Alle Artikel der Rubrik "F 20 Waschzettel und Verlautbarungen"

Der Mauerfall und die DDR-Journalisten: Aus kollektiven Agitatoren und Propagandisten werden 1989 Redakteure

Geschrieben am 7. November 2014 von Paul-Josef Raue.

„In der DDR gab es keinen echten Journalismus“, schreibt Hanno Müller, der 1989 Redakteur von Das Volk war, der SED-Bezirkszeitung in Erfurt, und der heute Reporter ist der Thüringer Allgemeine. Er blickte in der TA zurück: Was geschah in den Redaktionen in der Revolutions-Zeit und in den Jahrzehnten danach:

Spätestens ab dem Sommer des Jahres 1989 ist die DDR in Aufruhr. Die Welle der Republik-Flüchtlinge nimmt dramatische Ausmaße an. Ungarn öffnet seine Grenzen. Die westlichen Botschaften des Ostblocks füllen sich mit Ausreisewilligen. Viele kommen mit Kind und Kegel.

Die Parteizeitungen aber machen weiter wie bisher. Kaum eine Ausgabe ohne den Abdruck langer Reden über die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion oder über die DDR als Garant des Weltfriedens. Nach dem Republikgeburtstag brüstet sich der Partei- und Staatschef über zwei Seiten mit den Vorzügen des Sozialismus.

Anfangs verschweigen die DDR-Medien die Fluchtwelle komplett. Dafür hat das Thema in den West-Medien Konjunktur. Als es gar nicht mehr anders geht, wird der Massenexodus gegeißelt als „stabsmäßig organisierte Provokation“ der BRD, die sich eine völkerrechtswidrige Obhutspflicht anmaße.

Überschriften noch im September 1989 lauten „Eiskaltes Geschäft mit DDR-Bürgern“ oder „Der große Coup der BRD“. Die Flüchtlinge werden verunglimpft. Zur Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge Ende September heißt es, die Menschen hätten sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt, man sollte ihnen keine Träne nachweinen.

Die Propaganda-Texte werden in der Berliner ADN-Zentrale – dem Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst – oder in den Propaganda-Abteilungen des Politbüros formuliert. Verweigern können die Redakteure vor Ort den Abdruck nicht.

Journalisten sind Teil des Systems

Allerdings muss im Sommer 1989 in den Redaktionen noch niemand gezwungen werden, die Verlautbarungen aus Berlin zu verbreiten. In der DDR gibt es 1989 zwei Fernsehprogramme, fünf Radiostationen und die zentral gelenkte Nachrichtenagentur ADN. Dazu eine überregionale und 15 regionale SED-Zeitungen sowie 18 Zeitungen der sogenannten Blockparteien.

Unabhängige Medien – Fehlanzeige. Journalisten sind Teil des Systems. Entweder sind die Zeitungen „Organ“ einer Partei oder sie gehören parteinahen Massenorganisationen wie dem Kulturbund oder dem FDGB. Kontrolle und zentrale Steuerung werden hingenommen.

Wie die Hierarchien der SED sind auch deren Tageszeitungen regional durchgegliedert. Jeder Bezirk hat sein Partei-Organ. In Erfurt ist es „Das Volk“ mit 15 Kreisredaktionen. Das Politbüro sitzt quasi mit am Schreibtisch. Der jeweilige Kreisredakteur erhält Richtlinien aus der Kreisleitung, üblicherweise ist er dort auch selbst Mitglied. Für den Chefredakteur ist die Bezirksleitung zuständig.

Wer in der DDR Journalist wird, weiß, was ihn erwartet – die Parteimitgliedschaft eingeschlossen. Bei SED-Zeitungen gibt es für Journalisten keine Freiräume, allenfalls Spielräume. Trotzdem ist der Beruf begehrt. Hunderte bewerben sich jährlich für den Studiengang in Leipzig. Etwa 100 werden nach einem strengen Auswahlverfahren genommen. Die Motivationen sind unterschiedlich – als künftige Parteisoldaten sehen sich die wenigsten.

Sowieso rekrutiert sich der Berufsstand aus dem Teil der Bevölkerung, der das System DDR letztlich nicht infrage stellt. Wer den Sozialismus grundsätzlich ablehnt, bewirbt sich nicht in einer Redaktion – und würde auch kaum genommen.

Es ist die Mischung aus Überzeugung und Anpassung, die das Leben in der DDR möglich und durchaus erträglich macht. Man darf meckern – wenn man weiß, wann man den Mund halten muss. Journalisten verstehen sich besonders gut darauf, die eigene Meinung und das, was sie aufs Papier bringen, voneinander zu trennen. Man kann über alles reden, diskutieren, streiten, selbst in der Redaktion. Lästerhafte, zynische Reden sind Teil des kritischen Selbstverständnisses – nur schreiben darf und wird man es nicht. Gewöhnlich müssen DDR-Journalisten dazu nicht ermahnt werden – sie zensieren sich freiwillig.

Ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam

Dabei ist gerade in den Redaktionen die Verachtung für die dummen und dogmatischen Bonzen da oben groß. Man kennt sie, hört sie bei Veranstaltungen Parteichinesisch reden, weiß um ihre Doppelmoral, ihre Saufgelage oder ihr Luxusgehabe – mit ihnen anlegen wird man sich dennoch besser nicht.

Oft beruhen die Antipathien auf Gegenseitigkeit. Weil die Funktionäre ihrerseits den „Sesselfurzern an den Schreibmaschinen“, wie sie sie in ihrem rotzigen Funktionärsjargon auch gern mal öffentlich nennen, nicht trauen, pflegen Redaktionen und Parteiführungen ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam.

Auf die Frage, warum kluge Köpfe einen derart schizophrenen Zustand hinnehmen und aushalten, antworten viele Journalisten, trotz realer Unzulänglichkeiten glaube man an die Idee von der besseren Gesellschaft. Mit dem Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit, den Absurditäten und Albernheiten im Alltag geht jeder in der DDR auf individuelle Weise um.

Gleichaltrigen Freunden ist vor 1989 oft schwer zu erklären, warum man macht, was man macht und schreibt, was man schreibt. Zeitungen in der DDR sind nicht besonders sexy, gelten als langweilig und bieder. Oft sind sie auch denen peinlich, die sie machen. Wer sich anfangs noch dagegen auflehnt, resigniert schnell.

Der Beruf hat eben auch schöne Seiten. Man kommt raus, lernt Leute kennen, kann sich als Teil des gesellschaftlichen Prozesses fühlen – und schreiben. Dass bei den meisten Themen die rosarote Brille nicht fehlen darf – das kennt man so auch in anderen Bereichen der DDR.

Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen

Auch draußen in den Betrieben und auf den Feldern weiß man, was man von den Zeitungsleuten erwarten kann. Man redet offen – und mahnt zugleich: „Aber das schreibst du nicht!“. Meist bedarf es dieses Hinweises nicht. Vielfach sind die Gesprächspartner von den Parteileitungen ausgesucht. Das garantiert ein unausgesprochenes Einverständnis. Man weiß doch, wie die Dinge im Land laufen.

In wissenschaftlichen Arbeiten über den DDR-Journalismus ist später zu lesen, Leser und Zeitungsmacher befänden sich in einer Art „opportunistischen Tateinheit“: Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen.

Dabei gehörten Journalisten in der DDR zu denen, die mit am besten über den Zustand der Gesellschaft und die Machtverhältnisse im Bilde sein sollten. Sie sind täglich vor Ort, kennen interne Parteiberichte, wissen, wo der Schuh drückt. In den Zeitungen bzw. Rundfunk- oder Fernsehbeiträgen aber überwiegt die heile Welt – es sei denn, die Partei selbst meint, man könne doch mal mit dosierter Selbstkritik den Siegeszug des Sozialismus voranbringen.

Die vornehmste Aufgabe der Parteischreiber ist die Überzeugung – bei den Empfängern verfängt sie kaum. Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz spricht nach der Wende vom Zusammenhang zwischen verordneter Fehlinformation und individuellen Abwehrmechanismen. Trotzdem ist es zu DDR-Zeiten schwer – auch wegen des Papiermangels -, ein Zeitungsabonnement zu bekommen.

Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit

Als die SED-Führung Mitte der 80er die Gorbatschow-Worte Glasnost und Perestroika einschließlich ihrer deutschen Übersetzung auf den Index setzt, wird zwar zähneknirschend debattiert – trotzdem halten sich die Redaktionen an das Verbot.

Die Zensur des Sputnik 1988 oder die Verfügung, das üblicherweise groß gefeierte Festival des sowjetischen Filmes diesmal kleinzuhalten – die DDR-Zeitungen stehen bei Fuß.

Als die Weisung ausgegeben wird, dass Ausreiseantragsteller nicht auf den Zeitungsseiten vorkommen dürfen, gleichen die Redaktionen Namen ihrer Gesprächspartner mit den Dienststellen ab. Und sie vermeiden es, anonyme Menschenansammlungen von vorn zu fotografieren oder abzubilden.

Es gibt Kultur-, Wirtschafts- und Außenpolitik-Redakteure. Eine Abteilung widmet sich dem Parteileben. Journalisten sind keine homogene Masse. Jüngere denken anders als Kollegen der ersten Stunde. Unter den Redakteuren sind Feingeister, aber auch viele Betonköpfe. Manche schreiben mit dem ideologischen Holzhammer, andere mit feinerer Feder.

Beim Nachweis der eingeforderten „Parteilichkeit“ gibt es je nach Art des Mediums und des Themas durchaus Abstufungen. Sportseite, Lokales oder die Kultur bieten noch am ehesten Realitätsnähe. Auch in der Wochenendbeilage sind Begegnungen mit Funktionären selten. Wirklich abtauchen kann keiner.

Am Ende ist auch der Kommentar über die Lage in Ecuador oder der Beitrag über den Frühjahrsputz Teil der Propaganda. Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit ist nicht zu übersehen.

Es gibt keinen echten Journalismus in der Vorwende-DDR. Die sich dort Journalisten nennen, sind Parteiarbeiter und „Weiterleiter“ – „kollektive Propagandisten, Agitatoren und Organisatoren“, wie es bei Lenin heißt. Die in den Redaktionen dabeibleiben, wissen und erdulden es. Nach der Wende schämen sich nicht wenige dafür. „Aufs Ganze gesehen, war der DDR-Journalismus ein von Opportunismus, Frustration und Dummheit heimgesuchtes Geschäft“, schreibt der Spiegel 1995. Auch wenn es weh tut – man muss es wohl so sehen.

Redakteure entdecken im Wendeherbst die Wahrheit

Es sind eben diese DDR-Journalisten, die in den Wirren des Umbruchs zu echten Lebenshelfern und Begleitern des Systemwandels werden. Oftmals die gleichen Redakteure, die noch gestern Beiträge über die Feinde des DDR-Sozialismus redigieren, schreiben nun über Missstände, Amtsmissbrauch oder langjährige Tabus.

Man kann DDR-Journalisten als Wendehälse bezeichnen, muss aber auch einräumen, dass sie schnell wissen – und wohl immer wussten, wie es richtig geht. Der nahtlose Übergang funktioniert auch, weil die Menschen in den Redaktionen selbst Beteiligte am Veränderungsprozess sind. Wie die Bürger bei Foren und Demonstrationen ihren Mut entdecken und ihre Meinung offen sagen, begeistern sich nun auch Journalisten an der unzensierten Wahrheit.

Zugute kommt den Redaktionen dabei, dass sie – im Gegensatz zu anderen Gliedern des alten Herrschafts- und Propaganda-Apparates – noch gebraucht werden. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen werden zu Multiplikatoren der neuen Sprachmächtigkeit. Sie verbreiten die Ergebnisse der Diskussionsrunden und Runden Tische. Sie veröffentlichen Programme und Forderungskataloge der neuen Parteien und Gruppierungen und liefern immer neue Details aus den einstigen Hinterzimmern der Macht.

Der Zorn der Leser auf die Redakteure hält sich in Grenzen. Bei den Erfurter Donnerstagsdemonstrationen skandieren Demonstranten vor dem Volk-Hochhaus „Schreibt die Wahrheit“. In die Redaktionsstuben kommen nur wenige – sie bleiben friedlich und freundlich.

Die Medien werden zur Plattform für das neue Mitteilungsbedürfnis. Leserbriefe, bis dahin streng auf Systemkonformität geprüft oder gleich ganz in den Redaktionen verfasst, füllen nun ganze Seiten. Die Nähe zu ihren Lesern sowie zu den Themen und Gerüchten, die diese schon zu Zeiten vor der Wende bewegten, die Kenntnis der Situation in den Betrieben und Gemeinden, all das verschafft den Ostredakteuren auch einen Vorteil gegenüber neuen Westblättern, die sich zu etablieren versuchen.

Viele DDR-Journalisten tun sich schwer mit ihrer Vergangenheit

Vieles dreht sich um die Aufarbeitung bisheriger Tabus – um sowjetische Internierungslager, Grenztote und Zwangsausgesiedelte, um verborgene Waffenlager oder die Jagdgelüste der gestürzten Bonzen. Befreit zu recherchieren, macht Spaß. Die Wertschätzung der Leser auch.

Zudem entdecken die Ostzeitungen ihre neue Service- und Ratgeberfunktion. In der Noch-SED-Zeitung Das Volk erscheint das Fernsehprogramm von ARD und ZDF. Nach der Maueröffnung erfährt man aus der Zeitung, wie man in den Westen kommt, wo es Westgeld gibt und welche Grenzübergänge wann neu geöffnet werden.

Ende ’89 müssen viele Neuerungen noch gegen die Parteileitungen und teils gegen die eigenen Chefredaktionen ertrotzt werden. Noch hängen die Blätter am Tropf der Berliner Zentrale, von der Geld und Papier kommen. In den sogenannten „Herbstmonaten der Anarchie“ aber scheint inzwischen nichts mehr unmöglich zu sein. Anfang Dezember tilgt die Volkskammer die führende Rolle der SED aus der Verfassung. Damit sind auch die Tage der Gängelung der Redaktionen gezählt.

Nach der Wende tun sich viele DDR-Journalisten schwer mit ihrer Vergangenheit. „Ja, aber“ ist oft zu hören. Ja, man war systemnah, aber man habe doch auch unter der Zensur gelitten und vieles „zwischen den Zeilen“ transportiert. Auch auf die Parteischule hat es manchen nur verschlagen, weil es nicht anders ging.

Wo die Selbsterkenntnis doch stattfindet, ist sie schmerzlich. So wie bei Alexander Osang, der nach der Wende schreibt: „Die Frage, was aus mir geworden wäre, wenn sich die Ereignisse nicht überschlagen hätten, macht mich ganz krank.“

Thüringer Allgemeine, 3. November 2014

Hanno Müller ist Reporter der Thüringer Allgemeine: Er war – zusammen mit Dietmar Grosser – federführend bei der großen Serie „Treuhand in Thüringen – Wie Thüringen nach der Wende ausverkauft wurde“, die mit dem Deutschen Lokaljournalistenpreis 2013 ausgezeichnet wurde. Die Serie ist auch als Buch in der Thüringen Bibliothek des Essener Klartext-Verlags erschienen (Band 9, 13.95 Euro)

Schleichwerbung im FAZ- und SZ-Feuilleton

Geschrieben am 27. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

Am Wochenende spielen im HSV-Stadion vier Bundesligisten ein Vorbereitungs-Turnier. Auf der Seite „Fernsehen am Samstag“ im Feuilleton der FAZ ist zu lesen:

SAT.1 18.00 Fußball. Telekom Cup. Hamburger SV – VfL Wolfsburg. Live aus der Imtech Arena in Hamburg.

Die Süddeutsche Zeitung schreibt auf ihrer Seite „Programm vom Samstag“:

20.15 Fußball Telekom Cup. FC Bayern München – Borussia Mönchengladbach. Live aus der Imtech Arena in Hamburg. SAT.1 präsentiert den „TELEKOM CUP 2014″ in der Imtech Arena in Hamburg…

.
Ähnlich ist von Telekom und Imtech im Sonntags-Programm zu lesen.

Es geht auch anders: Auf der Sportseite der FAZ steht unter „Sport live im Fernsehen“ (ähnlich im SZ-Sport):

SAT.1 18 Uhr und 20.15 Uhr: Fußball, Turnier in Hamburg…“

(Fettsatz-Heraushebungen von mir)

Soll man Umfragen, die Leser nicht mögen, einfach unterdrücken? (Leser fragen)

Geschrieben am 12. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

Mehrere Leser, darunter der Leser S. empören sich über die Schlagzeile „Im Osten wird häufiger gemogelt“, die am 7. Juli der Titelseite der Thüringer Allgemeine zu lesen war: „Haltloser, die Ostdeutschen pauschal verunglimpfender und beleidigender Quatsch!“ Herr S. fragt: „Wo soll auch sonst häufiger gemogelt werden? All diese wissenschaftlichen Untersuchungen – kommen immer woher?“

In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der TA-Chefredakteur:

Sehr geehrter Herr S., in Ihrer Empörung schwingen drei Vermutungen mit:

Erstens – eine wissenschaftliche Untersuchung werde beeinflusst durch die Herkunft des Wissenschaftlers. Das ist unwahrscheinlich: Solide arbeitende Forscher, ob West oder Ost, beschreiben exakt ein Experiment und legen nachprüfbar die Ergebnisse vor. Nur stehen bei Umfragen am Ende Zahlen, nichts als Zahlen, nackte, nüchterne Zahlen.

Wie sie interpretiert werden, darüber lässt sich trefflich diskutieren. Zum Beispiel: Warum ist es verunglimpfend zu sagen: Menschen, die in einer Diktatur lebten, können besser mogeln? Jeder mag den braven Soldaten Schweijk, dessen Mogeln wir List nennen und rühmen – weil er die Richtigen vorführte. Viele Ostdeutsche stehen in der Schweijkschen Tradition, vor allem wenn sie den Mächtigen und dem Staat misstrauen – aus Erfahrung.

Zweitens, Herr S. – die Ostdeutschen seien stets die Verlierer, und so sei es überflüssig, gar beleidigend, Studien zu veröffentlichen, die für Ostdeutsche scheinbar negativ sind. Richtig ist: In den meisten Studien schneiden Ostdeutsche – ohne zu mogeln – besser ab als Westdeutsche, beispielsweise in den Pisa-Studien, in Studien über die Zahl der Depressionen, Kitas oder Impfungen gegen Grippe.

Zudem verschwinden Umfragen nicht, wenn wir sie verschweigen. So stand die Mogel-Studie auf der Titelseite der größten nationalen Zeitung, der „Süddeutschen“, dem Zentralorgan des intellektuellen Westdeutschen.

Drittens – die Ostdeutschen würden von den Westdeutschen immer noch, 25 Jahre danach, untergebuttert. Wie wäre es mit Selbstbewusstsein? Drei Gründe dafür: Die Ostdeutschen haben erfolgreich eine Revolution erkämpft; sie haben eine Diktatur in eine Demokratie verwandelt; sie haben dem schönsten Teil Deutschlands mit Stolz, Mühe und Schweijkschen Strategien seinen alten Glanz zurückgegeben – und noch ein bisschen mehr.

Es wird Zeit, stolz und selbstbewusst zu sein. Wen stört da ein bisschen Mogeln?

**

Thüringer Allgemeine, 12. Juli 2014

Flugzeug-Absturz vor Gran Canaria: Wie die Eilmeldung bei dpa in den Dienst kam – Eine Fallstudie

Geschrieben am 28. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Eigentlich gilt in Agenturen die Regel: Jede Nachricht, erst recht eine brisante, muss durch zwei unabhängige Quellen bestätigt werden. Diese Regel einzuhalten, braucht Nerven und Geduld im hektischen Echtzeit-Journalismus und in der Twitter-Anarchie.

Was passierte im Newsroom von dpa am Donnerstag kurz nach 16 Uhr? Eine Meldung der spanischen dpa-Partneragentur EFE ging ein: Der Rettungsdienst der Kanaren, unterstellt der Regionalregierung, gab bekannt, ein Passagierflugzeug sei ins Meer gestürzt; der Rettungsdienst rief alle verfügbaren Kräfte zum Einsatz auf.

Um 16.11 Uhr veröffentlichte dpa die Eilmeldung und berief sich als Quelle auf den Rettungsdienst.

Warum reichte für diese Eilmeldung eine Quelle? Für dpa-Nachrichtenchef Jens Dudziak – wie auch für andere Nachrichtenagenturen – reichte die offizielle Information einer Behörde. Das entspricht laut Dudziak den dpa-internen Standards: „Solange keine akuten Zweifel an amtlichen Erklärungen aufkommen, dürfen dpa-Journalisten diesen vertrauen.“

Nach der Eilmeldung ging im Newsroom die Recherche nach weiteren Quellen und Fakten weiter. Jens Dudziak:

Knapp 20 Minuten nach Auslösung des Alarms veröffentlichte die Flughafenbehörde AENA die Mitteilung, dass kein Flugzeug abgestürzt sei. Die Behörde, die dem spanischen Verkehrsministerium unterstellt ist, erklärte, sie habe nach der Auslösung des Alarms durch den Rettungsdienst das übliche Krisenprotokoll eingeleitet. Dabei sei festgestellt worden, dass kein Flugzeug abgestürzt sei. Bei dpa lief die Meldung über den falschen Alarm um 16:33 Uhr unter Berufung auf die AENA.

Offenbar spielte für dpa das Foto keine Rolle, das einen Lastkahn auf dem Meer zeigte, ähnlich einem ins Meer stürzenden Flugzeug.

Hat dpa professionell entschieden? Offenbar ja. Gleichwohl zeigt der Absturz, der keiner war, wie schwierig Entscheidungen für Agenturen werden – die vor allem für die Seriosität von Informationen stehen; dennoch verlangen vor allem Rundfunk- und die Online-Redaktionen eine Aktualität, die sich mit der Twitter- und SMS-Hektik misst. Die Arbeit im Newsroom wird immer schwieriger.

„Lexikon des Grauens“: Stuckrad-Barre entdeckt die Sondersprache von Politiker und Politikjournalisten

Geschrieben am 4. November 2013 von Paul-Josef Raue.

Was Benjamin von Stuckrad-Barre die „furchterregende politische Sondersprache“ nennt, ist meist nur schlechtes Deutsch. Einige Beispiele aus seinem Lexikon, das die Welt-am-Sonntag online anbietet und in Auszügen in der Zeitung (3. November 2013) stand:

> angriffslustig hinterm Rednerpult tänzeln

> Aus welchem Topf das bezahlt werden soll, ist noch offen

> Balsam für die geschundene Parteiseele

> Das Urteil der Karlsruher Richter kommt einer Ohrfeige gleich

> frisches Geld / Geld in die Hand nehmen / Geld in die Kassen spülen

> Front machen

> Geburtsfehler des Euro

> Geschlossenheit demonstrieren

> Gesprächsbedarf

> handfeste Gründe

> ergebnisoffen

> nachhaken / nachbessern

> quecksilbriger Politikstil der Kanzlerin

> rumeiern

> schrillende Alarmglocke

> umgarnen

> zielführend

Und alles mit „im“ und „in“:

> im Alleingang / im Aufwind befindlich / im Bundesrat durchwinken / im Hintergrund die Fäden ziehen / im kleinen Kreis / im politischen Berlin ein Beben auslösen / im Portemonnaie spüren / im Rest der Republik / im Vorfeld klare Zielvorgaben abstecken /
im Zustimmungstief verharren / in aller Deutlichkeit / in aller Ruhe prüfen / in den Senkel stellen / in der Sache keinen Millimeter von der Position abrücken / in die Schranken weisen / in puncto Strompreisbremse / in Sachen Klimapolitik

Und alles mit „mit“:
> mit aller Entschiedenheit zurückweisen / mit Augenmaß / mit Blick auf die kommende Landtagswahl/den EU-Gipfel in Brüssel/die jüngsten Umfragewerte / mit einer Ansicht nicht/ziemlich allein dastehen / mit heißer Nadel gestrickt / mit im Boot sein / mit leeren Händen dastehen / mit Murren/grummelnd zur Kenntnis nehmen / mit Nachdruck / mit stolzgeschwellter Brust

„Zuhören mag da niemand mehr, deshalb gilt ab sofort ein Verbot für die Begriffe und Formeln“, bestimmt Stuckrad-Barre. Da müssen wohl die meisten Pressemitteilungen und Artikel ungeschrieben bleiben. Und die Zeitungen werden dünner.

PR als Nachricht: Das Geschäftsmodell von Online-Zeitungen wie Huffington Post

Geschrieben am 24. Oktober 2013 von Paul-Josef Raue.

Stefan Niggemeier entdeckt bei der Huffington Post, deren deutsche Ausgabe zu Burda gehört, Pressemitteilungen von Burda, die „als normale Nachrichten“ verkauft werden. Das ist die Geschäftsidee von einigen Online-Zeitungen: Ich verwische die Grenze zwischen PR und Journalismus und lasse mich zweimal bezahlen – zuerst von meinem PR-Auftraggeber und dann vom Online-Nutzer.

Diese Praxis verstößt gegen den Pressekodex. Aber wer beschwert sich schon über Online-Zeitungen beim Presserat? Gehen wir schon davon aus, dass es normal ist in dem Sinne: Womit sollen die Onliner sonst ihr Geld verdienen?

Zumindest können sie PR als PR kennzeichnen.

Niggemeiers Quellen: Pressemitteilung von Burda
http://t.co/83xUhFSP4s

@HuffPostDE:
http://http://t.co/R2E1jr1ssk

DEBATTE

Joachim Widmann
weist zu Recht in Facebook darauf hin, dass die Glaubwürdigkeit ruiniert wird, wenn die „Tranzparenzhinweise“ nicht zu lesen sind. Er weist zudem darauf hin, dass auch die klassischen Zeitungen „in eigener Sache oder bei guten Freunden und Kunden nicht gerade zimperlich sind“.

Er berichtet von Redakteuren, die Pressemitteilungen übernehmen und mit eigenem Kürzel veröffentlichen. So sei es einseitig, das Problem nur online zu sehen.

Meine Antwort:
Okay und Dank für den Hinweis – dies ist die berühmte Sache mit dem Glashaus. In der Tat drucken zu viele Redaktionen Pressemitteilungen ohne Not ab, ohne Quellenangabe – und sie tun es meist ohne Druck von oben. Denn zumindest die Quelle kann jeder nennen: Wer will das verbieten? – Bei den lokalen Online-Zeitungen geschieht die PR-Veröffentlichung nicht selten aus der Not heraus, zu überleben. Und da ist die große Huffington Post, die in einem Konzern erscheint, einfach ein schlechtes Vorbild.

Ministerpräsidentin lobt Anzeigenblätter

Geschrieben am 12. Oktober 2013 von Paul-Josef Raue.

„Anzeigenblätter sind schlichtweg besser als ihr Ruf“, sagt Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht und reagiert auf Dieter Golombek, dem Jury-Chef des „Deutschen Lokaljournalistenpreises“. Dieser antwortete in einem Interview auf die Frage „Gibt es einen Trend im aktuellen Lokaljournalismus?“:

Die Guten werden immer besser. Die weniger Guten geraten immer mehr in die Gefahr, sich auf das Niveau von Anzeigenblättern hinzubewegen.

Zu lesen war das Interview in der Thüringer Allgemeine und in diesem Blog.

Ministerpräsidentin Lieberknecht spricht auf der BVDA-Tagung in Erfurt über die Bedeutung der Anzeigenblätter und lobt im Textintern-Interview:

Zwischen viel bunter Werbung finden sich viele lesenswerte und interessante Beiträge. Anzeigenblätter nehmen zudem in ganz besonderer Weise Ereignisse aus der Heimat in den Blick. Zudem haben Anzeigenblätter eine wichtige soziale Komponente. Denn viele Bürgerinnen und Bürger müssen bei ihren täglichen Einkäufen auf jeden Euro achten.

Lieberknecht geht in dem Interview auch auf die „Dominanz der Funke Gruppe in Thüringen“ ein und antwortet auf die Frage, ob es Probleme für die Pressevielfalt gebe:

Anbietervielfalt ist keine Garantie für Inhalte- und Meinungsvielfalt. Es ist Sache der Verlage, wie sie sich redaktionell aufstellen. Durch die Entwicklung des Online-Bereichs ist dem herkömmlichen Zeitungswesen eine Konkurrenz entstanden, die zu Umbrüchen in der Zeitungslandschaft geführt hat und noch weiter führen wird.

** FACEBOOK-Debatte

Anton Sahlender

… sie wird wissen, wo ihre Pressemitteilungen 1:1 abgedruckt werden…

Hardy ProthmannV: Seine Facebook-Kommentare entfernt nach Intervention („unerlaubt“)

Paul-Josef Raue

Verehrter Herr Prothmann, das ist mir ein wenig zu wirr. Die „kritische Einordnung“ ist mir recht oberlehrerhaft: Die Leser meines Blogs können einordnen, ich muss ihnen das nicht einordnen.

Ich wollte festhalten, dass sich eine Ministerpräsidentin von einem Interview distanziert, in dem davor gewarnt wird, dass Lokalteile aufs Niveau von Anzeigenblättern sinken. Die Ministerpräsidentin kam nicht zum Festakt zur Verleihung des Deutschen Lokaljournalistenpreises, obwohl er in Thüringen auf der Wartburg stattfand; aber sie geht zum Treffen der Anzeigenblätter und lobt sie. Da kann man sich schon einen Reim drauf machen. –

Und „Hauptsache Print“, der Kampf gegen das Papier ist mir zu einfältig: Gegen wen oder was kämpfen Sie da eigentlich unentwegt? Und wann haben Sie den Kampf gewonnen? Aber: Sie loben einige Anzeigenblätter, die deutlich besser sind als die Tagespresse. Aber die werden doch auch auf Papier gedruckt – oder?

Und zuletzt: Genau darum geht es in dem Interview, auf das die Ministerpräsidentin reagiert: Es gibt zu viele Lokalteile, die sich dem Niveau von Anzeigenblättern nähern. Da haben Sie dann Ihre kritische Einordnung.

Stefan Hans Kläsener

mein kleines nachtgebet: möge der herr hirn regnen lassen, damit politiker von format endlich erkennen, dass ihr eigenes geschäft am ende auch leidet, wenn sie keinen niveauvollen counterpart mehr haben. wo immer es den noch gibt, funktioniert auch die politik deutlich besser, und die strippenzieher haben es schwerer.

Paul-Josef Raue

Ich schließe in mein Nachtgebet auch die Journalisten von Format ein.

Seiten:«12

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