Alle Artikel der Rubrik "G. Wie Journalisten informieren"
Fast alle Urteile des Verfassungsgerichts zu Durchsuchungen in Redaktionen enden mit dem Urteil: Verfassungswidrig! – so auch zur Durchsuchung der Berliner Morgenpost vor drei Jahren. Dem Verfassungsgericht schwant, warum der Staat trotzdem immer wieder durchsuchen lässt: Er will Informanten abschrecken. Das Bundesverfassungsgericht erklärt deshalb deutlich:
Der Schutzbereich der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) umfasst den Schutz vor dem Eindringen des Staates in die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit sowie in die Vertrauenssphäre zwischen den Medien und ihren Informanten. Dieser Schutz ist unentbehrlich, weil die Presse auf private Mitteilungen nicht verzichten kann, diese Informationsquelle aber nur dann fließt, wenn sich der Informant grundsätzlich auf die Wahrung des Redaktionsgeheimnisses verlassen kann. Eine Durchsuchung in Presseräumen stellt wegen der damit verbundenen Störung der redaktionellen Arbeit und der Möglichkeit einer einschüchternden Wirkung eine Beeinträchtigung der Pressefreiheit dar.
Die Chronik:
Am Mittwoch, 28. November 2012 durchsuchten Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt Privatwohnung und Arbeitsplatz des Chefreporters der Berliner Morgenpost, weil sie dem Reporter die Bestechung eines Polizeibeamten vorwarfen.
Um 6.55 Uhr begannen die Ermittler ihre Arbeit mit der Durchsuchung der Privatwohnung des Chefreporters. Eine Nebenrolle bei den Vorwürfen spielt eine SMS, in der sich der Polizist bei dem Reporter für 100 Euro bedankte. Dabei handelte es sich um eine Auslage für zwei Jacken, die der LKA-Beamte in einem Polizei-Shop für den Reporter und einen weiteren Kollegen erworben hatte. Dort können Polizisten einkaufen. Der Morgenpost-Reporter gab ihm später das Geld für die Jacken zurück.
Um 8.30 Uhr begann auch die Durchsuchung in den Büroräumen im Verlagshaus der Axel Springer AG. Die Morgenpost gehörte 2012 noch zum Springer-Verlag, mittlerweile gehört sie zum Funke-Konzern in Essen.
Berlins Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) informierte zeitgleich den Chefredakteur der Berliner Morgenpost, Carsten Erdmann. Heilmann sollte im Auftrag des ermittelnden Staatsanwalts zu einer Deeskalation der Situation beitragen, sagte eine Sprecherin der Justizverwaltung gegenüber der dpa.
Nach Eintreffen der Ermittler wurden ihnen die gesuchten Rechnungen sofort ausgehändigt, um so den Vorwurf der Bestechung zu entkräften. Dennoch bestand die Staatsanwaltschaft weiter auf der Durchsuchung. Die Beamten beschlagnahmten weitere Unterlagen, darunter sogenannte „Zufallsfunde“, also Unterlagen, die nichts mit den aktuellen Vorwürfen zu tun haben. Dazu gehörte auch Material zu Kriminalfällen, mit denen sich der Chefreporter intensiv beschäftigt hatte.
Zur Vorgeschichte:
Mitte der 90er-Jahre verschwand der zwölfjährige Manuel Schadwald aus Berlin-Tempelhof. Jahrelang gab es Gerüchte, dass er Opfer von Pädophilen geworden sein könnte. Immer wieder tauchte in diesem Fall auch der Name des belgischen Kinderhändlers Marc Dutroux auf. Der Chefreporter der Berliner Morgenpost recherchierte und berichtete zusammen mit einem Kollegen über das Verschwinden des Berliner Jungen.
2010 meldete sich plötzlich ein neuer Informant. Es ergab sich erneut eine Spur, die nach Holland führte. Im Frühjahr 2011 reisten die beiden Journalisten nach Amsterdam. Der Verlag bestand darauf, dass auf der Recherche-Reise ein besonderer Sicherheitsstandard eingehalten wurde. Denn im Umfeld des Kinderhändler-Rings von Marc Dutroux starben schon mehrere Zeugen. Neben zwei Personenschützern einer privaten Sicherheitsfirma wurde auch ein Sicherheitsexperte des Berliner Landeskriminalamts engagiert.
Diesen kannte der Chefreporter seit vielen Jahren persönlich und vertraute ihm daher besonders. Der Beamte begleitete die Reporter außerhalb seiner Dienstzeit nach Amsterdam. Dafür erhielt der Polizist einen Tagessatz von 500 Euro. Solche Tagessätze gelten in der Sicherheitsbranche als üblich. Nach Angaben der Berliner Kuhr Security, die auch Personenschutz übernimmt, betragen die Kosten bei Auslandseinsätzen sogar deutlich mehr. Die Recherchen in Amsterdam dauerten vier Tage. Hinzu kamen Kosten für Flugtickets, Mietwagen und Hotel in Höhe von gut 1000 Euro. Damit belief sich die Gesamtsumme auf gut 3000 Euro.
In Amsterdam stießen die Reporter auf Hinweise, dass es ein Kapitalverbrechen gegeben haben könnte. Doch es gab nur eine Quelle, zu wenig für eine seriöse Berichterstattung. Die Hinweise wurden später der Berliner Polizei zur weiteren Prüfung übergeben. Dafür trafen sich die Reporter mit dem damaligen Leiter der Pressestelle Frank Millert und dem Dezernatsleiter für Sexualdelikte, um die Recherche-Unterlagen auszuhändigen.
Die Staatsanwaltschaft scheint bei der Fahrt nach Amsterdam von einer Vergnügungsreise auszugehen und leitet daraus den Vorwurf der Bestechung ab. Das der Berliner Polizei übergebene Material lässt aber eindeutig einen anderen Schluss zu: Die Reise war eine Recherche-Reise – mit persönlichem Risiko für die Reporter der Berliner Morgenpost. Nach der Übergabe der Unterlagen an die Berliner Polizei passierte lange Zeit nichts.
Mitte 2012 geriet der Beamte, der die Reporter in Amsterdam begleitet hatte, in Verdacht, eine geplante Razzia im Rockermilieu an Journalisten verraten zu haben. Die Polizeiführung leitete ein Verfahren wegen Geheimnisverrats an. Auf dem Computer und auf dem Handy des Beamten fanden die Ermittler eine Rechnung für die Recherchereise nach Holland in Höhe von gut 3000 Euro und die Telefonnummer des Morgenpost-Reporters.
Die Rechnung war für die Staatsanwaltschaft der Hauptgrund für den Vorwurf der Bestechung. Denn für Informationen darf kein Geld an Behördenmitarbeiter gezahlt werden. Das wäre Bestechung.
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Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 28. August 2015:
Das Gericht teilt auf der Internet-Seite mit (hier in Auszügen):
Die Durchsuchung in Redaktionsräumen oder Wohnungen von Journalisten darf nicht vorrangig dem Zweck dienen, den Verdacht von Straftaten durch Informanten aufzuklären. Erforderlich sind vielmehr zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat der konkret betroffenen Presseangehörigen, die den Beschlagnahmeschutz nach § 97 Abs. 5 Satz 1 Strafprozessordnung entfallen lässt…
Ein bloß allgemeiner Verdacht, dass dienstliche Informationen an die Presse weitergegeben wurden, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Im vorliegenden Fall ging es den Strafverfolgungsbehörden zumindest vorwiegend um die Ermittlung belastender Tatsachen gegen einen Informanten aus Polizeikreisen. Diesem sollen Geldbeträge für Informationen zu bevorstehenden Ermittlungsmaßnahmen gezahlt worden sein. Bezogen auf dessen Kontakt zu den Beschwerdeführern handelt es sich jedoch um bloße Mutmaßungen.
Zum einen berichtete nicht der beschwerdeführende Zeitungsverlag über die bevorstehende Razzia, sondern ein mit diesem nicht zusammenhängendes Online-Portal. Weder dem Durchsuchungsbeschluss noch der Beschwerdeentscheidung ist zum anderen zu entnehmen, für welche Informationen Geld gezahlt worden sein soll. Der Tatbestand der Bestechung verlangt jedoch schon einfachrechtlich die Vornahme einer hinreichend konkreten Diensthandlung. In Bezug auf die Beschwerdeführer mangelt es daher an zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten für eine Straftat, die den Beschlagnahmeschutz entfallen lässt.
Ferner lässt sich aus dem bloßen Umstand, dass der mitbeschuldigte Polizeibeamte ein auf eine fingierte Person angemeldetes „Journalisten-Handy“ nutzte, nicht auf einen Tatverdacht der Bestechung gerade gegen die Beschwerdeführer schließen. Auf dem Handy waren die Namen des Beschwerdeführers und eines Journalisten des Online-Portals gespeichert. Dies mag dafür sprechen, dass der Informant dienstliche Geheimnisse an Journalisten weitergegeben hat.
Wegen des in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Informantenschutzes rechtfertigt das bloße Interesse der Strafverfolgungsbehörden, dies zu erfahren, jedoch keine Durchsuchung in den Redaktionsräumen von Presseorganen, sofern nicht erkennbar ist, dass auch gegen diese selbst strafrechtlich relevante Vorwürfe zu erheben sind. Was für eine Weitergabe der Informationen über eine Razzia gerade an den Beschwerdeführer sprechen soll, obwohl ein anderes Online-Magazin, für das der andere eingespeicherte Journalist tätig war, über diesbezügliche Ermittlungsmaßnahmen vorab berichtete, bleibt unklar.
Auch aus dem Vermerk auf der Rechnung lässt sich nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf eine Bestechung schließen. Die Rechnung bezog sich auf die Reise nach Amsterdam, für deren Ermöglichung sich der Beamte dienstunfähig gemeldet hatte. Es erscheint daher nicht fernliegend, dass der Beamte disziplinarrechtliche Konsequenzen wegen der falschen Krankmeldung und mangelnden Nebentätigkeitsgenehmigung befürchtete. Ein Verdacht gegenüber den Beschwerdeführern folgt hieraus jedoch nicht.
Quellen: Berliner Morgenpost und Bundesverfassungsgericht
Was ist richtig: Das Dorf an der Grenze wurde geschleift? Oder: Das Dorf wurde geschliffen? Fügen wir diese Frage einem Test hinzu, den man sinnvoll zum Trauer-Jubiläum der Rechtschreibreform veröffentlichen könnte.
Leser beschweren sich gerne über Schludrigkeiten in unserer Zeitung, die in der Eile des journalistischen Geschäfts geschehen und die auch der Gegenleser in der Fülle der Wörter überliest. Freuen wir uns über jeden Leser, der wirklich schwere Fehler entdeckt – wie den Weimarer Professor Siegfried Freitag. Er fragt in einem Brief an die Thüringer Allgemeine: „Ist hier Sprachgefühl ein wenig verloren gegangen?“, und meint schwere Fehler in meiner Serie „Die Grenze“.
Dort habe ich Dörfer „geschliffen“ statt „geschleift“. Aber richtig ist: Diamant werden geschliffen, Dörfer werden geschleift. Selbst der Duden achtet noch auf den Unterschied, obwohl er sich bei anderen Wörtern schon beugt wie bei „gewinkt“ (richtig) und „gewunken“.
Dörfer, die geschliffen wurden, wären nicht vom Boden der DDR verschwunden, sondern hätten den Wettbewerb zum schönsten Dorf gewonnen: Solch feinen, aber gewichtigen Unterschied nennt Professor Freitag zu Recht „Sprachgefühl“.
Brigitte Grunert schreibt die Sprach-Kolumne des Berliner „Tagesspiegel“. Sie entdeckte, wie die Grünen-Politikerin Claudia Roth im Wahlkampf auch übers Schleifen stolperte – und das Gegenteil von dem sagte, was sie sagen wollte. Als sie sich über den Plan der FDP aufregte, Steuern zu senken, meinte sie:
„Wenn es eine Entlastung der Besserverdienenden geben soll, dann kann das nur heißen, dass der Sozialstaat geschliffen werden soll.“
Das bedeutete: Der Sozialstaat wird leuchten wie ein geschliffener Diamant, wenn Politiker die Steuern senken. Das Gegenteil wollte sie sagen.
Wahrscheinlich werden ihre Anhänger „geschleift“ verstanden haben. Gleichwohl stimmt, was die Berliner Sprachexpertin Grunert schreibt: „Ach, geschliffenes Deutsch ist rar, aber es lohnt sich, die Bemühungen darum nicht schleifen zu lassen.“
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 24. August 2015
Wer weiß schon außerhalb von Bayern, dass der sperrigste katholische Feiertag, „Maria Himmelfahrt“, im katholischen Bayern und im Saarland ein echter Feiertag ist: Keine Arbeit, keine Geschäfte. Er liegt gut mitten im Sommer, wenn die Biergärten geöffnet sind.
Das norddeutscheste aller Magazine richtet sich auch nach Maria – und erschien in dieser Woche schon am Freitag. Stefan Kläsener, Chefredakteur des Flensburger Tageblatts, schreibt in seinem täglichen Newsletter:
Früher war Montag einmal „Spiegel-Tag“. Irgendwann erscheinen die Nachrichtenmagazine vermutlich früher als die Dinge geschehen, über die berichtet wird.
Wenn wir immer nach dem Warum fragen, könnten wir nur monatlich erscheinen. Ich bin nicht im Geringsten an den Fakten interessiert, ich befasse mich nur mit dem Gesetz.
So spricht der Anwalt mit der Reporterin, die sich in einer investigativen Recherche verstrickt hat. Ich habe mir wieder einen der guten alten US-Reporter-Filme angeschaut: Sydneys Pollacks „Die Sensationsreporterin“ von 1981. Der kühle zynische Anwalt, gespielt von Wilford Brimley, bringt die idealistische junge Reporterin, gespielt von Sally Field, reichlich ins Grübeln, wenn er fortfährt:
Die Frage ist nicht, ob ihre Story wahr ist. Die Frage ist, wie können wir uns schützen, wenn sie sich als unwahr herausstellt… Es ist vor dem Gesetz irrelevant, ob ihre Story wahr ist.
Und er empfiehlt der Reporterin, ohne Skrupel ein Dementi zu drucken, um den Eindruck von Fairness hervorzurufen – „und wenn er es ablehnt, können wir kaum verantwortlich sein für die Fehler, die zu korrigieren er sich weigert“. Und wenn wir ihn nicht erreichen?, fragt die Sensationsreporterin. „Dann haben wir es wenigstens versucht“, antwortet der Anwalt. Das reicht.
Einem Leser missfällt, wenn Menschen, die an der DDR-Grenze gelebt und gelitten haben, zu Wort kommen – und „in die Rolle eines Opfers der DDR gerückt werden“. Seit einigen Wochen ist in der Thüringer Allgemeine die Serie „Die Grenze“ zu lesen, eine politische Wanderung entlang der kompletten innerdeutschen Grenze.
„Leider, ich weiß nicht aus welchen Gründen auch immer, kommen Ihre Darstellungen nicht ohne das Bedienen von Ressentiments aus“, schreibt der Leser. Er habe andere Erfahrungen gemacht, so hatte er beispielsweise „jahrelang permanent unmittelbar (in wenigen Meter Abstand) an der Grenze zu tun und durfte dies auch, ohne auch nur hundertprozentig zu sein, denn ich war weder Genosse und auch kein IM“.
Er schließt seine freundliche Mail: „Es kommt mir manchmal so vor, dass ähnlich wie zu DDR-Zeiten, wo kaum ein Fachvortrag ohne die Erwähnung des x-ten Parteitages der SED begann, auch heute in vielen Artikeln in mindestens einer Passage auf die permanente Unterdrückung und Unfreiheit hingewiesen werden muss, sei es auch mit Un- oder Halbwahrheiten. Vielleicht lassen sich auch solche nicht unbedingt relevanten Aussagen auf ihren objektiven Wahrheitsgehalt vor einer Veröffentlichung überprüfen.“
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:
Es ist kaum möglich, an der Grenze jene links liegenzulassen, die von Schikanen, Vertreibungen und Unfreiheit, von Tod, Verstümmelung und unbewältigten Träumen berichten. Es dürfte auch schwer möglich sein, diese Geschichten als unwichtig zu erachten, wenn wir die Wahrheit der Geschichte erkunden.
Was ist der „objektive Wahrheitsgehalt“ der Aussage eines Bruders, der immer noch unter der Enthauptung seines Bruders leidet? Was ist der „objektive Wahrheitsgehalt“ der Aussage eines Menschen, den heute noch die Blicke der Arbeiter verfolgen, wenn er als junger Häftling in einen Betrieb einmarschierte?
Wie sollen wir ein Trauma, eine tiefe Verletzung überprüfen? Und – wer hat das Recht, diesen Menschen ihre Erfahrungen zu nehmen? Sicher sind das subjektive Erfahrungen, aber auch diese Erfahrungen gehören zur Geschichte.
Wo es möglich ist, haben wir in Dokumenten geforscht, haben Briefe und Urkunden gesichtet – und zitieren eifrig daraus. Wenn die Wahrheit im grauen Nebel verschwindet – wie beim Tod des Grenzers Rudi Arnstadt oder den Schüssen auf Wahlhausen -, dann schreiben wir auch das.
Aber den Opfern ihr Opfer zu bestreiten, käme einer zweiten Erniedrigung gleich. Es zu verschweigen, wäre zumindest unwahrhaftig.
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Thüringer Allgemeine, 8. August 2015, Leser fragen
Kommentare von Lesern online:
- raue verkauft dir auch Schmirgelpapier als toilettenpapier
- Und worin liegt der objektive Wahrheitsgehalt in den Aussagen eines Wessis, der die DDR nie selbst erlebt hat und sie nur vom Hörensagen kennt, Herr Raue?
Eine „treue Leserin“, die ihren Namen verschweigt, schickt an den Chefredakteur der Thüringer Allgemeine eineTrauerkarte, wie man sie zu einem Todesfall versendet, packt dazu einen Bericht über den Zschäpe-Prozess und fragt: „Wie lange werden noch Seiten von Ihrer Zeitung damit gefüllt?“Sie ergänzt die Frage mit diesen Kommentaren: „Das Geld könnte wirklich an anderen Stellen nötiger gebraucht werden. Die Dame spielt doch mit der Justiz.“
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Werte treue Leserin,Sie haben Recht: Beate Zschäpe spielt mit Richtern, Opfern, Nebenklägern und mit ihren Verteidigern – und sie spielt mit unserem Rechtsstaat. Sie hasst offenbar unsere Demokratie, sie zählt sich zu einer Bande, die mit Menschen, die sie zu Opfern erklären, kurzen Prozess machen; wahrscheinlich verachtet sie auch uns, die mit ihr im Gerichtssaal und in der Öffentlichkeit fair umgehen.
Wenn Zschäpe und ihre Mitstreiter, wenn Neonazis und Terroristen die Macht hätten, dann bekämen wir eine Justiz der kurzen Prozesse. Wir wissen von den Diktaturen in Deutschland, wie ein Staat das Recht beugt: Die Urteile stehen schon vorher fest, sie werden von oben den Richtern diktiert; es geht nicht um die Wahrheit, es geht um Exempel, die statuiert werden, es geht um das Schüren von Angst. Solch einen Unrechtsstaat wollen wir nicht mehr.
Es würde Beate Zschäpe so passen, wenn wir nichts mehr berichteten, wenn der Prozess platzte, wenn wir einfach zur Tagesordnung übergingen. Doch wir bleiben dabei, wir hören aufmerksam zu. Der Prozess macht an nahezu jedem Tag deutlich: Es geht nicht nur um eine Frau, die uns nicht in die Augen blicken will, sondern um einen großen Kreis von Sympathisanten, der eine beispiellose Mordserie ermöglicht hat.
Wir schauen in den Untergrund unserer Gesellschaft, der noch lebendig ist. Das ist ein Grund, warum wir weiter berichten müssen: Dieser Hass auf unsere Gesellschaft verschwindet ja nicht, wenn wir ihn nicht mehr wahrnehmen – im Gegenteil: Er wuchert noch schneller.
Der zweite Grund ist unser Rechtsstaat: Wir zeigen, dass sich unsere Demokratie nicht von ihren Feinden verbiegen lässt. Und wir, als unabhängige Journalisten, und Sie als wache Leser und Bürger, achten darauf, dass die Wahrheit ans Licht kommt.
Wir stellen zudem Öffentlichkeit her, damit die Unbelehrbaren sehen, wie fair wir mit denen umgehen, die unseren Staat zerstören wollen.
Sicher kostet das Geld. Aber Recht ist am Ende viel preiswerter als Unrecht.
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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 1. August 2015
Das Wort sollten Sie sich merken, auch wenn es ein englisches ist: Bullshit. Das Wort zählt nicht zur Hochsprache und bedeutet wörtlich: Bullenscheiße. Weil Bullenscheiße einfach zu vulgär ist, bleiben wir beim Bullshit.
Die meisten Kandidaten für unseren „Friedhof der Wörter“ sind Bullshit:
- Wenn die Kanzlerin „alternativlos“ sagt: Bullshit!
- Wenn ein Verkäufer den Geländewagen als „umweltfreundlich“ anpreist: Bullshit!
- Wenn „natürliches Aroma“ aus Kräuter, Blüten und Dill erzeugt wird: Bullshit!
- Wenn ein Biomarkt „anthroposophisches Gemüse, geerntet bei Vollmond“ verkauft: Bullshit!
Es gibt sogar einen Bullshit-Philosophen: Der Amerikaner Harry Frankfurt. Er warnt: Bullshit richtet mehr Schaden an als Lügen. Er schaut sich vor allem bei Politikern und Werbetextern um, in Behörden, bei Esoterikern – und bei Journalisten.
Schon Rudolf Augstein, der Gründer des Magazins „Spiegel“, war sicher: Mindestens ein Artikel jeder Ausgabe ist unverständlich. Ob unsere Zeitung eine Ausnahme macht?
In Konferenzen versuchen Redakteure, die Augstein-Regel zu durchbrechen. Aber es ist ein schier aussichtsloser Kampf: In jeder Konferenz gibt es einen, der Unsinn geschrieben hat, aber all seine Intelligenz einsetzt, ihn zu rechtfertigen. Ich bin sicher, dass dies in Unternehms-, Gewerkschafts- und Schulkonferenzen ähnlich ist, in Kabinetts-Sitzungen erst recht.
„Wir können wirklich nicht ohne Wahrheit leben“, schreibt der Bullshit-Philosoph Frankfurt. Aber ohne Bullshit werden wir nicht auskommen, meinen Tobias Hürter und Max Rauner, die Journalisten, die ein schönes Buch geschrieben haben: „Schluss mit dem Bullshit. Auf der Suche nach dem verlorenen Verstand“.
Sie raten: Lacht über den Bullshit! Stellt die Bullshitter bloß! Nehmt sie nicht ernst! Aber auch die Gegner des Bullshits kommen nicht ohne ihn aus – etwa bei einem netten Gespräch, einem Smalltalk. Dafür gibt es übrigens schon Computer-Programme, die automatisch Bullshit erfinden und Tiefgang vortäuschen.
In einem eigenen Kapitel gehen Hürter und Rauner auch auf Medien und Bullshit ein: Da gibt es den Boulevard, ohne den viele Menschen nicht auskommen – auch wenn sie das, was dort geschrieben steht, nicht glauben, erst recht ihm nicht vertrauen. Im Gegensatz zu bunten Blättern halten Hürter und Rauner die Bildzeitung für gefährlich:
Im Kern ist zumeist was Wahres dran, aber es ist bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Die Bild-Macher haben die Kunst perfektioniert, haarscharf an der Grenze vom Bullshit zur Lüge zu bleiben.
Selbst seriöse Medien geraten schnell in ein bullshitträchtiges Milieu, weil sie Nachrichten immer weiterdrehen müssen, „notfalls mit Gewalt“, weil nichts Neues zu berichten ist. Sie bedienen Sterotypen, bieten Schnipsel an statt der „ganzen Wahrheit“, befriedigen ein „tiefes menschliches Bedürfnis“: „Die Neugier. Nach der Lektüre hat man das beruhigende Gefühl, Bescheid zu wissen.“
Sie heben Rolf Dobelli hervor, den Schweizer-Bestseller-Autor, der keine Zeitungen mehr liest, diese „billigen Zuckerbonbons für den Geist“, sondern nur noch Bücher.
Man kann die Medien durchaus als Bullshit-Fabriken bezeichnen, schließen die Journalisten – und drehen sich noch einmal um die eigene Achse und zitieren den Philosophen Alain de Botton, der Bullshit preist, weil er Geschichten erzählt, „die uns mitfühlen lassen“, eben die berühmten Geschichten, die man sich seit altersher am Lagerfeuer erzählt.“Glamour ist nicht bloß lustig und albern,er ist eine wichtige Kraft des gesellschaftlichen Wandels“, sagt de Botton.
Wem dieser Medien-Bullshit zu dünn erscheint, wandere aus auf eine intellektuelle Spielwiese, die Hürter und Rauner erwähnen: Die Philosophen Mail (Philosophers‘ Mail), ein Blog, in dem Philosophen ein Jahr lang Nachrichten philosophisch erzählten (auf englisch). Den Blog haben sie beendet und beginnen einen noch aufregenderen: Das Buch des Lebens (www.thebookoflife.org) mit den sechs Kapiteln Kapitalismus, Arbeit (darin zum Beispiel: Die Leiden der Führung), Beziehungen („How to start having sex again„), Ich, Kultur und Curriculum. Lesen!
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Das Bullshit-Buch erscheint im Piper-Verlag: 304 Seiten, 16.99 Euro
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 3. August 2015 (hier erweiterte Fassung)
Das ist die Zeile des Aufmachers im Flensburger Tageblatts:
Bundeswehr sorgt sich um Husumer Soldaten in der Türkei
Die Schutzvorkehrungen für die entsandte Flugabwehr-Einheit wurden verschärft. Der Grund ist der Anschlag in Suruc.
Das geht doch nicht! sagen die Hohepriester des seriösen Journalismus, das ist doch provinziell! So ähnlich dürfte auch die Redaktion in Flensburg diskutiert haben, wie man dem Newsletter von Stefan Kläsener entnehmen kann. Der neue Chefredakteur der nördlichsten Redaktion in Deutschland schreibt:
Bis Abends waren wir uns in der Redaktion uneins – wirkt die Geschichte über unsere Husumer Soldaten in der Türkei zwangsregionalisiert oder ist die Seite Eins der richtige Platz? Beim Lesen heute Morgen waren wir dann alle überzeugt. Und auch die Resonanz unserer Leser ist groß – eine richtige Entscheidung. (29. Juli 2015)
Die Leser haben, wie so oft, einfach Recht. Weiter so im Norden!
Was geschah wirklich an der innerdeutschen Grenze? Wie lebten die Menschen am Todesstreifen? Wie die Westdeutschen im Zonengrenzgebiet? Wie leben sie heute? Die Thüringer Allgemeine erzählt die Antworten in einer umfangreichen Sommer-Serie „Die Grenze“. Diese „politische Wanderung“ provoziert bei den Lesern auch Widerspruch:
„Von was soll uns diese regelmäßige einseitige Geschichtsaufarbeitung eigentlich wieder ablenken, von der Abriegelung des Gaza-Streifens, von der Bedrohungslage durch TTIP und TISA?“, fragt ein Leser, der sich im Internet des hübschen Nicknames „erfordyx“ bedient; Nickname ist die englische Bezeichnung für einen Spitznamen, meint aber in Internet-Kommentaren die Anonymität, das Verschweigen des eigenen Namens.
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Die Frage erinnert mich an drei Zeilen des Gedichts „An die Nachgeborenen“ von Bertolt Brecht, der bis zu seinem Tod in der DDR lebte:
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Brecht war vor den Nazis auf die dänische Insel Fünen ins Exil geflüchtet; dort entstand sein Gedicht, das mit der fast sprichwörtlich gewordenen Zeile beginnt: „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“.
Die Zeiten waren finster: In den Zeitungen stellten die Nazis die Verfolgung der Juden als ehrenvolle Tat dar, und alle schwiegen, keiner durfte sie öffentlich eine Untat nennen.
Heute haben wir in Deutschland einen so vielstimmigen Chor in den Zeitungen und Magazinen, dass es eine andere Schwierigkeit gibt: Wer behält noch den Überblick? Wer schreibt die Wahrheit? Welcher Meinung kann ich folgen?
Nehmen Sie das Freihandelsabkommen mit den USA, kurz TTIP genannt: Sie finden Dutzende von Artikeln und Kommentaren in unserer Zeitung, manche eine komplette Seite füllend; sie können viele Briefe unserer Leser entdecken mit unterschiedlichen Meinungen.
Dabei nehmen wir als Zeitung für Thüringer die Perspektive unserer Leser ein: Was bedeutet TTIP für die Wirtschaft in Thüringen, für die Arbeitsplätze und unseren Wohlstand?
Wir wissen aus vielen Gesprächen mit unseren Lesern, dass sich viele für die Geschichte unseres Landes interessieren. Im 25. Jahr nach der Einheit sind wir entlang der kompletten Grenze zwischen Ost und West gewandert, als erste Zeitung in Deutschland überhaupt: Das erwarten viele Leser von uns in dem Land, das den längsten Abschnitt dieser Grenze hatte.
Und warum? Man muss auch die Vergangenheit kennen, vor allem die Schrecken, um wachsam zu bleiben. Zitieren wir noch einmal Brecht; er schließt sein Drama „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ mit den Zeilen:
Dass keiner uns zu früh da triumphiert. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!
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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 25. Juli 2015
Z0R0009978616
Mit einem optimistischen Satz über den Wert der Freiheit beschließt Laura Poitras ihre lange Klage gegen ein Amerika, das Grundsätze seiner Demokratie immer mehr verrät, den Bürgern Freiheiten nimmt und sie sogar bespitzelt. Die US-Bürgerin Poitras bekam den Oscar für ihren Dokumentarfilm über Snowden; sie ist Gründerin der Stiftung „Freedom of the Press“.
Sie beklagt:
- Der US-Staat verletzt seine eigenen Gesetze wie die Freiheit der Presse, weil er beispielsweise ihre Unterlagen bei jeder Einreise kopieren lässt;
- er beantwortet ihre Fragen nicht, wie intensiv sie überwacht wird:
- er lässt keine Klagen zu von Menschen, die er entführt und gefoltert hat;
- er unterhält seit 13 Jahren das illegale Guantanamo, tötet Menschen ohne Gerichtsurteil durch Drohnen, führt Angriffskriege;
- er zerstört Teile des Rechtsstaates – und das steht in keinem Verhältnis zu der Gefahr durch den IS und andere;
- er ist nicht das demokratische Vorbild, das er vorgibt, sein zu wollen.
Relativ sicher fühlt sie sich in Deutschland, wo sie ihre Tagebücher und verschlüsselten Festplatten versteckt. „Ich denke, die Erfahrungen des Sozialismus und die Stasi-Vergangenheit haben dazu geführt, dass man in Deutschland geschützter ist. Das Land hat aus seiner dunklen Vergangenheit gelernt.“ Aber die bleibt auch – im Vergleich zum Schrecken, der anderswo herrscht – eine Optimistin mit Blick auf ihr Land:
Trotz der ernsten Bedenken, die ich habe, wenn ich darüber nachdenke, in welche Richtung sich mein Land bewegt: Wir haben immer noch die Freiheit der Rede. Anders als viele andere Länder, in denen Journalisten um ihr Leben bangen müssen, wenn sie die Wahrheit öffentlich machen. Ich hätte diese Fragen (im Interview) nicht beantworten können, wenn ich nicht diese Freiheit hätte.
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Quelle: FAZ, 18. Juli 2015, Interview von Ursula Scheer „Amerikas Politik schafft Terror und Chaos“