Alle Artikel der Rubrik "Friedhof der Wörter"
Die deutsche Sprache gehört nicht den Deutschen allein. So wählen nicht nur die Österreicher ihr eigenes Wort des Jahres, auch die Schweizer. Zu Recht, denn der „Einkaufstourist“ hätte in Deutschland keine Chance – es sei denn am östlichen Rand unserer Republik, von dem die Einkaufstouristen aus Sachsen, Brandenburg und Vorpommern nach Polen fahren, um billige Zigaretten zu kaufen und billig zu tanken. Auch aus Berlin fahren sie schon zum Haareschneiden oder preiswerten Beerdigen ins Nachbarland.
Nur – wie kommen die reichen Schweizer auf den „Einkaufstouristen“? Die Deutschen in der südwestlichen Ecke schreckten auf, als plötzlich Tausende von Schweizern im „Aldi“ die Regale leer räumten. Weil der Schweizer Franken nicht mehr an den Euro-Kurs gekoppelt war, konnten die Schweizer viel billiger einkaufen.
So begründet die Schweizer Jury ihr Wort des Jahres: „Die Aufnahmezentren für die Wirtschaftsflüchtlinge aus der Schweiz sind die Einkaufszentren von Konstanz bis Lörrach. Das Wort des Jahres 2015 ist Einkaufstourist.“
Die Schweizer leben in einem kleinen bergigen Land und bleiben gerne unter sich, aber im vergangenen Jahr drehte sich ihre Sprache um den Rest der Welt. „Asylchaos“ ist das Schweizer Unwort des Jahres. Die Schweizer sind von deutschen Verhältnissen weit entfernt, so dass die Jury auch begründete: „Dass wir in der Schweiz ein Asylchaos hätten, ist eine Behauptung, mit der im Wahljahr Ängste geschürt wurden. Denn die sogenannte Flüchtlingswelle ist ja weitgehend an der Schweiz vorbeigegangen.“
Den Satz des Jahres könnten wir uns im Weltmeister-Land Deutschland von den Schweizern borgen: „Eine WM kann man nicht kaufen“, sprach der Schweizer Sepp Blatter, als er noch Fifa-Präsident war. Die Jury konnte sich Ironie nicht verkneifen: „Beeindruckt hat uns, mit welchem Trotz Sepp Blatter allen Enthüllungen im Jahr 2015 widerspricht.“
Weil Schweiz und Geld meist in einem genannt werden, wählen die Schweizer auch ein Finanzwort des Jahres: „Frankenschock“ – womit der Schock gemeint ist, der die Schweizer als „Einkaufstouristen“ nach Deutschland trieb.
Und das deutsche Finanzwort des Jahres? Es sollte auch gewählt werden! Mein Vorschlag fürs vergangene Jahr: „VW-Abgas-Manipulation“; wahlweise kann Manipulation ausgetauscht werden mit „Abgas-Affäre“ oder „-Skandal“. „Dieselgate“ wäre kurz und heftig, aber recht unverständlich für die meisten Diesel-Fahrer.
**
Thüringer Allgemeine, 25. Januar 2016, Friedhof der Wörter, Seite 12 – erweiterte und redigierte Fassung
Ist „Gutmensch“, das Unwort des Jahres, ein gutes Unwort? Fragen wir den großen Weimarer Dichter:
Der edle Mensch
Sei hilfreich und gut!
Unermüdet schaff er
Das Nützliche, Rechte.
So endet Goethes Gedicht „Das Göttliche“. Zwei Merkmale hat also der Mensch: Er hilft, er ist gut. Genauer: Er soll gut sein, soll sich darum mühen, er sei eben gut.
Gut zwei Jahrhunderte später soll sich jeder schämen, wenn er von guten Menschen spricht? Es lohnt ein Blick in die Motive der sechsköpfigen Jury, in der vier Sprachwissenschaftler in der absoluten Mehrheit sind, darunter nur eine Frau. Sie wollen das Volk belehren, wollen ihm die schlechten Wörter austreiben. Mit Wissenschaft hat das wenig zu tun.
Und dem Volk aufs Maul schauen sie auch nicht: Der „Gutmensch“ steht nur auf dem dritten Platz der Einsendungen; die folgenden Rügen – „Hausaufgaben“ und „Verschwulung“ -, tauchen unter den ersten zehn Vorschlägen überhaupt nichts auf. Überhaupt scheint sich das Volk wenig ums Unwort zu kümmern: 1640 beteiligten sich; zum Vergleich: Im kleinen Volk der Österreicher beteiligten sich am Unwort-Wettbewerb zwanzig Mal so viel!
Die Moral beurteilen die Sprachforscher, nicht die Sprache; das ginge so: Das Substantiv ist der Übeltäter, weil es aus der Verbindung vom positiv besetzten Adjektiv „gut“ und dem ebenfalls positiven „Mensch“ eine Abwertung schafft. Zusammengesetzte Substantive sind das Besondere der deutschen Sprache, sie verwandeln Wörter: Ein Gutmensch ist eben nicht der gute Mensch, vielmehr bekommt das Wort eine eigene Bedeutung.
„Mit dem Vorwurf ,Gutmensch‘ werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm oder weltfremdes Helfersyndrom diffamiert“, schreibt die Jury, die offenbar auch aus Gutmenschen besteht, obwohl diese Bezeichnung an dieser Stelle zumindest politisch nicht korrekt ist.
Gute Menschen können anstrengend sein: Der moralinsaure Ton kann auf die Nerven gehen, auch die Attitüde, wir sind die besseren Menschen. Mit Gutmenschen bezeichnen wir vornehmlich die, deren Gut-Sein sich im Appell an den Staat oder andere erschöpft, endlich Gutes zu tun. Doch das sind keine Gutmenschen, sondern Gut-Forderer.
Wie soll man die Gutmenschen denn nennen? Mit der Rüge ist das Denken nicht verschwunden: Utopisten, Träumer, Weltverbesserer? Oder einfach: gute Menschen? Wer so spricht, dem vergeht jeder Spott.
Enden wir mit Goethe, der in einem Gedicht von Gutmann und Gutweib spricht. Es ist ein lustiges Gedicht.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 18. Januar 2016 (dieser Blog ist eine erweiterte Fassung)
Info:
Die Jury bilden die Sprachwissenschaftlern Prof. Dr. Nina Janich/TU Darmstadt (Sprecherin), PD Dr. Kersten Sven Roth (Universität Düsseldorf), Prof. Dr. Jürgen Schiewe (Universität Greifswald) und Prof. Dr. Martin Wengeler (Universität Trier) sowie der Autor Stephan Hebel. Als jährlich wechselndes Mitglied war in diesem Jahr der Kabarettist Georg Schramm beteiligt.
Begründungen der Jury laut Pressemitteilung:
> „Gutmensch“ ist zwar bereits seit langem im Gebrauch und wurde auch 2011 schon einmal von der Jury als ein zweites Unwort gewählt, doch ist es im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsthema im letzten Jahr besonders prominent geworden. Als „Gutmenschen“ wurden 2015 insbesondere auch diejenigen beschimpft, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren oder die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen.. Der Ausdruck „Gutmensch“ floriert dabei nicht mehr nur im rechtspopulistischen Lager als Kampfbegriff, sondern wird auch hier und dort auch schon von Journalisten in Leitmedien verwendet. Die Verwendung dieses Ausdrucks verhindert somit einen demokratischen Austausch von Sachargumenten. Im gleichen Zusammenhang sind auch die ebenfalls eingesandten Wörter „Gesinnungsterror“ und „Empörungs-Industrie“ zu kritisieren. (Der Ausdruck „Gutmensch“ wurde 64-mal und damit am dritthäufigsten eingesendet.)
> „Hausaufgaben“ Das Wort „Hausaufgaben“ wurde in den Diskussionen um den Umgang mit Griechenland in der EU nicht nur, aber besonders im Jahr 2015 von Politikerinnen und Politikern, Journalistinnen und Journalisten als breiter politischer Konsensausdruck genutzt, um Unzufriedenheit damit auszudrücken, dass die griechische Regierung die eingeforderten so genannten Reformen nicht wie verlangt umsetze: Sie habe ihre „Hausaufgaben“ nicht gemacht. In diesem Kontext degradiert das Wort souveräne Staaten bzw. deren demokratisch gewählte Regierungen zu unmündigen Schulkindern: Ein Europa, in dem „Lehrer“ „Hausaufgaben“ verteilen und die „Schüler“ zurechtweisen, die diese nicht „erledigen“, entspringt einer Schule der Arroganz und nicht der Gemeinschaft. Das Wort ist deshalb als gegen die Prinzipien eines demokratischen Zusammenlebens in Europa verstoßend zu kritisieren.
> Verschwulung“ Das Wort „Verschwulung“ ziert einen Buchtitel des Autors Akif Pirinçci („Die große Verschwulung“) und wurde von der Online-Zeitschrift „MÄNNER“ und ihren Lesern zum „Schwulen Unwort 2015“ gekürt. Die Jury teilt die Ansicht der Zeitschrift und ihrer Leser, dass ein solcher Ausdruck und die damit von Pirinçci gemeinte „Verweichlichung der Männer“ und „trotzige und marktschreierische Vergottung der Sexualität“ eine explizite Diffamierung Homosexueller darstellt und kritisiert den Ausdruck daher ebenfalls als ein Unwort des Jahres 2015. Auch durch die Analogie zu faschistischen Ausdrücken wie „Verjudung“ ist die Bezeichnung kritikwürdig.
Unwort-Statistik 2015: Für das Jahr 2015 wurden 669 verschiedene Wörter eingeschickt, von denen ca. 80 auch den Unwort-Kriterien der Jury entsprechen. Die Jury erhielt insgesamt 1644 Einsendungen. Die zehn häufigsten Einsendungen, die allerdings nicht sämtlich den Kriterien der Jury entsprechen, waren
- Lärmpause [165],
- Willkommenskultur [113],
- Gutmensch [64],
- besorgte Bürger [58],
- Grexit [47],
- Wir schaffen das! [46],
- Flüchtlingskrise [42],
- Wirtschaftsflüchtling [33],
- Asylgegner/-kritiker/Asylkritik [27]
- Griechenlandrettung/ Griechenlandhilfe [27].
Wir haben das Wort des Jahres, das Unwort des Jahres und das Jugendwort des Jahres. Die Österreicher haben noch den Spruch des Jahres:
Frankreich wir kommen!
Den werden die meisten Deutschen nicht verstehen: „Frankreich wir kommen“ war das Motto der österreichischen Fußballer, die sich nach über einem halben Jahrhundert wieder sportlich für die Europameisterschaft qualifizieren konnten. Der Spruch macht deutlich: Die Österreicher waren weise, als sie sich von den deutschen Wörtern, Unwörtern und Jugendwörtern lösten – auch wenn sie die gleiche deutsche Sprache sprechen.
Sprache ist an einen Ort gebunden: Manches, was in Deutschland gesagt wird, interessiert in Österreich kaum jemanden – und umgedreht auch. Weise waren die Österreicher auch, als sie nicht nur vom deutschen Wort des Jahres verabschiedeten, sondern auch den Spruch des Jahres von den Bürgern wählen ließen.
In Deutschland wählt den Spruch des Jahres eine „Deutsche Akademie für Fussballkultur“ – ja wirklich: „Fußballkultur“, wobei wohl nicht nur an den Kulturbeutel beim Duschen gedacht ist.
Sind drei Sätze mit 18 Wörtern noch ein Spruch? In der Fußballkultur offenbar:
München ist wie ein Zahnarztbesuch. Muss jeder mal hin. Kann ziemlich weh tun. Kann aber auch glimpflich ausgehen,
sprach Sebastian Prödl , ein Österreicher, vor dem Spiel bei den Bayern.
Zur Wahl stand auch ein 18-Wörter-Spruch von Bruno Labbadia, als er Trainer in Hamburg werden sollte:
„Ich habe meine Frau vor die Wahl gestellt: Mallorca oder HSV? Aber ich habe sie nicht ausreden lassen.“
Der Spruch könnte der Macho-Spruch des Jahres sein.
Den Unspruch des Jahres wählen die Österreicher auch – und die fünf Wörter haben es in sich: „Ich bin kein Rassist, aber …“ In der Regel folgt ein rassistischer Spruch, tausendfach in den unsozialen Netzwerken zu lesen.
Und welcher Spruch wäre der bundesdeutsche des Jahres? Drei Wörter, die man nicht gut finden muss, die aber jeder kennt, jeder zuordnen kann: „Wir schaffen das“.
Die drei Wörter sprach die Kanzlerin in einem größeren Zusammenhang auf einer Pressekonferenz Ende August in Berlin, aber nur drei Wörter blieben haften:
„Deutschland ist ein starkes Land. Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das. Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.“
Die Österreicher sprechen deutsch, aber sie trauen den Deutschen nicht mehr, wenn es um das „Wort des Jahres“ geht. Sie wählen ein eigenes und haben 2015 die bessere Wahl getroffen: „Begrüßungskultur“. Man mag „Seid nett zu den Fremden!“ gut oder schlecht finden, aber das Wort beherrschte die Debatte des Jahres, drang erst in die Schlagzeilen der Zeitungen vor, dann in den Wortschatz der Politiker und schließlich in unsere Alltagssprache.
Schwer zu entdecken ist, wer das Wort erfunden hat, zumal es aus zwei lange gebräuchlichen Wörtern zusammengesetzt ist. Seitdem die Kultur schon mit dem Beutel vermählt wurde, muss sie für alles Mögliche ihren Namen hingeben. Hundert und mehr Zusammensetzungen sind bekannt von der Pop-Kultur über die Mono-, Nackt-, Primitiv- bis zur Urnenfelder-Kultur.
Zu Flüchtlingen, dem Thema des Jahres auch in Österreich, passt dort auch das Unwort des Jahres: „Besondere bauliche Maßnahmen“, von denen die Innenministerin sprach, um nicht vom Grenz-Zaun sprechen zu müssen an der Grenze zu Slowenien.
Warum sind die Österreicher klüger bei der Wahl zu den Wörtern des Jahres? Nicht ausschließlich Wissenschaftler und Experten, die dem Alltag vielleicht schon entrückt sind, wählen wie in Deutschland, sondern die Bürger selber. 34.000 gaben ihre Stimme ab: Das ist zwar keine Massenbewegung, ist ein halbes Prozent der Bevölkerung, aber entspräche gut 350.000 in Deutschland – die wohl kaum für „Flüchtling“ gestimmt hätten.
Die „Lügenpresse“ ist von Dresden auch nach Wien geschwappt, so dass die Österreicher dem Wort die Silbermedaille umhängen im Wettstreit um das Unwort des Jahres. Bronze gibt es für ein besonders perfides Wort, das Manager erfunden haben, um nicht mehr von massenhaften Kündigungen sprechen zu müssen oder der Schließung von Unternehmen: „Kostendämpfungspfad“.
Das Wort führt in die Irre, meint die Jury der „Forschungsstelle Österreichisches Deutsch“. Sprache allerdings soll die Menschen verbinden, statt in die Irre zu führen.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 4. Januar 2016
Viele können schon mit dem zweiten Weihnachtstag wenig anfangen: Genug Ente und Marzipan, genug Familie und Stille Nacht. Dabei ist Weihnachten – historisch betrachtet – immer kürzer geworden: Johann Sebastian Bach schrieb noch Kantaten zum dritten Weihnachtstag – wann sollten wir sie heute aufführen?
Für die christlichen Kirchen dauert Weihnachten sogar bis zum Drei-Königs-Fest oder bis zum 2. Februar: Erst dann werden die Tannenbäume entsorgt und die Krippen verpackt. In Armenien, der ältesten christlichen Kirche, aber auch in Russland oder der Ukraine feiern die orthodoxen Kirchen heute noch, wie seit Jahrhunderten, erst am 6. Januar Weihnachten; so lange müssen dort die Kinder auf die Bescherung warten.
Als sich der Kalender noch nach dem Mond richtete, waren die Tage nach Weihnachten bei uns eine ruhige Zeit, in der die Frauen keine Wäsche wuschen, die Männer nur das Notwendigste auf den Bauernhöfen taten und die Kinder nach Sonnenuntergang nicht mehr das Haus verlassen durften. Die Familie saß zusammen, oft mit den Nachbarn. Doch die reine Idylle war dies nicht.
Irgendeiner begann, wenn es draußen dunkelte, von Werwölfen zu erzählen, von Vampiren und von Jungfrauen, die nicht nur den Bräutigam, sondern auch den Tod sehen. Ein anderer hatte die Tiere sprechen gehört, wieder ein anderer ihnen gelauscht – und sei prompt verstorben.
„Rauhnächte“ nannten unsere Altvorderen die Zeitspanne zwischen Winteranfang, als dem kürzesten Tag des Jahres, und dem Fest der drei Könige, wenn die Tage wieder länger werden. Was „rauh“ sei in diesen Nächten, haben Sprachhistoriker nicht geklärt. Es könnte von der „Reue“ abstammen.
Die Tage zwischen den Jahren sind eine gute Zeit der Erinnerung: Man kann das Böse bereuen und das Gute in die Zukunft verlängern.
So lassen wir auch die „Rauhnächte“ auferstehen. In den Buchhandlungen gibt es schon seit Jahren eigene Lektüre für die Zeit zwischen den Jahren – um zur Ruhe zu kommen. Die Unruhe kommt früh genug wieder.
**
überarbeitete Fassung des „Friedhof der Wörter“ von Silvester 2012
„Flüchtling“ soll das Wort des Jahres sein. Es ist das Thema des Jahres und wird das Thema des nächsten sein. Aber was ist ungewöhnlich an dem Wort, das ihm eine Jury zu Ruhm und Ehre verhilft?
Maria und Josef waren Flüchtlinge, als sie mit ihrem Baby nach Ägypten flohen: So alt ist die Geschichte der Flüchtlinge – und noch viel älter. So lange gibt es das Wort oder ähnliche in anderen Sprachen. Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg nennt „Flüchtling“ ein altes Wort und meint: Es ist so alt, dass keiner sein wirkliches Alter kennt.
Die Sprach-Experten vom „Wort des Jahres“ hängen dem „Flüchtling“ ein dunkles Gewand um: „Es klingt für sprachsensible Ohre tendenziell abschätzig“ – wegen der Endung „ling“, auf die auch Wörter wie Eindringling enden, Emporkömmling oder, was Journalisten besonders bedrückt, Schreiberling.
Auch wer nicht besonders sprachsensibel ist, kennt nette „ling“-Wörter. Sollen wir, wegen seiner ling-Tendenz, den Frühling abschaffen? Oder den Liebling, den Säugling und Zwilling, den Pfifferling und Saibling, den Häuptling und Schmetterling?
Aber das Abschätzige, das Experten vermuten, liegt an einer Eigenheit des Flüchtlings: Das Wort ist männlich und sonst nichts. Die „Flüchtlingin“ ist unmöglich in der deutschen Sprache. Das hat Gründe, komplizierte, die Wissenschaftler erklären können, aber sie alle kommen zu dem Schluss: Es kann keine „Flüchtlingin“ geben.
Das werden selbst die Grünen einsehen müssen und sonstige Gender-Aktivisten; aber sie greifen schon zu einem neuen Wort: Die oder der Geflüchtete. Aber bedeutet das neue Wort dasselbe wie der „Flüchtling“?
Nein, sagt der Sprachwissenschaftler Eisenberg:
„Auf Lesbos landen Tausende von Flüchtlingen, ihre Bezeichnung als Geflüchtete ist zumindest zweifelhaft. Umgekehrt wird auch ein aus der Adventsfeier Geflüchteter nicht zum Flüchtling.“
Übrigens: Das Wörterbuch der Brüder Grimm findet einen Beleg für die „Flüchtlingin“ – ein „J.P.“ schrieb vom „vom Busen einer schönen Flüchtlingin“. Das passt.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. Dezember 2015
Quelle für Eisenberg: FAZ, 16. Dezember 2015, Aufmacher Feuilleton „Hier endet das Gendern. Flüchtlinge haben ein Geschlecht, aber das Wort braucht keines“
Der Papst in Rom öffnet eine Pforte und der Bischof in Erfurt; im Kloster auf dem Eichsfelder Hülfensberg kann auch jeder, der durch die Pforte schreitet, einen Ablass gewinnen, so als hätte es Luther nie gegeben.
Das Heilige Jahr hat begonnen. Der Kurienkardinal Mauro Piacenza ist ein moderner Gottesmann und bemüht einen sonderbaren Vergleich:
Der Ablass nimmt als Staubsauger Gottes die Krümel der Sünde weg.
Doch ist der Ablass, der dem reuigen Sünder die Strafe erlässt, nur eine Nebensache. Das Hauptwort des Jahres ist: Barmherzigkeit.
Da hat sich der Papst etwas einfallen lassen: Wer kennt noch „Barmherzigkeit“? Wer spricht es? Es ist ein schwieriges Wort, das eine seltsame Geschichte hinter sich hat. Das „Herz“ verstehen wir noch – aber das „barmen“?
Die Brüder Grimm schauen in ihrem Wörterbuch zur Sprachgeschichte Thüringens: „Sie barmt schrecklich, tut ganz kläglich“, so sprachen unsere Altvorderen; und sie meinten mit „Barmen“ das Lamentieren. Schon sind wir nahe am Erbärmlichen.
So schlingert das Wort vom positiven Klang des Mitleids zum negativen des Jämmerlichen. Schon die Brüder Grimm wunderten sich, wie sich ein Wort so drehen konnte: Erst Herz, dann Elend.
Luther allerdings schwärmte von der Barmherzigkeit: „Nun weiß aber jeder Mann wohl, was barmherzig heißt: Ein Mensch, der gegen seinen Nächsten ein freundlich, gütig Herz trägt und Mitleid mit ihm hat..“
Dann aber drechselt Goethe in einem Gedicht wieder am „erbärmlich“ herum, erfindet „bärmlig“, vielleicht um des Reimes willen, und erhebt den Schwank zum Gegenpol des Erbärmlichen:
Wenn andre bärmlich sich beklagen,
Sollst schwankweis deine Sach vortragen.
Es ist schon ein Kreuz mit den Werken der Barmherzigkeit, meint auch der deutsche Kardinal Walter Kasper. Das schwierigste sei, unangenehme Menschen zu ertragen: „Dann muss man sich anstrengen, nachgiebig und gütig zu sein.“
Ich wünsche allen Lesern meiner Kolumne: Barmherzige Weihnacht!
**
Thüringer Allgemeine, 21. Dezember 2015, Friedhof der Wörter
Rot-Weiß zieht die Reißleine
und trennt sich vom Trainer
Die Überschrift demonstriert die Schwierigkeit, die Sprachbilder bereiten. Das Bild „Reißleine ziehen“ ist nur denen vertraut, die mit dem Fallschirm springen: Die ziehen die Leine, um den Schirm zu öffnen – also den ungebremsten Fall zu stoppen; allerdings ist das Ziehen der Leine geplant und keine panische Reaktion (wie bei den meisten Trainerwechseln).
Weil dem Schreiber der Überschrift offenbar bewusst war, wie wenige das Bild verstehen, übersetzt er es in der zweiten Zeile, damit auch jeder weiß, was passiert ist: Der Trainer wird gefeuert. Warum nutzt der Redakteur dann ein Bild, das nichts mit Fußball zu tun hat, sondern aus einer anderen Bilder-Welt genommen wird? Es herrscht der Glaube, ein Journalist kennt Bilder, nutzt sie souverän und beweist so seine Qualität, Modernität und sein Stilgefühl. Seine Leser teilen den Glauben nicht.
Besonders beliebt ist das Reißleinen-Bild bei Kommentatoren und auf den Wirtschaftsseiten; einige Beispiele aus Tageszeitungen der vergangenen Tage (Dezember 2015):
> Wirtschaft und Reißleine:
Da muss man betriebswirtschaftlich irgendwann die Reißleine ziehen. (14. Dezember)
> Jetzt nicht mehr: Montag musste er die Reißleine ziehen und die Insolvenz beantragen (17. Dezember)
Also die Stop-Loss-Verkäufe, bei denen der halbe Planet an nahezu derselben Kursmarke ‚die Reißleine ziehen‘ will‚ (15. Dezember)
> Fußball, Trainer und die Reißleine
Für internen Eintracht-Zirkels steht bereits seit geraumer Zeit fest, dass die Verantwortlichen dann die Reißleine ziehen (14. Dezember)
> Politik und Reißleine
Mitte Juli dann entschied sich die Landesregierung dafür, die Reißleine zu ziehen und die Berufung zunächst auszusetzen. (17. Dezember)
> Kultur und Reißleine
Also musste der Chor die Reißleine ziehen. (16. Dezember)
Übrigens ziehen Fallschirmspringer nicht an einer Leine, sondern an einem Griff.
Die „Entdeckung der Langsamkeit“ ist sprichwörtlich. Der Berliner Schriftsteller Sten Nadolny hat sie vor drei Jahrzehnten als Buchtitel gewählt; seitdem sprechen weitaus mehr Menschen davon, als je das Buch gelesen haben.
Eine Reihe von Buchtiteln hat diese Sprichwort-Karriere gemacht: Den „Robinson“ kennen viele als gehobenen Urlaubs-Klub, aber nur wenige haben den „Robinson Crusoe“, den Klassiker von Daniel Defoe, je gelesen. Andere Buchtitel inspirierten zu Nachahmungen: Goethes „Leiden des jungen Werther“ sind ein Welterfolg; Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W“, 1972 als Drama in Halle uraufgeführt, zählt zu den erfolgreichsten Texten der DDR.
Doch zurück zur „Entdeckung der Langsamkeit“, die in die Advents-Zeit passt jenseits von Weihnachtsmarkt, Glühwein und Geschenke-Stress. Der Held in Nadolnys Roman ist ein Mensch, der schon als Kind langsam ist, sehr langsam, aber logisch und zielstrebig – und als Polarforscher sogar ein berühmter Entdecker wird.
Solche Vorbilder nutzen geschäftstüchtige Zeitgenossen und bieten Entschleunigungs-Seminare für tausend Euro und mehr an: „Stress-Management für Manager“ oder ein Konzentrations-Wochenende „Bogenschießen im Kloster“.
Es gibt sogar einen „Verein zur Verzögerung der Zeit“, gegründet von einem Universitäts-Professor: Er verpflichtet seine siebenhundert Mitglieder zum Innehalten und Nachdenken statt zu blindem Aktionismus. 75 Euro kostet die Mitgliedschaft im Jahr.
Also – entschleunigt Euch! Wer mit diesem Motto seine Kinder oder nervende Vorgesetzte missionieren will, braucht zwei neue Wörter:
Handy-Nacken: Den bekommen Beschleuniger, die unentwegt auf den Bildschirm schauen. Junge Leute zwischen 17 und 25 schauen regelmäßig drei Stunden am Tag auf ihr Smartphone, durchschnittlich – also einige noch um einige mehr.
Sie verkrümmen ihren Halswirbel und leiden. Unglücklich werden sie zudem, haben Bonner Forscher festgestellt, nachdem sie 60.000 Handy-Nutzer anderthalb Jahre lang beobachtet hatten.
Flugmodus: Diese Einstellung am Handy ist für den Urlaubsflug entwickelt worden, auf dem jedes Senden und Empfangen strikt verboten ist. Doch die Einstellung ist auch ideal zum Entschleunigen: Keine Handy-Musik beim Einkaufen, beim Cafe-Besuch oder gemütlichen Rotwein-Abend zu Hause. Plötzlich merkt man: Es gibt noch eine Welt hinter dem Bildschirm.
**
Thüringer Allgemeine, 14. Dezember 2014, Friedhof der Wörter (hier erweiterte Fassung)
So kennen wir Luther – als Schöpfer der deutschen Sprache und als Erfinder kräftiger und die Jahrhunderte überdauernde Ausdrücke:
Rüstzeug, Fratze, Denkzettel, wetterwendisch, Feuertaufe, Machtwort, Schandfleck, Lückenbüßer, Gewissensbisse, Lästermaul, Lockvogel, zusammengebissene Zähne, Ausposaunen und Tappen im Dunkel.
Diese Wendungen zusammengetragen hat die Übersetzerin Susanne Lange, die in Barcelona lebt. Sie rühmt den Luther für seine prächtigen Übersetzungen der Bibel, aber lenkt den Blick auch auf einen Luther, dessen Sprache recht weit entfernt ist von unserer.
Diese Erfahrung macht jeder, der die Lutherbibel im Original liest: Die Sätze sind anders konstruiert, als wir es heute tun; die Worte taumeln scheinbar wild durcheinander. Es ist keine Freude, das Original zu lesen, selbst wenn man von der altertümlichen Schreibweise absieht und manchen Wörtern, die längst begraben sind auf dem Friedhof der Wörter.
Luther bekäme heute auch manch roten Kringel als „Ausdrucksfehler“ im Deutschaufsatz. Denn verpönt ist die Wiederholung von Wörtern, die Luther schätzte:
„Pharao sprach: Ihr seid müßig, müßig seid ihr. Darum sprecht ihr: Wir wollen hinziehen und dem HERRN opfern.“
Diese Wiederholung unterläuft Luther nicht einfach, weil ihm kein anderes Wort mit ähnlichem Sinn einfällt: Die Wiederholung ist Absicht, ist mehr als ein Echo, sie gibt dem Wort des Pharaos Kraft und Macht – sie prägt sich ein.
Die Übersetzerin Susanne Lange nennt diese Wiederholung eine „wandernde Wiederholung“, weil nicht einfach das Wort verdoppelt wird, sondern wiederkehrt in einer neuen Satzkonstruktion: Im ersten Teil „Ihr seid müßig“ steht „müßig“ als Teil des Verbs am Ende, so wie wir es kennen; im zweiten Teil beginnt der Satz mit „müßig“, also einer ungewohnten Satzstellung. Wer jetzt nicht auf das „müßig“ aufmerksam geworden ist, ist ein schwacher Leser.
Sprache ist mehr als eine Ansammlung von Wörtern, Sprache hat einen Rhythmus – und nicht nur in der Literatur. Luther lässt die Wörter tanzen.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 30. November 2015
Diese Kolumne folgt dem Essay von Susanne Lange in dem Buch „Denn wir haben Deutsch“ (Matthes & Seitz-Verlag, 336 Seiten, 24.90 Euro).