Der Mauerfall und die DDR-Journalisten: Aus kollektiven Agitatoren und Propagandisten werden 1989 Redakteure
„In der DDR gab es keinen echten Journalismus“, schreibt Hanno Müller, der 1989 Redakteur von Das Volk war, der SED-Bezirkszeitung in Erfurt, und der heute Reporter ist der Thüringer Allgemeine. Er blickte in der TA zurück: Was geschah in den Redaktionen in der Revolutions-Zeit und in den Jahrzehnten danach:
Spätestens ab dem Sommer des Jahres 1989 ist die DDR in Aufruhr. Die Welle der Republik-Flüchtlinge nimmt dramatische Ausmaße an. Ungarn öffnet seine Grenzen. Die westlichen Botschaften des Ostblocks füllen sich mit Ausreisewilligen. Viele kommen mit Kind und Kegel.
Die Parteizeitungen aber machen weiter wie bisher. Kaum eine Ausgabe ohne den Abdruck langer Reden über die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion oder über die DDR als Garant des Weltfriedens. Nach dem Republikgeburtstag brüstet sich der Partei- und Staatschef über zwei Seiten mit den Vorzügen des Sozialismus.
Anfangs verschweigen die DDR-Medien die Fluchtwelle komplett. Dafür hat das Thema in den West-Medien Konjunktur. Als es gar nicht mehr anders geht, wird der Massenexodus gegeißelt als „stabsmäßig organisierte Provokation“ der BRD, die sich eine völkerrechtswidrige Obhutspflicht anmaße.
Überschriften noch im September 1989 lauten „Eiskaltes Geschäft mit DDR-Bürgern“ oder „Der große Coup der BRD“. Die Flüchtlinge werden verunglimpft. Zur Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge Ende September heißt es, die Menschen hätten sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt, man sollte ihnen keine Träne nachweinen.
Die Propaganda-Texte werden in der Berliner ADN-Zentrale – dem Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst – oder in den Propaganda-Abteilungen des Politbüros formuliert. Verweigern können die Redakteure vor Ort den Abdruck nicht.
Journalisten sind Teil des Systems
Allerdings muss im Sommer 1989 in den Redaktionen noch niemand gezwungen werden, die Verlautbarungen aus Berlin zu verbreiten. In der DDR gibt es 1989 zwei Fernsehprogramme, fünf Radiostationen und die zentral gelenkte Nachrichtenagentur ADN. Dazu eine überregionale und 15 regionale SED-Zeitungen sowie 18 Zeitungen der sogenannten Blockparteien.
Unabhängige Medien – Fehlanzeige. Journalisten sind Teil des Systems. Entweder sind die Zeitungen „Organ“ einer Partei oder sie gehören parteinahen Massenorganisationen wie dem Kulturbund oder dem FDGB. Kontrolle und zentrale Steuerung werden hingenommen.
Wie die Hierarchien der SED sind auch deren Tageszeitungen regional durchgegliedert. Jeder Bezirk hat sein Partei-Organ. In Erfurt ist es „Das Volk“ mit 15 Kreisredaktionen. Das Politbüro sitzt quasi mit am Schreibtisch. Der jeweilige Kreisredakteur erhält Richtlinien aus der Kreisleitung, üblicherweise ist er dort auch selbst Mitglied. Für den Chefredakteur ist die Bezirksleitung zuständig.
Wer in der DDR Journalist wird, weiß, was ihn erwartet – die Parteimitgliedschaft eingeschlossen. Bei SED-Zeitungen gibt es für Journalisten keine Freiräume, allenfalls Spielräume. Trotzdem ist der Beruf begehrt. Hunderte bewerben sich jährlich für den Studiengang in Leipzig. Etwa 100 werden nach einem strengen Auswahlverfahren genommen. Die Motivationen sind unterschiedlich – als künftige Parteisoldaten sehen sich die wenigsten.
Sowieso rekrutiert sich der Berufsstand aus dem Teil der Bevölkerung, der das System DDR letztlich nicht infrage stellt. Wer den Sozialismus grundsätzlich ablehnt, bewirbt sich nicht in einer Redaktion – und würde auch kaum genommen.
Es ist die Mischung aus Überzeugung und Anpassung, die das Leben in der DDR möglich und durchaus erträglich macht. Man darf meckern – wenn man weiß, wann man den Mund halten muss. Journalisten verstehen sich besonders gut darauf, die eigene Meinung und das, was sie aufs Papier bringen, voneinander zu trennen. Man kann über alles reden, diskutieren, streiten, selbst in der Redaktion. Lästerhafte, zynische Reden sind Teil des kritischen Selbstverständnisses – nur schreiben darf und wird man es nicht. Gewöhnlich müssen DDR-Journalisten dazu nicht ermahnt werden – sie zensieren sich freiwillig.
Ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam
Dabei ist gerade in den Redaktionen die Verachtung für die dummen und dogmatischen Bonzen da oben groß. Man kennt sie, hört sie bei Veranstaltungen Parteichinesisch reden, weiß um ihre Doppelmoral, ihre Saufgelage oder ihr Luxusgehabe – mit ihnen anlegen wird man sich dennoch besser nicht.Oft beruhen die Antipathien auf Gegenseitigkeit. Weil die Funktionäre ihrerseits den „Sesselfurzern an den Schreibmaschinen“, wie sie sie in ihrem rotzigen Funktionärsjargon auch gern mal öffentlich nennen, nicht trauen, pflegen Redaktionen und Parteiführungen ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam.
Auf die Frage, warum kluge Köpfe einen derart schizophrenen Zustand hinnehmen und aushalten, antworten viele Journalisten, trotz realer Unzulänglichkeiten glaube man an die Idee von der besseren Gesellschaft. Mit dem Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit, den Absurditäten und Albernheiten im Alltag geht jeder in der DDR auf individuelle Weise um.
Gleichaltrigen Freunden ist vor 1989 oft schwer zu erklären, warum man macht, was man macht und schreibt, was man schreibt. Zeitungen in der DDR sind nicht besonders sexy, gelten als langweilig und bieder. Oft sind sie auch denen peinlich, die sie machen. Wer sich anfangs noch dagegen auflehnt, resigniert schnell.
Der Beruf hat eben auch schöne Seiten. Man kommt raus, lernt Leute kennen, kann sich als Teil des gesellschaftlichen Prozesses fühlen – und schreiben. Dass bei den meisten Themen die rosarote Brille nicht fehlen darf – das kennt man so auch in anderen Bereichen der DDR.
Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen
Auch draußen in den Betrieben und auf den Feldern weiß man, was man von den Zeitungsleuten erwarten kann. Man redet offen – und mahnt zugleich: „Aber das schreibst du nicht!“. Meist bedarf es dieses Hinweises nicht. Vielfach sind die Gesprächspartner von den Parteileitungen ausgesucht. Das garantiert ein unausgesprochenes Einverständnis. Man weiß doch, wie die Dinge im Land laufen.
In wissenschaftlichen Arbeiten über den DDR-Journalismus ist später zu lesen, Leser und Zeitungsmacher befänden sich in einer Art „opportunistischen Tateinheit“: Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen.
Dabei gehörten Journalisten in der DDR zu denen, die mit am besten über den Zustand der Gesellschaft und die Machtverhältnisse im Bilde sein sollten. Sie sind täglich vor Ort, kennen interne Parteiberichte, wissen, wo der Schuh drückt. In den Zeitungen bzw. Rundfunk- oder Fernsehbeiträgen aber überwiegt die heile Welt – es sei denn, die Partei selbst meint, man könne doch mal mit dosierter Selbstkritik den Siegeszug des Sozialismus voranbringen.
Die vornehmste Aufgabe der Parteischreiber ist die Überzeugung – bei den Empfängern verfängt sie kaum. Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz spricht nach der Wende vom Zusammenhang zwischen verordneter Fehlinformation und individuellen Abwehrmechanismen. Trotzdem ist es zu DDR-Zeiten schwer – auch wegen des Papiermangels -, ein Zeitungsabonnement zu bekommen.
Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit
Als die SED-Führung Mitte der 80er die Gorbatschow-Worte Glasnost und Perestroika einschließlich ihrer deutschen Übersetzung auf den Index setzt, wird zwar zähneknirschend debattiert – trotzdem halten sich die Redaktionen an das Verbot.Die Zensur des Sputnik 1988 oder die Verfügung, das üblicherweise groß gefeierte Festival des sowjetischen Filmes diesmal kleinzuhalten – die DDR-Zeitungen stehen bei Fuß.
Als die Weisung ausgegeben wird, dass Ausreiseantragsteller nicht auf den Zeitungsseiten vorkommen dürfen, gleichen die Redaktionen Namen ihrer Gesprächspartner mit den Dienststellen ab. Und sie vermeiden es, anonyme Menschenansammlungen von vorn zu fotografieren oder abzubilden.
Es gibt Kultur-, Wirtschafts- und Außenpolitik-Redakteure. Eine Abteilung widmet sich dem Parteileben. Journalisten sind keine homogene Masse. Jüngere denken anders als Kollegen der ersten Stunde. Unter den Redakteuren sind Feingeister, aber auch viele Betonköpfe. Manche schreiben mit dem ideologischen Holzhammer, andere mit feinerer Feder.
Beim Nachweis der eingeforderten „Parteilichkeit“ gibt es je nach Art des Mediums und des Themas durchaus Abstufungen. Sportseite, Lokales oder die Kultur bieten noch am ehesten Realitätsnähe. Auch in der Wochenendbeilage sind Begegnungen mit Funktionären selten. Wirklich abtauchen kann keiner.
Am Ende ist auch der Kommentar über die Lage in Ecuador oder der Beitrag über den Frühjahrsputz Teil der Propaganda. Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit ist nicht zu übersehen.
Es gibt keinen echten Journalismus in der Vorwende-DDR. Die sich dort Journalisten nennen, sind Parteiarbeiter und „Weiterleiter“ – „kollektive Propagandisten, Agitatoren und Organisatoren“, wie es bei Lenin heißt. Die in den Redaktionen dabeibleiben, wissen und erdulden es. Nach der Wende schämen sich nicht wenige dafür. „Aufs Ganze gesehen, war der DDR-Journalismus ein von Opportunismus, Frustration und Dummheit heimgesuchtes Geschäft“, schreibt der Spiegel 1995. Auch wenn es weh tut – man muss es wohl so sehen.
Redakteure entdecken im Wendeherbst die Wahrheit
Es sind eben diese DDR-Journalisten, die in den Wirren des Umbruchs zu echten Lebenshelfern und Begleitern des Systemwandels werden. Oftmals die gleichen Redakteure, die noch gestern Beiträge über die Feinde des DDR-Sozialismus redigieren, schreiben nun über Missstände, Amtsmissbrauch oder langjährige Tabus.
Man kann DDR-Journalisten als Wendehälse bezeichnen, muss aber auch einräumen, dass sie schnell wissen – und wohl immer wussten, wie es richtig geht. Der nahtlose Übergang funktioniert auch, weil die Menschen in den Redaktionen selbst Beteiligte am Veränderungsprozess sind. Wie die Bürger bei Foren und Demonstrationen ihren Mut entdecken und ihre Meinung offen sagen, begeistern sich nun auch Journalisten an der unzensierten Wahrheit.
Zugute kommt den Redaktionen dabei, dass sie – im Gegensatz zu anderen Gliedern des alten Herrschafts- und Propaganda-Apparates – noch gebraucht werden. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen werden zu Multiplikatoren der neuen Sprachmächtigkeit. Sie verbreiten die Ergebnisse der Diskussionsrunden und Runden Tische. Sie veröffentlichen Programme und Forderungskataloge der neuen Parteien und Gruppierungen und liefern immer neue Details aus den einstigen Hinterzimmern der Macht.
Der Zorn der Leser auf die Redakteure hält sich in Grenzen. Bei den Erfurter Donnerstagsdemonstrationen skandieren Demonstranten vor dem Volk-Hochhaus „Schreibt die Wahrheit“. In die Redaktionsstuben kommen nur wenige – sie bleiben friedlich und freundlich.
Die Medien werden zur Plattform für das neue Mitteilungsbedürfnis. Leserbriefe, bis dahin streng auf Systemkonformität geprüft oder gleich ganz in den Redaktionen verfasst, füllen nun ganze Seiten. Die Nähe zu ihren Lesern sowie zu den Themen und Gerüchten, die diese schon zu Zeiten vor der Wende bewegten, die Kenntnis der Situation in den Betrieben und Gemeinden, all das verschafft den Ostredakteuren auch einen Vorteil gegenüber neuen Westblättern, die sich zu etablieren versuchen.
Viele DDR-Journalisten tun sich schwer mit ihrer Vergangenheit
Vieles dreht sich um die Aufarbeitung bisheriger Tabus – um sowjetische Internierungslager, Grenztote und Zwangsausgesiedelte, um verborgene Waffenlager oder die Jagdgelüste der gestürzten Bonzen. Befreit zu recherchieren, macht Spaß. Die Wertschätzung der Leser auch.
Zudem entdecken die Ostzeitungen ihre neue Service- und Ratgeberfunktion. In der Noch-SED-Zeitung Das Volk erscheint das Fernsehprogramm von ARD und ZDF. Nach der Maueröffnung erfährt man aus der Zeitung, wie man in den Westen kommt, wo es Westgeld gibt und welche Grenzübergänge wann neu geöffnet werden.
Ende ’89 müssen viele Neuerungen noch gegen die Parteileitungen und teils gegen die eigenen Chefredaktionen ertrotzt werden. Noch hängen die Blätter am Tropf der Berliner Zentrale, von der Geld und Papier kommen. In den sogenannten „Herbstmonaten der Anarchie“ aber scheint inzwischen nichts mehr unmöglich zu sein. Anfang Dezember tilgt die Volkskammer die führende Rolle der SED aus der Verfassung. Damit sind auch die Tage der Gängelung der Redaktionen gezählt.
Nach der Wende tun sich viele DDR-Journalisten schwer mit ihrer Vergangenheit. „Ja, aber“ ist oft zu hören. Ja, man war systemnah, aber man habe doch auch unter der Zensur gelitten und vieles „zwischen den Zeilen“ transportiert. Auch auf die Parteischule hat es manchen nur verschlagen, weil es nicht anders ging.
Wo die Selbsterkenntnis doch stattfindet, ist sie schmerzlich. So wie bei Alexander Osang, der nach der Wende schreibt: „Die Frage, was aus mir geworden wäre, wenn sich die Ereignisse nicht überschlagen hätten, macht mich ganz krank.“
Thüringer Allgemeine, 3. November 2014
Hanno Müller ist Reporter der Thüringer Allgemeine: Er war – zusammen mit Dietmar Grosser – federführend bei der großen Serie „Treuhand in Thüringen – Wie Thüringen nach der Wende ausverkauft wurde“, die mit dem Deutschen Lokaljournalistenpreis 2013 ausgezeichnet wurde. Die Serie ist auch als Buch in der Thüringen Bibliothek des Essener Klartext-Verlags erschienen (Band 9, 13.95 Euro)
Aus dem Wörterbuch des Nachlatschers: Der Korrespondent und sein Badge (Friedhof der Wörter)
Korrespondent in Berlin, im Herzen der Macht – das muss ein toller Job sein! All die schönen Reisen: nach Washington, New York und Madrid, nach Peking und – naja in letzter Zeit weniger – nach Moskau.
Dies sind schon reizvolle Städte mit den schönsten Museen der Welt, mit großartigen Theatern und Sehenswürdigkeiten, die man einmal im Leben gesehen haben soll. Aber der Korrespondent sieht sie nicht, er latscht immer nur hinterher – hinter der Merkel oder dem Gabriel, dem Steinmeier oder der von der Leyen.
„Nachlatscher“ nannte Kurt Kister den reisenden Korrespondenten. Kister war mal Leiter des Berliner Büros der Süddeutschen Zeitung, also ein berufsmäßiger Nachlatscher. Heute ist er Chefredakteur und latscht nicht mehr hinterher.
Im Februar 2002 hat Kurt Kister das Wort erfunden, als er mit Kanzler Gerhard Schröder zu der mexikanischen Stadt mit dem unaussprechlichen Namen fuhr: Teotihuacán. Und er schrieb, nicht ohne Selbstironie: „Im Bus saßen typische Kanzler-Nachlatscher: Beamte, Abgeordnete, Reporter.“
Nico Fried, Kisters Nachfolger in Berlin, schreibt eine der schönsten Politik-Kolumnen der Republik: „Spreebogen“, und erinnerte sich gerade erst im Spreebogen an seinen Chef und seine Wortschöpfung. „Nachsprecher“ könnte man ihn nennen, aber das wäre unfair, denn er hat ein schönes Wort wiedererfunden, das Journalisten wohl lieber beerdigten.
Als die Chefredakteure aus Thüringen vor einigen Jahren zwischen Weihnachten und Neujahr mit der Ministerpräsidentin nach Jerusalem flogen, latschten sie auch stets hinterher – und stundenlang saßen sie nach. Denn immer wenn es spannend wird, müssen die Nachlatscher draußen bleiben und warten.
Ministerpräsidentin Lieberknecht hatte eine ganz wichtige Audienz bekommen, irgendein Stellvertreter des Stellvertreters des Außenministers. Als sie endlich herauskam und – wie es so schön heißt – mit ihrem Regierungssprecher Zimmermann vor die Presse trat, fiel ihr eigentlich nur ein: Der Stellvertreter des Stellvertreters hatte sich über einen Kommentar in der Thüringer Allgemeine vom Tage geärgert.
Da hatte sich das Nachlatschen schon gelohnt.
Nico Fried erwähnt in seiner Kolumne noch einen zweiten wichtigen Begriff aus dem Wörterbuch des Nachlatschers: Der „Badge“ – ist ein Plastik-Schild als Folge der notwendigen Akkreditierung, das ein Korrespondent unbedingt tragen muss, denn ohne ist er verloren und darf weder nachlatschen noch nachsitzen.
Mittlerweile müssen sich Journalisten auch in Kriegen akkreditieren. Da reicht einfach die große Schrift „Press“ auf der Kleidung, um Bomber-Piloten und Scharfschützen daran zu erinnern, nicht auf Journalisten zu schießen. Das gelingt leider nicht immer, aber dann entschuldigen sich Regierungssprecher gerne: Die Schrift war nicht gut lesbar, und es war – ein Kollateralschaden. Oder noch einfacher: es waren die anderen, die Bösen, das passt immer.
***
Thüringer Allgemeine, erweiterte Fassung des „Friedhof der Wörter“, 15. September 2014
Schleichwerbung im FAZ- und SZ-Feuilleton
Am Wochenende spielen im HSV-Stadion vier Bundesligisten ein Vorbereitungs-Turnier. Auf der Seite „Fernsehen am Samstag“ im Feuilleton der FAZ ist zu lesen:
SAT.1 18.00 Fußball. Telekom Cup. Hamburger SV – VfL Wolfsburg. Live aus der Imtech Arena in Hamburg.
Die Süddeutsche Zeitung schreibt auf ihrer Seite „Programm vom Samstag“:
20.15 Fußball Telekom Cup. FC Bayern München – Borussia Mönchengladbach. Live aus der Imtech Arena in Hamburg. SAT.1 präsentiert den „TELEKOM CUP 2014″ in der Imtech Arena in Hamburg…
.
Ähnlich ist von Telekom und Imtech im Sonntags-Programm zu lesen.
Es geht auch anders: Auf der Sportseite der FAZ steht unter „Sport live im Fernsehen“ (ähnlich im SZ-Sport):
SAT.1 18 Uhr und 20.15 Uhr: Fußball, Turnier in Hamburg…“
(Fettsatz-Heraushebungen von mir)
Soll man Umfragen, die Leser nicht mögen, einfach unterdrücken? (Leser fragen)
Mehrere Leser, darunter der Leser S. empören sich über die Schlagzeile „Im Osten wird häufiger gemogelt“, die am 7. Juli der Titelseite der Thüringer Allgemeine zu lesen war: „Haltloser, die Ostdeutschen pauschal verunglimpfender und beleidigender Quatsch!“ Herr S. fragt: „Wo soll auch sonst häufiger gemogelt werden? All diese wissenschaftlichen Untersuchungen – kommen immer woher?“
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der TA-Chefredakteur:
Sehr geehrter Herr S., in Ihrer Empörung schwingen drei Vermutungen mit:
Erstens – eine wissenschaftliche Untersuchung werde beeinflusst durch die Herkunft des Wissenschaftlers. Das ist unwahrscheinlich: Solide arbeitende Forscher, ob West oder Ost, beschreiben exakt ein Experiment und legen nachprüfbar die Ergebnisse vor. Nur stehen bei Umfragen am Ende Zahlen, nichts als Zahlen, nackte, nüchterne Zahlen.
Wie sie interpretiert werden, darüber lässt sich trefflich diskutieren. Zum Beispiel: Warum ist es verunglimpfend zu sagen: Menschen, die in einer Diktatur lebten, können besser mogeln? Jeder mag den braven Soldaten Schweijk, dessen Mogeln wir List nennen und rühmen – weil er die Richtigen vorführte. Viele Ostdeutsche stehen in der Schweijkschen Tradition, vor allem wenn sie den Mächtigen und dem Staat misstrauen – aus Erfahrung.
Zweitens, Herr S. – die Ostdeutschen seien stets die Verlierer, und so sei es überflüssig, gar beleidigend, Studien zu veröffentlichen, die für Ostdeutsche scheinbar negativ sind. Richtig ist: In den meisten Studien schneiden Ostdeutsche – ohne zu mogeln – besser ab als Westdeutsche, beispielsweise in den Pisa-Studien, in Studien über die Zahl der Depressionen, Kitas oder Impfungen gegen Grippe.
Zudem verschwinden Umfragen nicht, wenn wir sie verschweigen. So stand die Mogel-Studie auf der Titelseite der größten nationalen Zeitung, der „Süddeutschen“, dem Zentralorgan des intellektuellen Westdeutschen.
Drittens – die Ostdeutschen würden von den Westdeutschen immer noch, 25 Jahre danach, untergebuttert. Wie wäre es mit Selbstbewusstsein? Drei Gründe dafür: Die Ostdeutschen haben erfolgreich eine Revolution erkämpft; sie haben eine Diktatur in eine Demokratie verwandelt; sie haben dem schönsten Teil Deutschlands mit Stolz, Mühe und Schweijkschen Strategien seinen alten Glanz zurückgegeben – und noch ein bisschen mehr.
Es wird Zeit, stolz und selbstbewusst zu sein. Wen stört da ein bisschen Mogeln?
**
Thüringer Allgemeine, 12. Juli 2014
Eine Falschmeldung bei der WM und die Suche nach der Quelle (Friedhof der Wörter)
„Um an die Quelle zu kommen, muss man gegen den Strom schwimmen“, lautet eine der bekanntesten Weisheiten aus China. Nicht nur in diesem alten Kulturvolk ist die „Quelle“ ein beliebtes Sprachbild für Dichter und Philosophen – und für Journalisten, seitdem sie Nachrichten nicht nur weitergeben, sondern auch selber entdecken, meist nicht zur Freude der Mächtigen.
Woher kommt eine Nachricht? Wo ist ihre Quelle? Ein guter Journalist kennt den Ort der Quelle und nennt ihn – es sei denn, die „Quelle“ ist ein Mensch, der Vertrauliches , aber Wichtiges weitergibt und unerkannt bleiben muss, weil ihm sonst Böses widerfahren wird. Die „Quelle“ zu finden und zu nennen ist eine der wichtigsten Regeln für Journalisten.
Das gilt auch für die Prominenten bei der Fußball-Weltmeisterschaft. Beim letzten Spiel der portugiesischen Mannschaft fiel ihr Star Ronaldo weniger durch seine Spielkunst denn durch seinen Haarschnitt auf. Er hatte sich einen Blitz in seinen Seitenscheitel rasieren lassen.
Damit wolle Ronaldo an den kleinen schwerkranken Erik erinnern, dem er 50.000 Euro geschenkt hatte für eine Tumor-Operation. Der Blitz in den Haaren erinnere an die Operations-Narbe. So stand es im Internet, auch bei seriösen Zeitungen.
Wo ist die Quelle der Nachricht? Die bildhübsche Vanessa Huppenkothen (29), eine Moderatorin aus Mexiko, hatte die Nachricht bei „Twitter“ gesendet (retweetet mehr als 30.000 Mal), sich auf einen Teenager berufend, der sonst allein durch vulgäre Sprüche im Internet auffällt. Es gab keine offizielle Bestätigung, aber mittlerweile eine Mitteilung von Eriks Mutter: Das Geschenk von Ronaldo gibt es, aber es gab noch keine Operation, also auch noch keine Narbe.
Schließen wir mit einer chinesischen Weisheit: Sobald die kleine Quelle versiegt, trocknet auch der große Fluss aus.
Quelle: Falsche Neun von Markus Herrmann aus Berlin („Falsche Neun ist ein Blog irgendwo zwischen Stadionpommes, Klugscheißerei und dem Geräusch von Schraubstollen auf alten Betontreppen“). Markus Herrmann belegt in seinem Blog genau seine Quellen
Er hat noch eine Falschmeldung entdeckt:
„Sportschau“ und seriöse Zeitungen schrieben online:
Serey von der Elfenbeinküste weinte während der Nationalhymne, weil zwei Stunden zuvor sein Vater gestorben war. Richtig ist: Der Vater ist seit zehn Jahren tot, Serey weinte nach eigenem Bekunden aus Rührung.
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Thüringer Allgemeine 30. Juni 2014 (gekürzte Fassung)
Flugzeug-Absturz vor Gran Canaria: Wie die Eilmeldung bei dpa in den Dienst kam – Eine Fallstudie
Eigentlich gilt in Agenturen die Regel: Jede Nachricht, erst recht eine brisante, muss durch zwei unabhängige Quellen bestätigt werden. Diese Regel einzuhalten, braucht Nerven und Geduld im hektischen Echtzeit-Journalismus und in der Twitter-Anarchie.
Was passierte im Newsroom von dpa am Donnerstag kurz nach 16 Uhr? Eine Meldung der spanischen dpa-Partneragentur EFE ging ein: Der Rettungsdienst der Kanaren, unterstellt der Regionalregierung, gab bekannt, ein Passagierflugzeug sei ins Meer gestürzt; der Rettungsdienst rief alle verfügbaren Kräfte zum Einsatz auf.
Um 16.11 Uhr veröffentlichte dpa die Eilmeldung und berief sich als Quelle auf den Rettungsdienst.
Warum reichte für diese Eilmeldung eine Quelle? Für dpa-Nachrichtenchef Jens Dudziak – wie auch für andere Nachrichtenagenturen – reichte die offizielle Information einer Behörde. Das entspricht laut Dudziak den dpa-internen Standards: „Solange keine akuten Zweifel an amtlichen Erklärungen aufkommen, dürfen dpa-Journalisten diesen vertrauen.“
Nach der Eilmeldung ging im Newsroom die Recherche nach weiteren Quellen und Fakten weiter. Jens Dudziak:
Knapp 20 Minuten nach Auslösung des Alarms veröffentlichte die Flughafenbehörde AENA die Mitteilung, dass kein Flugzeug abgestürzt sei. Die Behörde, die dem spanischen Verkehrsministerium unterstellt ist, erklärte, sie habe nach der Auslösung des Alarms durch den Rettungsdienst das übliche Krisenprotokoll eingeleitet. Dabei sei festgestellt worden, dass kein Flugzeug abgestürzt sei. Bei dpa lief die Meldung über den falschen Alarm um 16:33 Uhr unter Berufung auf die AENA.
Offenbar spielte für dpa das Foto keine Rolle, das einen Lastkahn auf dem Meer zeigte, ähnlich einem ins Meer stürzenden Flugzeug.
Hat dpa professionell entschieden? Offenbar ja. Gleichwohl zeigt der Absturz, der keiner war, wie schwierig Entscheidungen für Agenturen werden – die vor allem für die Seriosität von Informationen stehen; dennoch verlangen vor allem Rundfunk- und die Online-Redaktionen eine Aktualität, die sich mit der Twitter- und SMS-Hektik misst. Die Arbeit im Newsroom wird immer schwieriger.
Flugzeugabsturz: Auch dpa fiel auf Falschmeldung rein
Zu diesem Beitrag gibt es einen neuen Blog mit zusätzlichen, zum Teil korrigierenden Informationen: „Wie die Eilmeldung bei dpa in den Dienst kam – Eine Fallstudie“.
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16.12 Uhr: Flugzeug bei Gran Canaria ins Meer gestürzt.
16.35 Uhr: Flughafenbehörde: Angeblicher Absturz bei Gran Canaria falscher Alarm
Zwei Meldungen der dpa am 27. März 2014: In nicht einmal zwanzig Minuten taucht ein Flugzeug wieder auf und fliegt weiter. In dieser Zeit huschten Tausende von Tweets über die Bildschirme: aufgeregt und falsch. „Da sieht man mal, wie Redaktionen voneinander abschreiben“, twitterte einer. Ein Spanier folgte: „Viva la republica bananera!!“ Auch wenn man der Fremdsprachen nicht sicher ist, ahnt man, was der Spruch bedeuten soll.
Die 20-Minuten-Aufregung zeigt die Kehrseite der schnellen Welt: Aktualität ist gut, aber Wahrheit ist besser. Im Handbuch des Journalismus zitieren wir im Kapitel 19 „Nachrichtenagenturen“ die oberste Regel:
Be first, but first be right.
Ausgelöst hat die Falschmeldung offenbar ein Foto, das einen Schleppkahn zeigt, der wie ein Flugzeug aussieht, das gerade ins Meer stürzt.
Ortsmarke bei AP: Statt „Sewastopol, Ukraine (AP)“ ab sofort: „Sewastopol, Krim (AP)“
Die Ukraine steuert nicht mehr die Krim: Das ist die Begründung der amerikanischen Nachrichtenagentur AP, um die Ortsmarke zu ändern: Erst der Stadtname, dann als Ländername „Krim“
Warum nicht „Sewastopol, Russland“?, fragt der Agentur im AP-Blog. Die Antwort ist ein wenig seltsam: Die Krim ist geographisch getrennt von Russland, hat keine Landgrenze. Allerdings verfährt AP in aller Seltsamkeit so auch schon lange mit anderen Inseln wie „Palermo, Sizilien (AP)“, auch wenn Sizilien Teil von Italien ist, oder „Guadeloupe“ als Teil von Frankreich.
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Ortsmarke heißt bei dpa „Ortszeile“, früher: Aufgabeort. Wer kennt noch andere Begriffe?
Gegen die Lanz-Petition: Die Mausklick-Demokratie entwertet die Politik
Höflichkeit gehört nicht zur Berufsbeschreibung von Journalisten. Eigentlich gehört es sogar zu den grundlegenden Moderatorenpflichten, dass sie den Redefluss von Politikern stoppen, die stur ihr Parteiprogramm herunterbeten.
Andrian Kreye im SZ-Leitartikel zur Online-Petition, die mehr als 170.000 anklickten, gegen den ZDF-Moderator Markus Lanz; er war in seiner Talkshow der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht mehrfach ins Wort gefallen. Vorwerfen könne man Lanz allenfalls, dass er seine kritische Moderation öffentlich bedauert habe.
Ins Gericht geht Kreye auch mit der „Mausklick-Demokratie“, die kein „Ausdruck eines politischen Willens, sondern Abbild momentaner Launen“ sei. Er spricht von einer „Entwertung der Politik durch die Passivität des politischen Klickens“.
Bedenklich findet Kreye auch – zu Recht -, dass sich Zeitungen und Magazine verleiten lassen, die hohen Klickzahlen als Abbild der Volksmeinung aufzuwerten: „Ein paar Hunderttausend Petionsklicker sind keine Bewegung“. Das Aufsetzen einer Petition dauere nicht lange auf der Webseite www.openpetition.de; dort findet man auch Petitionen wie „Freiheit für die KURVE + mehr STEHPLÄTZE in der Allianz Arena“ oder „Keine Moschee in Leipzig/Gohlis – Bürgerinitiative: Gohlis sagt Nein!“
Quelle: SZ 25.1.2014
Lexikon journalistischer Fachausdrücke:
Mausclick-Demokratie
„Nichtverständlichkeitserlass“ für Autoren des Koalitionsvertrags
Wenn es um „solide Finanzen“ geht, wird bei unserer Regierung die Sprache unsolide. Da wimmelt es im Koalitionsvertrag von Wörtern, die auf einer Eil-Beerdigung zu Grabe getragen werden sollten.
Wörter türmen sich zu Ungetümen auf: „Schnellreaktionsmechnismus“ oder „Nichtanwendungserlasse“ oder ein Wort wie „OECD-BEPS (Base Erosion and Profit Shifting)-Initiative“, das selbst Fachleute ins Grübeln verschlägt. So ließe sich ein Vorrat an Unwörtern sammeln für viele Jahre.
Das Argument, Spezialbegriffe müssen nur Experten verstehen, zählt nicht: Ein Koalitionsvertrag bestimmt das Leben aller Bürger auf Jahre hinaus – und muss von allen und nicht von wenigen verstanden werden. So ist das in einer Demokratie.
Ein „BEPS“ interessiert jeden: Warum hat es ein mittelständischer Betrieb im Thüringer Wald so schwer, auf dem Weltmarkt mit großen Konzernen mitzuhalten? Die Großen bringen ihre Gewinne, ganz legal, in Staaten mit niedrigen Steuern, etwa auf die britischen Jungferninseln. Dies Urlaubsparadies in der Karibik hat so viele Einwohner wie Mühlhausen, ist aber in China der zweitgrößte Investor aller Staaten.
Der mittelständische Unternehmer, der beispielsweise Kurbelwellen herstellt, will faire Bedingungen und nicht immer verlieren gegen einen Konzern, der in seiner Steuerabteilung mehr Angestellte beschäftigt als der Mittelständler in seiner Produktion. Was die Regierung dagegen tun will, interessiert den Chef ebenso wie seine Arbeiter. Also muss ein politisches Programm für alle verständlich sein.
Offenbar gab es einen Nichtverständlichkeitserlass für die Autoren, die den Koalitionsvertrag geschrieben haben. Ein Kapitel, wie Politik verständlich werden kann, fehlt im Vertrag. Ob es Absicht ist?
Thüringer Allgemeine 20. Januar 2014 (Friedhof der Wörter)
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