ängste und Ressentiments nicht noch schüren. Bilder können eine stärkere Macht als Wörter besitzen, sie setzen sich fest in den Köpfen. Mehr Sensibilität für Sprache und Wirkung sollte nicht nur möglich, sondern zwingend sein.
> Uwe Lueb, SWR-Hauptstadt-Korrespondent: Daneben
Schäubles (CDU) Vergleich von Flüchtlingen mit einer Lawine ist daneben. Sicher, bildhafte Sprache ist gut. Aber man sollte darauf achten, was man wie sagt. An den Flüchtlingsstrom oder gar -ströme hat man sich fast schon gewöhnt. Gut ist die Wortwahl deswegen aber nicht.
Den unpassendsten Vergleich hat der Co-Vorsitzende der AfD, Jörg Meuthen, beim Landesparteitag Baden-Württemberg gewählt. Die deutsche Flüchtlingspolitik sei ungefähr so, als wolle man mit Eimern einen „Tsunami“ stoppen. Schäubles „Lawine“ kommt gleich dahinter. Sein Vergleich bestärkt nur Vorurteile von Rechtspopulisten.
Bei einer Lawine haben die Schneeflocken und Eiskristalle nämlich keine Wahl. Sie müssen mit ins Tal. Eine Lawine reißt alles mit und verschüttet, was sich nicht in Sicherheit bringt. Das tun Flüchtlinge nicht. Und sie entscheiden selbst, ob sie sich auf den gefährlichen Weg nach Europa machen. Und sie sind es, die fliehen und nicht diejenigen, die andere in die Flucht schlagen.
> Badische Neueste Nachrichten: Nicht so dramatisch
Schäubles Lawinenvergleich ist sprachlich schlecht gewählt. Falsch ist er aus seiner persönlichen Sicht aber nicht und verboten schon gar nicht… Der eigentliche Aufreger ist also nicht, dass Schäuble Flüchtlinge mit einer Lawine vergleicht, sondern dass sich Teile der Regierung so fühlen, als stünden sie vor einer.“
Wie derbe darf ein Ministerpräsident sprechen? Luther hätte kein Problem mit dem „Dreckarsch“ (Friedhof der Wörter)
Der „Dreckarsch“ steht nicht im Duden, dafür die „Drecksau“, der „Drecksack“ und das „Drecknest“. Der Duden notiert, was die Deutschen so sprechen und schreiben, und distanziert sich auf seine Weise: „derb abwertend“ schreibt er in Klammern hinter solche Dreckswörter.
Im Wörterbuch der deutschen Umgangssprache hat der „Dreckarsch“, der männlichen Geschlechts ist, schon seinen Platz gefunden: „niederträchtiger Mensch“. Im Rheinischen Wörterbuch wird der „Dreckarsch“ als „schwere ehrenrührige Beleidung“ eingestuft.
Dennoch hat der „Dreckarsch“ eine Chance, in die nächste Ausgabe des Dudens aufgenommen zu werden. Immerhin hat der thüringische Ministerpräsident das Wort zwar nicht in den Mund genommen, aber per Twitter in die Welt gesandt: Berlusconi sei „ein Oberrassist und Dreckarsch“.
Berlusconi war etwas, was der Thüringer Bodo Ramelow gerne noch werden möchte: Viermal Ministerpräsident. Noch berühmter wurde Italiens Regierungschef jedoch durch seine „Bunga Bunga Partys“, auf denen auch Minderjährige mit den Herren gespielt haben sollen.
Reicht das, um ihn einen „Dreckarsch“ zu nennen? Die Bildzeitung ist nicht gerade das Zentralorgan der feinen deutschen Sprache, aber sie griff das derbe Ramelow-Wort auf und fragte: „Darf sich ein Regierungschef so äußern?“
Fragen wir Martin Luther um Rat, immerhin eine moralische Instanz seit einem halben Jahrtausend. Luther mochte es gerne derb und schätzte das, was wir streng wissenschaftlich „Fäkalsprache“ nennen: „Ich kann dem Teufel den Hintern zeigen und ihn mit einem einzigen Furz vertreiben.“
Über den Berlusconi seiner Zeit, den mächtigen Herzog Heinrich von Braunschweig, schrieb er: „Unsinniger, wütender Tyrann, der sich voll Teufel gefressen und gesoffen hat und stinkt wie ein Teufelsdreck.“
Als ich 2012 in der Festrede beim Neujahrs-Empfang der Stadt Eisenach das Zitat vorlas, erschrak das vornehme Publikum, so dass ich schnell anfügte: „Schreibt so heute ein Journalist über einen Oberbürgermeister, Minister oder Präsidenten, ruft der den Chefredakteur oder Verleger an, droht mit dem Presserat.“
So viel Scheiß war allerdings auch den Zeitgenossen Luthers schon zuwider. Johann Pistorius schrieb 1595 in den „Anatomia Lutheri“ nach der Lektüre einer Luther-Schrift: „Wie oft Luther das Wort Dreck braucht, ist nicht vonnöten nachzulesen.“ Doch ein halbes Jahrhundert später kann sich jeder Redakteur nicht nur auf Luther, sondern auch auf einen leibhaftigen Ministerpräsidenten berufen.
Noch mehr Dreck? Das Rheinische Wörterbuch listet allein 167 Drecks-Wörter auf. Eine Auswahl?
Dreckfresse, Dreckkriecher, Drecklümmel, Dreckmaul, Dreckwühler, Dreckwutz – und sogar Dreckmike, wobei die Westerwälder dabei bestimmt nicht an den Thüringer Oppositionsführer Mike Mohring gedacht haben.
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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 16. November 2015 (erweiterte Fassung)
Helmut Schmidt: Politiker und Journalisten teilen sich das Schicksal…
Politiker und Journalisten. Das sind beides Kategorien von Menschen, denen gegenüber größte Vorsicht geboten ist: Denn beide reichen vom Beinahe-Staatsmann zu Beinahe-Verbrechern. Und der Durchschnitt bleibt Durchschnitt.
Helmut Schmidt In einer Rede vor Studenten in Freiburg, 1995, nach Spiegel Online)
Wolfram Kiwit, Chefredakteur der Ruhr-Nachrichten, hat für seinem Newsletter Zitate von Helmut Schmidt gesammelt, der am 10. November 2015 gestorben ist:
- Politiker und Journalisten teilen sich das Schicksal, dass sie heute über Dinge reden, die sie erst morgen ganz verstehen.
- Wer die Vergangenheit nicht studiert, wird ihre Irrtümer wiederholen. Wer sie studiert, wird andere Möglichkeiten zu irren finden
- Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen
- Ohne Kenntnis unserer Geschichte bleibt die Gegenwart unbegreifbar
- Großes wird auf Gipfeltreffen nicht bewegt, aber Schlimmeres verhindert
- Wer Kritik übel nimmt, hat etwas zu verbergen
- Die Eltern haben ihren Erziehungsauftrag an 25 Fernsehkanäle und die Video-Industrie abgegeben
- Ehrlichkeit verlangt nicht, dass man alles sagt, was man denkt. Ehrlichkeit verlangt nur, dass man nichts sagt, was man nicht auch denkt
- Die Toleranz ist nicht grenzenlos. Sie findet ihre Grenze, vielleicht ihre einzige Grenze, in der etwaigen Intoleranz des anderen
- Die Dummheit von Regierungen sollte niemals unterschätzt werden
- Wenn man einen Fehler gemacht hat, muss man sich als erstes fragen, ob man ihn nicht sofort zugeben soll. Leider wird einem das als Schwäche angekreidet
- Wer nicht redet, wird nicht gehört
„Sie gehen mir auf den Sack“ – Til Schweiger und Luther: Schön vulgär (Friedhof der Wörter)
Darf man sich so öffentlich empören: „Ach ey, Sie gehen mir auf den Sack – echt“? Selbst wenn Til Schweiger so schimpft: Darf man ihn in einer seriösen Zeitung zitieren? Ist das nicht Gossensprache, einfach vulgär?
Ende August ging es in der Maischberger-Talkshow um Hetze im Internet gegen Flüchtlinge. Als CSU-Generalsekretär Andreas Schweiger dem Schauspieler Til Schweiger ins Wort fiel, pöbelte der ihn an, aber entschuldigte sich am Ende der Sendung: „Mein kleiner Ausraster eben tut mir leid. Dafür möchte ich mich entschuldigen.“
Doch zurück: Dürfen wir zitieren? Ja, sagt der Chrismon-Chefredakteur Arnd Brummer, tut es auch in seiner Kolumne und nimmt sich als Verbündeten – Martin Luther. Der „hätte die Reaktion des Schauspielers schenkelklopfend erfreut: Grober Keil auf groben Klotz!“
In der Tat schaute Luther dem Volk so genau aufs Maul, dass er manch vulgäres Wort aufnahm ohne Wenn und Aber. Vulgär kommt aus dem Lateinischen: „vulgus“ meint das gemeine Volk.
Seine Kritiker, die ihm eine „Kuhstall-Sprache“ vorwarfen, nannte Luther „unverschämte Tröpfe“ oder „Rotzlöffel“, den Papst einen „Esel“. Der Schriftsteller Karl-Heinz Ott meint denn auch: „Was Diplomatie ist, weiß Luther nicht. Für seine Tiraden bewundern wir ihn. Cholerik schadet nicht, wenn man die Welt verändern will.“
Hätte also Til Schweiger in Luther Schriften geblättert, wäre ihm die Entschuldigung nicht in den Sinn gekommen: Grober Keil auf groben Klotz. Schweigers Entschuldigung hätte Luther allerdings nicht akzeptiert: Selber kann sich kein Mensch entschuldigen, also von Schuld freisprechen, dazu bedarf es schon einer höheren Macht. Wer Schuld auf sich geladen hat, kann nur um Entschuldigung und Verzeihung bitten. Und dies ist mehr als ein Streit um Worte.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 9. November 2015
Luthers Sprache ist das Thema des „Friedhofs“ im Luther-Monat November. Karl-Heinz Otts Essay „So will er’s haben, so und nicht anders“ erscheint im Sammelband „Denn wir haben Deutsch. Luthers Sprache aus dem Geist der Übersetzung“ (Matthes & Seitz-Verlag, 336 Seiten, 24.90 Euro).
Arnd Brummers Kolumne „Frohe Botschaft heißt: Menschen abholen, wo sie sind“ erschien im Oktober-Heft von Chrismon
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