Alle Artikel der Rubrik "G. Wie Journalisten informieren"

Ethik nach dem Absturz (4): Es gibt respektable Gründe, den Namen des Kopiloten zu nennen

Geschrieben am 22. April 2015 von Paul-Josef Raue.

„Absurd“ nennt  FAZ-Onlinechef Mathias Müller von Blumencron die Diskussion über die Namens-Nennung des Kopiloten des German-Wings-Flugs 4U9525.  „Die ganze Diskussion darüber ist merkwürdig und wird außer in Deutschland auch nirgendwo geführt“, sagt er in einem W&V-Interview.

Absurd war die Diskussion, weil viele Medien wortreich begründeten, warum der Name genannt oder eben nicht genannt wurde. War dies quasi das Gegenstück zum Eskalationsjournalismus? Statt lautstarker Versuche, mit mehr oder weniger wichtigen Informationen große Resonanz zu erzeugen, die anbiedernde, fast peinliche Erklärung, warum man etwas so oder so sieht?

Auf die Frage von Volker Schütz: „Gehört zu dem von Ihnen beschworenen Qualitätsjournalismus auch die volle Namensnennung?“ antwortet Blumencron:

Selbstverständlich. Der Mann hat 149 Menschen in den Tod gerissen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer dieser Mann war. Denn nur seine Biografie kann uns helfen, diesen Irrsinn zu verstehen. Und dabei helfen, dass wir die Mechanismen verbessern, um eine Wiederholung zu verhindern.

Blumencron geht auf den Vorwurf ein, Medien bauschen auf, suhlen sich in der Sensation, eskalieren:

Bei der Berichterstattung über dieses Ereignis gab es nichts zum Eskalieren. Diese Tat selbst ist eine der größten vorstellbaren Eskalationen. Selbst wenn ich mich dem Ereignis ganz nüchtern nähere, und nichts anderes ist angemessen, entfalten die Berichte eine ungeheuerliche Wucht. Und das ist für viele Leser verstörend: Die Wirklichkeit ist kaum auszuhalten.

Aber wie sollen  wir umgehen mit den Lesern, die sich einmischen in unsere Debatten, die Medien beobachten wie nie zuvor, die kritisieren und verstören:

Das bedeutet: Journalisten müssen manchmal erklären, warum sie wie berichten. Das ist gut so, das ist nicht anbiedernd. Man darf allerdings keinesfalls das Gefühl erzeugen, permanent über sich selbst zu philosophieren. Unser Geschäft ist die Aufklärung über den Gang der Welt, nicht über den Gang einer Redaktion.

(W&V 16.4.)

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Das Dart-Center: Wachsendes Bewusstsein für Ethik

Es lohnt für uns Journalisten ein Blick ins „Dart-Center“, in dem sich Psychologen und Journalisten um traumatische Erfahrungen kümmern: Wie gehen Journalisten mit traumatisierten Menschen nach einer Katastrophe um? Wie erkennen sie Traumata? Wie gehen Journalisten mit ihren eigenen Traumata um?

Auf ihrer Homepage stellen die Dart-Center-Experten das neue Phänomen fest:

Die Berichterstattung der Tage direkt nach dem Unglück zeichnet sich auch dadurch aus, dass Medienkritiker fast zeitgleich mit der akuten Berichterstattung schon zu Achtsamkeit und zum differenzierten Umgang mit den Informationen und Angehörigen mahnten. In den sozialen Medien wurde der Absturz selbst fast genauso leidenschaftlich besprochen, wie die Berichterstattung über den selben.

Das „Dart Center für Journalismus und Trauma“ kommt zu dem Ergebnis: „Der Germanwings-Absturz war nicht unbedingt “ein Absturz des Journalismus” war, sondern auch ein Zeichen  für ein wachsendes Bewusstsein für Ethik in der Berichterstattung.“

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Hatte der Co-Pilot gute Absichten? 

Ein ungewöhnliches Argument finde ich in einem Kommentare auf persoenlich.com: War der Copilot „vielleicht war er sogar in der Meinung ,gut‘ zu handeln?“ Deshalb könne man den Co-Piloten ein Opfer nennen.

Ein Kommentator entgegnete: „‚Gut‘ zu handeln“ – wie krank ist das? Damit kann man alles entschuldigen. Hitler war dieser Meinung, Stalin, Breivik. Alle meinten es nur gut.“

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Beim 11. September nannten wir die Namen der (muslimischen) Attentäter

Warum haben wir bei dem Absturz ein Problem, den Namen zu nennen? fragt Wolfgang Kretschmer auf Facebook: 

Erinnert sich noch jemand an die Terroranschläge auf das World Trade Center? Damals hatte niemand in keiner Redaktion ein Problem damit, die bald darauf bekannten Klarnamen der Attentäter abzudrucken, deren Hauptakteure Studierende in Deutschland waren.

Warum handeln wir bei vergleichbaren Katastrophen unterschiedlich? 

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BILD und der Absturz

Zum Abschluß sei Bild-Chefredakteur  Kai Dieckmann zitiert, der mit Julian Reichelt die Berichterstattung von Bild rechtfertigt, sie „für völlig selbstverständlich und absolut zwingend hält“. Auch wenn wir anderer Meinung sind als Dieckmann, finde ich es respektabel, dass sich Dieckmann äußert und seine Gründe ausführlich darlegt. Man muss schon sehr überzeugt von der eigenen Rechtschaffenheit sein, um sie nicht wahrnehmen und diskutieren zu wollen:

Argument 1: Es war ein Ritualmord von historischem Ausmaß

Nach Erkenntnissen der ermittelnden Staatsanwaltschaft hat Andreas Lubitz „die Zerstörung des Flugzeugs bewusst eingeleitet“ und somit 149 mit in den Tod gerissen – ermordet. Er hat selbst gewählt, ein Verbrechen von historischen Ausmaßen zu begehen. Er ist ein Amokläufer, der mehr Menschen auf dem Gewissen hat als jeder Einzeltäter der deutschen Nachkriegsgeschichte. 

Seine Waffe war keine Pistole, kein Gewehr, sondern – wie bei den Terroristen des 11. September – ein Passagierflugzeug. Er hat seinen Opfern nicht mal die „Gnade“ eines schnellen Todes gewährt, sondern sie qualvollen acht Minuten Sinkflug in den Tod ausgesetzt. Wenn man versucht zu erahnen, was diese acht Minuten für die Menschen an Bord bedeutet haben müssen, kann man das durchaus als grausam, als Folter, als Ritualmord bezeichnen.

Argument 2: Der größte Verbrecher des Jahrhunderts

Wir haben es mit einem Mann aus der Mitte unserer Gesellschaft zu tun, der als Figur des Grauens, als bisher größter deutscher Verbrecher des (jungen) 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird. Die Aufgabe von Journalismus ist es, Geschichte zu erkennen, zu dokumentieren, zu erzählen, während sie entsteht. Das ist zwar deutlich schwieriger als der Rückblick, wenn alle historischen Fakten bekannt sind, aber es ist der Kern unseres Berufs. 

Argument 3: Menschen, auch Amokläufer , haben Namen und machen Geschichte

Wir halten es für legitim, die Hauptbeteiligten von historischen Ereignissen beim Namen zu nennen. Der Amokläufer von Erfurt hieß Robert Steinhäuser, der Amokläufer von Winnenden hieß Tim Kretschmer. Die Geiselgangster von Gladbeck hießen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski. Geschichte wird von Menschen gemacht. Menschen haben Namen. Namen sind Geschichte.

Argument 4: Personen der Zeitgeschichte haben ein Gesicht

Wir glauben auch, dass es richtig ist, den Täter Andreas Lubitz zu zeigen. Als Person der Zeitgeschichte muss er – auch im Tod – hinnehmen, dass er mit seiner vollen Identität, seinem Namen und auch seinem Gesicht für seine Tat steht. 

 Wir machen Andreas Baader, Mohammed Atta und Anders Behring Breivik nicht unkenntlich. Und genau so wenig tun wir es mit Andreas Lubitz, dessen Name der französische Staatsanwalt in einer dramatischen und historischen Pressekonferenz vor der Weltpresse buchstabierte. 

Argument 5: Psychische Krankheit macht einen nicht weniger historisch

Natürlich war Andreas Lubitz psychisch krank. Wer nicht psychisch krank ist, entschließt sich nicht zu einer solchen Tat, aber das macht Andreas Lubitz nicht weniger historisch.

Argument 6: Fast alle großen Medien nennen den Namen

Der überwältigende Anteil traditioneller Medien auf der ganzen Welt hat dieselbe Entscheidung getroffen wie wir. Darunter ausnahmslos alle Medien, die den journalistisch-ethischen Standard unseres Berufes seit Jahrzehnten prägen: Der Guardian, die BBC, die New York Times, die Washington Post, CNN, die Nachrichtenagentur Reuters, das Wall Street Journal, der Stern in Deutschland. Wir sagen damit nicht, dass wir so handeln, weil andere so handeln. Wir kommen nach langen inner-redaktionellen Debatten nur zu derselben Entscheidung wie unsere Kollegen weltweit. 

Argument 7: Social Media nennt millionenfach den Namen

Sowieso ist es abwegig zu glauben, dass die traditionellen Medien in Zeiten von Social Media Informationen kontrollieren, zurückhalten könnten. Der vollständige Name Andreas Lubitz wurde seit gestern über 120.000 Mal getwittert und ist ein weltweiter Trend. Auf Google gab es gestern allein in Deutschland eine Million Suchanfragen zu „Andreas Lubitz“. Die Vorstellung, wir könnten auch nur ansatzweise Einfluss darauf nehmen, ob der Täter idenifizierbar ist oder nicht, ist schlicht absurd.

Resumee: Es war richtig, den Namen zu nennen

Nach unserem journalistischen Selbstverständnis kann es nur eine Antwort auf die Frage geben, ob Menschen, die historisch Großes leisten und historisch Schreckliches anrichten, mit ihrer vollen Identität dafür stehen und einstehen sollten: Ja.

Ethik nach dem Absturz (3): Zu viel Rechthaberei, zu wenig Aufklärung?

Geschrieben am 19. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Warum wahren  Journalisten  in ihren ureigenen Debatten nur so schwer die Distanz,  die zum Handwerk gehören sollte? Warum dominiert Rechthaberei? Verteufelung von Argumenten, die nicht die eigenen sind?

Ein Beispiel: Michael Hanfeld (miha) schreibt in der  FAZ einen kurzen Text zu der Ethik-Debatte nach dem Absturz und entdeckt in Sendungen der ARD  „eine moralische Besserstellung“ – weil sie  den Namen des Kopiloten nicht nennt.  Aber auch er holt die moralische Keule heraus: „Die Öffentlich-Rechtlichen sind ja gern immer die Guten“, die Sondersendungen nach dem Absturz seien „ekelerregend“, und er entdeckt bei der ARD „Journalismus-Gefühlsduselei“.

Hanfeld kritisiert die Haltung von Journalisten, „die selbst bei einer solchen Gelegenheit nur von sich selbst berichten können“ – und zeigt nicht, wie er es besser machen würde. So geht seine Frage unter, die nachdenkenswert ist: „Wer den mehr als mutmaßlichen Täter anonymisiert, verhöhnt die Opfer. Die zwingendste Trennung geht unter – diejenige zwischen Täter und Opfern.“ (FAZ, 18. April).

Die Debatte dreht sich nicht allein um Namens-Nennungen, sei es von Kopilot oder Opfern, auch nicht um die Fotos, die gezeigt werden dürfen, sondern auch um den Umgang mit den Lesern: Was dürfen wir ihnen zutrauen? Wieviel Informationen dürfen sie bekommen? Wieviel Urteil überlassen wir ihnen? Wo endet die Nachricht? Wo beginnt die Sensation? Was ist „unangemessen“?

Verstecken wir unter dem Deckmantel der Ethik nicht ein feudales Verständnis: Wir, die Journalisten, da oben sagen dem Volk, was es wissen darf und anschließend, was und wie es zu denken hat? Zielt Aufklärung nicht auf den denkenden Menschen, der zum eigenen Urteil fähig ist?

Das sind grundsätzliche Fragen, die stets bei einem überwältigenden Thema – sei es die Love Parade, sei es der Flugzeug-Absturz – auftauchen, aber zu oft in Rechtfertigungen und Rechthaberei untergehen.

Das sind die Fragen, die der Presserat Anfang Juni beantworten will; ihm liegen 430 Beschwerden gegen die Berichterstattung über den Absturz von  4U9525 vor – so viele wie noch nie zu einem Thema:

> Durfte über den Co-Piloten identifizierend berichtet werden?
> War die Veröffentlichung von Opferfotos und Opfergalerien angemessen?
> Mussten die Angehörigen von Co-Pilot und Opfern geschützt werden?
> War die Berichterstattung  unangemessen sensationell?
> Gab es  Vorverurteilungen?
> Ist das Ansehen der Presse beschädigt worden?

Auf seiner Internet-Seite hat der Presserat allerdings schon kurz nach dem Absturz darauf hingewiesen: „Opferschutz hat Vorrang“ und an die Richtlinie 8.1 des Pressekodex erinnert: 

Opfer haben einen Anspruch auf den besonderen Schutz ihrer Identität, denn für das Verständnis des Geschehens ist das Wissen darüber in der Regel unerheblich. Als zufällige Opfer eines Unglücks werden die Verstorbenen auch nicht automatisch zu Personen von zeitgeschichtlicher Bedeutung. Der Schutz ihrer Persönlichkeit überwiegt daher regelmäßig das öffentliche Interesse. Auch die Angehörigen haben ein Recht auf Privatsphäre.

Medien-Ethik nach dem Absturz (2): Persönlichkeitsrechte gegen „Person der Zeitgeschichte“

Geschrieben am 17. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Ins Zentrum der Debatten nach dem Airbus-Absturz drängte sich schnell die Frage: Durften und dürfen Medien den Namen des Copiloten nennen? Die Entscheidung, was richtig ist und was falsch, war offenbar schwer:

Auf der einen Seite steht das durch die ungeheuerliche Tragik und die schrille Warumfrage begründete öffentliche Interesse und auf der anderen Seite die auch durch berufskulturelle Regeln abgestützte Unschuldsvermutung und der Respekt vor der Privatsphäre der Angehörigen

sagt der Schweizer Professor Vinzens Wyss und folgert: „Das öffentliche Interesse muss in diesem Fall zurückstehen.“

Die Bandbreite der Einschätzungen gibt ausführlich eine Umfrage von Michèle Widmer bei persoenlich com wieder, die sechs Schweizer Journalisten und Medienethiker befragt hatte (hier in Auszügen, Überschriften von mir):

Persönlichkeitsrechte sind zu wahren
Tristan Brenn, Chefredakteur TV von SRF (Schweizer Radio und Fernsehen): „Im Grundsatz gilt, dass Persönlichkeitsrechte und der Schutz der Privatsphäre, wenn immer möglich, zu wahren sind. Das gilt für Opfer wie auch für mutmassliche Täter und dient nicht zuletzt auch dem Schutz von Angehörigen. Im Fall des Co-Piloten von Germanwings sahen wir keine Veranlassung, von diesem Prinzip abzuweichen. Die relevanten Informationen sind nicht abhängig von der Identifizierung der Person mit Namen und Bild.“

Namensnennung besitzt keinen Mehrwert für das Publikum
Peter Bertschi, stellvertretender Chefredakteur Radio von SR, hatte angewiesen vom „28-jährigen Co-Piloten‘ zu sprechen. „Wir halten uns an unsere publizistischen Leitlinien, dass wir Namen von mutmaßlichen Tätern und Opfern ‚grundsätzlich nicht nennen‘, dass wir ganz allgemein bei SRF ‚bei der Namensnennung nicht vorangehen‘. Hinzu kam noch die Überlegung der Chefredaktion Radio SRF, dass das Schweizer Publikum erst recht keinen Mehrwert hat, wenn der Name genannt wird.“

Foto und Name helfen nicht bei der Antwort auf die Warumfrage
Vinzenz Wyss, Professor für Journalistik am Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften):
„Weder der veröffentlichte Name noch das Bild helfen uns bei der Beantwortung der Warumfrage. Was ist dadurch gewonnen? Selbst wenn im Netz und bei einigen Medien der Name schon veröffentlicht wurde, bleibt der medienethische Entscheid immer auch eine Frage der Haltung der jeweiligen Redaktion. Der routinierte Verweis auf die Bekanntgabe durch den Staatsanwalt entbindet die Medien nicht vor der Pflicht, selbst eine Güterabwägung vorzunehmen. Unpassend finde ich den Versuch, das wie auch immer produzierte Publikum darüber abstimmen zu lassen.“

Im Alleingang ist der Name nicht zu schützen
Dominique Eigenmann, Nachrichtenchef Tages-Anzeiger (Zürich): „Der Tages-Anzeiger anonymisiert Personen. Beim Co-Piloten Andreas Lubitz ist dies objektiv nicht mehr möglich, seit der französische Staatsanwalt dessen Namen ausdrücklich genannt (und sogar buchstabiert) hat. Die angelsächsischen und lateinischen Medien nennen ihn seither alle namentlich, auch die meisten deutschen und Schweizer Zeitungen. Das hat für unsere Überlegungen hinsichtlich einer allfälligen Anonymisierung insofern eine Bedeutung, als wir als Medium die Persönlichkeitsrechte eines Betroffenen nicht im Alleingang zu schützen imstande sind.

Mitentscheidend ist die Nähe zum Geschehen
Weiter Dominique Eigenmann: „Wäre Lubitz Zürcher gewesen und hätte sich das Unglück in Zürich zugetragen, hätten wir seinen Namen, aus Rücksicht auf die Angehörigen, wahrscheinlich anonymisiert, selbst wenn ausländische Medien ihn längst genannt gehabt hätten.“

Massenmörder sind Personen der Zeitgeschichte
Und noch einmal Dominique Eigenmann: „Der rigorose Schutz vor Nennung gilt überdies ausdrücklich nicht für ‚Personen der Zeitgeschichte‘ – für den Massenmörder Anders Breivik etwa oder den 9/11-Attentäter Mohammed Atta. Etwa in diese Kategorie gehört unserer Meinung nach auch Andreas Lubitz, soviel war jedenfalls auf Anhieb absehbar. Deswegen haben wir gleich nach der Pressekonferenz von Marseille entschieden, online wie auch in der Zeitung den Co-Piloten beim Namen zu nennen“

Der Untersuchungsrichter hat das Opfer zum Täter gemacht und so zur Person der Zeitgeschichte
Peter Studer, Jurist und Autor über Medienrecht/Medienethik, ehemals Chefredakteur: „Der zuständige französische Untersuchungsrichter hatte präzis sowie mit Quellenangabe des Voice-Recorders über den Co-Piloten und seine Todesflugphase berichtet. Die Regierungschefs von Frankreich und Deutschland sowie die Spitzen der Lufthansa schienen diese Zuschreibung in ihren Statements zu übernehmen. Damit war der Co-Pilot – wie eine Redaktion folgerte – objektiv vom Opfer zum Täter geworden. Das persönliche Verschulden muss allerdings wegen Krankheitsverdacht – Zurechnungsfähigkeit? – offen bleiben. So oder so halte ich dafür, dass der Co-Pilot mit diesen amtlichen Schritten zur ‚Person der Zeitgeschichte‘ wurde und mit Namen genannt werden durfte.“

Kein Foto, kein Name – es sei denn der Täter sucht die Öffentlichkeit
Philipp Cueni, Chefredakteur EDITO +Klartext Medienmagazin und Dozent für Ethik an der Journalistenschule MAZ: „Dass zur Person des Piloten recherchiert worden ist, ist absolut in Ordnung. So kann man allenfalls klären, ob politische Hintergründe oder strukturelles Versagen beim Unglück, respektive bei der Tat eine Rolle gespielt haben. Der Name und das Bild des Co-Piloten spielen in diesem Zusammenhang aber keine Rolle und bringen für die Öffentlichkeit auch keine Erkenntnis.
Anders ist die Situation zu beurteilen, wenn ein Täter selber – zum Beispiel mit einem politischen Manifest wie im Fall Breivik – die Öffentlichkeit sucht.“

Ethik-Debatte nach dem Airbus-Absturz (1): Dürfen wir Trauernde bei der Trauerfeier zeigen?

Geschrieben am 17. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Was war richtig nach dem Absturz des German-Wings-Flugzeugs: Die Namen der Opfer zu nennen? Und ihre Fotos zu zeigen? Den Namen des Copiloten, der offenbar der Täter war? Mit oder ohne Bild? Die Bilder der Trauernden?

Selten war eine Debatte im Journalismus so erbittert – auch emotional geführt worden. Es ist Zeit für die erste Bilanz, wobei eines klar ist: Die Widersprüche bleiben, die perfekte Lösung wird es nicht geben.

Zum Beispiel: Die Bilder der Trauernden. Heute bei der Trauerfeier im Kölner Dom werden die Kameras auch auf die Angehörigen gerichtet sein, die wissen, dass die Kameras vor und im Dom stehen werden. Darf das Fernsehen berichten und in die Schar der Trauernden die Kamera richten? Dürfen Zeitungen Fotos mit Gesichtern der Trauernden zeigen? Oder nur das Foto des stets betroffenen Bundespräsidenten?

Ist die Frage, ob Trauernde gezeigt werden dürfen, auch eine Frage des Zeitpunkts? Sind die ersten Stunden und Tage reserviert für die persönliche Trauer – und die Zeit danach für die öffentliche Trauer?

Muss öffentliche Trauer überhaupt sein? Ist sie ein Zeichen der Solidarität oder des Voyeurismus?

Fakten gegen Lügenpresse (4): Wie ein Chefredakteur Haltung zeigt

Geschrieben am 15. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Lügenpr

Die Ruhr-Nachrichten bringt auf einer Zeitungsseite die Fakten zur Flüchtlings-Debatte in Dortmund, zusammengetragen von Tobias Großekemper (Freitag, 10. April). Eine Leserin schickte die Seite an die Chefredaktion zurück mit zwei „Ergänzungen“:

1. „Lügenpresse“,
2. Zeitungsausschnitt einer Boulevard-Zeitung mit der Überschrift „Illegale Einreisen auf dem Höchststand“.

Wolfram Kiwit, Chefredakteur der Ruhr-Nachrichten, berichtet darüber in seinem Blog und fasst die Grundhaltung seiner Zeitung knapp und eindeutig zusammen:

Versachlichen, gründlich recherchieren, Fakten sprechen lassen und nicht auf den Zug eines meist parteilichen Empörungs-Journalismus springen.

Kiwit in seinem Blog: „Wir machen einfach weiter.“

 

 

Eine neue Regel: Das Wichtigste steht am Schluss? Spiegel-Online macht’s vor

Geschrieben am 14. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Spiegel Online zeigt einen lächelnden  VW-Chef Winterkorn im Foto, schreibt in die Schlagzeile: „Er lächelt gegen seine Demontage an“, wiederholt sich im Vorspann: „Nur lächeln, nicht reden“ – nur wer kurz und knackig wissen will, was geschehen ist, der erfährt am Ende des kurzen Vorspanns:

Wenig Zeit? Am Textende gibt’s eine Zusammenfassung.

Und so läuft der Text auch ab: Nach rund fünfzig Zeilen im XL-Format und einer halben Internet-Ewigkeit gibt es die versprochene Zusammenfassung. Ist das eine neue Regel: Das Wichtigste oder die Zusammenfassung steht nicht mehr am Beginn eines Artikels, sondern am Ende?

So endet der Spiegel-Online-Artikel:

Zusammengefasst: VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch hat sich von Vorstandschef Martin Winterkorn distanziert. Bisher stellen sich andere wichtige Aufsichtsräte hinter Winterkorn, darunter Niedersachsens Ministerpräsident Weil. Doch der Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer glaubt, dass letztlich Piëch den Machtkampf gewinnen wird.

Torsten Beeck, Sozial-Media-Chef des Spiegel, bestätigt per Tweets das Experiment: „Das Wichtigste steht im Artikel, der letzte Absatz ist die Zusammenfassung für alle, die keine Lust haben zu lesen.“ Das Experiment sei auch sehr gut bei den Nutzern angekommen laut Befragung auf verschiedenen Kanälen: „Sehr viel Feedback via E-Mail durch Blogpost des Chefredakteurs.“

Offen ist: Steigert oder senkt die Zusammenfassung am Ende die Verweildauer? „Die Zahlenbasis ist noch zu klein“, twittert Torster Beeck, der allerdings hofft, dass die neue Regel die Zufriedenheit steigert.

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Quelle: Spiegel Online, Montag, 13.04.2015,  10:38 Uhr

Der letzte Absatz hinzugefügt am 15. April (Zitate Beeck)

Redaktionen verstoßen nach Airbus-Absturz gegen ihre Regeln: Trauernde ungepixelt auf Titelseite (Leser fragen)

Geschrieben am 9. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser aus Erfurt beklagt sich bei der Thüringer Allgemeine über das Foto auf der Titelseite, das die Zeitung am Tag nach dem Absturz der German-Wings-Flugzeugs veröffentlichte:

Als wenig rücksichtsvoll, ja pietätlos, empfinde ich die Veröffentlichung eines von Alejandro Garcia angebotenen Fotos. Es gehört sich nicht, das Foto trauernder Menschen nach einem solchen Unglück sowie nach dem Verlust eines Angehörigen in der Zeitung zu präsentieren. Sie bewegen sich damit auf der Ebene von Boulevardjournalismus. Das muss zukünftig unterbleiben.

Der Leser fragt:

War Ihre Zeitung überhaupt autorisiert, dieses Foto zu veröffentlichen? Wo bleibt die Selbstkontrolle der Journalisten? Wo bleibt der Schutz des persönlichen Bilds? Oder gilt das nicht, weil die abgebildeten Personen aus Spanien sind und sich gegen die Veröffentlichung in Thüringen kaum wehren können?


Der Chefredakteur antwortet:

Sehr geehrter Herr K.,

Sie haben Recht! Wir haben gegen unsere eigenen Grundsätze verstoßen, von denen einer lautet: Wir zeigen keine Familienangehörige oder Freunde im Bild, die nach einer Katastrophe trauern, einem Unglück, einem Mord oder Attentat.

Für diesen Regelverstoß bitten wir um Entschuldigung.

Ich möchte Ihre Fragen beantworten und erklären, wie es zu unserer Entscheidung kam – an einem Tag, der uns alle verwirrt hat.

Das Foto stammt von der seriösen spanischen Nachrichten-Agentur Efe, die in 110 Ländern mit 3000 Mitarbeitern vertreten ist. Wir müssen feststellen: Die moralischen Maßstäbe sind offenbar im vereinten Europa recht unterschiedlich. Außerhalb Deutschlands ist es in vielen Ländern üblich und weder ethisch noch rechtlich umstritten, dass Agenturen und seriöse Zeitungen Opfer von Unfällen oder Verbrechen sowie deren Angehörige abbilden. Das gilt auch für Spanien.

So schickte die Agentur eine Serie von Bildern von Angehörigen aus Barcelona – ohne jegliche Bedenken. Dazu kam: Einige Bilder aus dem Flughafen wurden mit verpixelten Gesichtern gesendet, andere gar nicht. So sind wir davon ausgegangen, dass die Trauernden ihre Zustimmung zum Druck gegeben haben.

Dies Verfahren ist nicht ungewöhnlich: So hat beispielsweise die Opern-Sängerin Maria Radner im Stern über Karen Cargill geschrieben, mit der sie zusammen auf der Bühne gestanden hat – und dabei wie selbstverständlich ein Archiv-Foto des Absturz-Opfers veröffentlicht.

Dies ist eine Erklärung und ein Blick in das Innenleben einer Redaktion an einem ungewöhnlichen Tag – aber kein Wegreden der Entschuldigung. Wir hätten trotz allem richtig entscheiden müssen.

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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 11. April 2015

Lügenpresse (3): Des Lesers Lust an der Verschwörung

Geschrieben am 6. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser greift die „Lügenpresse“ auf, den Ruf der Pegida-Demonstranten: „Die Presse lügt nicht, sie schreibt nur nicht die Wahrheit.“ Er nennt ein Beispiel:

„Ein Reporter befragt 100 Leute über das Freihandelsabkommen mit den USA. 80 Leute sind dagegen, 20 sind dafür. In der Presse werden die Meinungen der 20 Befürworter bekannt gegeben. Zwei Kommentare der Gegner. Es erweckt nun den Anschein, dass die Meistbefragten dem Abkommen zustimmen. Die Presse hat somit nicht gelogen. Sie hat nur nicht die Wahrheit berichtet.“

Der TA-Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:

Vor gut zwei Jahrtausenden stritten sich in Griechenland die Philosophen darüber: Was ist die Wahrheit? Die einen, Sophisten genannt, schätzten die schöne Rede, die ironische Wendung, die List und die Tücke – um den eigenen Standpunkt zu stärken und Macht zu bekommen; die Wahrheit dürfe so lange gebogen werden, bis sich die eigenen, die guten Interessen durchgesetzt haben.

Sokrates war der Gegenspieler der Sophisten, ein Liebhaber der Wahrheit, der lehrte: Ein guter, ein moralischer Mensch verdreht nicht die Wörter, bis sie ihm passen; er verführt nicht die Menschen mit falschen, aber schön anzuhörenden Geschichten.

Es gab offenbar zu allen Zeiten eine Lust an Verschwörungs-Theorien, die meist gründen in der Vorstellung: Es gibt die Bösen, und es gibt die Guten, zu denen ich gehöre.

Die Wirklichkeit ist dagegen eher grau, mal ein wenig heller, mal ein wenig dunkler. Diese Wirklichkeit ist die Welt der seriösen Medien, sie macht Mühe, und sie fordert die Kunst der Unterscheidung.

Die Wahrheit ist stets die Suche nach der Wahrheit.

Die Geschichte von dem Reporter, der eine Umfrage manipuliert – und das wäre eine Lüge -, ist schön erzählt und wäre in mancher Runde von beifälligem Kopfnicken begleitet. Nur – woher hat der Erzähler das Beispiel?

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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 28. März 2015

Absturz von 4U9525 und der Leser Fragen: Was ist Boulevard?

Geschrieben am 5. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Eine Leserin der Thüringer Allgemeine (TA) schreibt im Internet zur Berichterstattung über den Absturz der German-Wings-Maschine in den französischen Alpen:

Die TA bewegt sich immer mehr zum Bild-Zeitungs-Niveau.

Ein weiterer Leser findet – ebenfalls auf unseren Internet-Seiten – die Berichterstattung zu dem Fall unmöglich:

Der volle Name wird mit Bild veröffentlicht. Am besten gleich noch die volle Anschrift.

Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:

Was ist Boulevard-Niveau? Der Bestseller-Autor Martin Suter lässt in seinem aktuellen Roman „Montecristo“ einen Redakteur den „Boulevard“ charakterisieren:

„Straßenjournalismus sollte es heißen. Gossenjournalismus! Er zielt auf die niedrigen Instinkte der Leser.“

In der Tat neigt der Boulevard dazu, mit der Wahrheit ebenso zu spielen wie mit der Menschenwürde; er schätzt die Sensation, auch wenn er eine Sache aufbauschen muss, und er mag keine langen Erklärungen, sondern schnelle Urteile. Vor allem zielt er auf die Gefühle der Menschen.

Das unterscheidet den Boulevard von seriösen Zeitungen. Doch der offenbar mutwillig provozierte Absturz eines Flugzeugs und der Tod von 150 Menschen wühlt jeden auf – selbst wenn eine Zeitung noch so distanziert berichtet.

Auch unsere Zeitung konnte über den Absturz nicht berichten wie über eine normale Landtags-Sitzung. Aber wir haben nicht mit der Würde der Opfer und ihrer Angehörigen gespielt, wir haben keine Angehörigen belästigt oder belagert, auch nichts aufgebauscht – es sei denn man wolle uns vorwerfen, überhaupt so ausführlich über den Absturz berichtet zu haben.

In der TA haben wir weder den vollen Namen noch das Porträt des Co-Piloten veröffentlicht.

Viele seriöse Zeitungen wie die „Süddeutsche“ oder die FAZ, aber auch unser Online-Auftritt, haben den Namen ausgeschrieben, nachdem ihn der französische Staatsanwalt in einer Pressekonferenz genannt hatte.

Unter Journalisten ist zur Namens-Frage eine heftige Debatte ausgebrochen:
Muss man die Angehörigen des Co-Piloten schützen? Dann darf man weder den Namen noch sein Gesicht zeigen.
Oder ist der Co-Pilot als ein Massenmörder zu einer Person der Zeitgeschichte geworden? Dann könnte man Namen wie Gesicht zeigen.

Wie würden Sie entscheiden?

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THÜRINGER ALLGEMEINE
, 4. April 2015, Leser fragen

Ist Klatsch wichtiger als politische Information? (Leser fragen)

Geschrieben am 21. März 2015 von Paul-Josef Raue.

Nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl der Informationen, die Platzierung auf den Seiten und die Größe der Artikel?

So fragt ein Leser der Thüringer Allgemeine (TA) Als Beispiel nennt der Leser aus Weimar den einspaltigen Artikel „AfD klagt gegen Abschiebestopp“ am 5. März; über das Thema hatte die nationale Zeitung „Die Welt“ ausführlicher berichtet. Dagegen berichtete die TA groß über den Fehltritt von Altkanzler Helmut Schmidt: „Liebe, Macht und Seitensprünge“. Der Leser stellt fest: „Auf einer Seite eine auf das Nötigste reduzierte Information und auf der anderen Seite eine übergewichtige Boulevardglosse. Ändert sich das Genre von Information auf Klatsch?“

Und der Leser fragt abschließend: „Warum erläutern sie nicht genau so wortreich den Hintergrund der Verfassungsklage? Und warum lesen wir darüber keinen Kommentar?“

Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:

Wir wählen die Informationen aus, die wichtig sind für die Wähler in Thüringen, die das Leben und den Alltag unserer Leser in Thüringen beeinflussen und die zum Gespräch zu Hause oder bei der Arbeit taugen. Wir erklären das, was schwer zu verstehen ist, und wir kommentieren es, um unsere Leser zu Widerspruch oder Zustimmung zu reizen.

Über das Gutachten von Professor Schachtschneider, das die AfD zum Abschiebestopp bestellt hatte, berichteten wir ausführlich schon am 24. Februar, also zwei Wochen vor der „Welt“. Dass die AfD mit dem Gutachten vors Verfassungsgericht ziehen will, war deshalb nur eine Meldung; den Hintergrund hatten wir schon ausgeleuchtet.

Unser Reporter Martin Debes kommentierte ausführlich das Gutachten, die Klage und die Position der Regierung in seinem „Zwischenruf: Auf der rhetorischen Wippe“.

Die Enthüllungen der Liebesaffäre von Helmut Schmidt ist nur vordergründig Klatsch. Es geht vor allem um die Inszenierung und die Doppelmoral von Politikern: Schmidt zeigte der Öffentlichkeit das Bild einer guten, gar vorbildlichen Ehe. Wenn sich herausstellt, dass er seine Wähler getäuscht hatte, sprechen wir schon über eine wichtige Information.

Der Journalist Klaus Harpprecht schrieb in seinen Memoiren, die Ende vergangenen Jahres erschienen sind, von Schmidts Doppelmoral, der stets „schrecklich moralisierend“ dem Parteifreund Willy Brandt dessen offenkundige Liebschaften vorwarf. So etwas muss der Bürger erfahren, es wäre fahrlässig, wenn wir diese Nachricht unterdrückt hätten – gleich ob wir Helmut Schmidt mögen oder nicht.

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Thüringer Allgemeine, 14. März 2015, Leser fragen

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Die Kolumne „Zwischenruf“ von Martin Debes zum Thema

Auf der rhetorischen Wippe

Der AfD in Thüringen hätte nichts Besseres passieren können als diese Koalition. Neulich zum Beispiel, bei der von der neuen Fraktion beantragten Landtagsdebatte zum Winterabschiebestopp, ließ sich dieses fast schon symbiotische Verhältnis gut beobachten.

Mit Lust hüpfte Rot-Rot-Grün auf die rhetorische Wippe, die von der AfD aufgebaut worden war. Hoch und runter ging es, immerzu. Vor allem Linke und Grüne waren sich einig: Die Gegnerschaft der AfD zum Abschiebestopp sei mindestens rassistisch, wenn nicht gar nazistisch.

Allerdings fiel bei all der Empörung den Beteiligten nicht auf, dass, wenn man dieser Logik bis zu ihrem überaus schlichten Ende folgt, auch der Bundesinnenminister, die Mehrheit des Bundestages und der Länder irgendwie rassistisch sein müssen. Schließlich finden auch die den Abschiebestopp falsch oder haben ihn zumindest nicht eingeführt.

Gewiss, man muss sich der von der AfD propagierten Meinung nicht anschließen: Aber man sollte sie ernst nehmen. Nicht nur, weil sich dies in einem demokratischen Land gehört, sondern auch, weil es klug wäre.

Es ist doch so: Rot-Rot-Grün hat mit dem Winterabschiebestopp, den sie als ihren ersten Regierungsakt geradezu zelebrierten, bewusst Symbolpolitik veranstaltet.

In der Realität handelt es sich nurmehr um einen temporären Erlass, der an dem Dasein der meisten Flüchtlinge nichts grundhaft ändert. Das Justizministerium, das jetzt vor allem Migrationsministerium heißen will, kann keine genauen Zahlen mitteilen. Aber es sind bislang wohl nur etwas mehr als 100 Menschen, die aufgrund des Abschiebestopps in Thüringen bleiben durften.

Doch die AfD kümmern die Fakten genauso wenig wie die Koalition. Sie bekämpft Symbolpolitik mit Symbolpolitik. Erst das Rechtsgutachten, dann die Debatte im Landtag, nun die Klage beim Verfassungsgericht: Die Partei reitet, so wie die Koalition, ein Prinzip – nur eben das gegenteilige.

Dass der Abschiebestopp so gut wie nichts damit zu tun hat, dass immer mehr Asylbewerber im Land unterkommen müssen, ja, dass die Maßnahme demnächst ausläuft – das interessiert weder die eine noch die andere Seite. Jeder bewegt sich ausschließlich in seinem politischen Universum und bedient jeweils die eigene Klientel.

Insgeheim beginnen die Koalitionsfraktionen zu ahnen, dass ihre Reflexe die AfD nur aufwerten. Tatsächlich hat sich die Partei in dem halben Jahr ihrer parlamentarischer Existenz durchaus professionalisiert. Die Mischung aus Provokation, Populismus und normalen Politikansätzen könnte funktionieren, vor allem dann, wenn den anderen nicht mehr einfällt, als wahlweise munter drauf zu hauen, auszugrenzen oder gar mal eben eine Veranstaltung zu zerstören. In all dem Getöse fällt es nicht weiter auf, dass die AfD zum großen Teil gar nicht weiß, was sie will, außer vielleicht ausrangierte Positionen von Union und FDP einzunehmen – zumal sie unterhalb der Fraktionsebene wenige arbeitsfähige Strukturen besitzt.

Das einzige echte eigene Thema, die Europapolitik, wird bei Landeswahlen kaum mehr ziehen – zumal keiner vorhersehen kann, was aus der Gesamtpartei wird. Eine neoliberal-konservative Lucke-Partei oder ein rechtsäußeres Ideologieprojekt? Wer weiß.

Natürlich, es stimmt ja: Dort, wo die Argumente fehlen, arbeitet die AfD mit Vorurteilen, schürt Ängste und bedient sich bei Sprüchen, die so auch bei der extremen Rechten Verwendung finden. Die Rhetorik des Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke grenzt oft genug ans Völkische. Er selbst besitzt dabei die unangenehme Anmutung eines Missionars, auf den Deutschland gerade noch gewartet hat, derweil sein Fraktionsvize Stephan Brandner den parlamentarischen Dauerrüpel gibt.

Doch wie Rot-Rot-Grün darauf reagiert, ist falsch. Wer meint, dass es ausreiche, die AfD pauschal in die Nazi-Ecke zu stellen, handelt intellektuell unredlich und politisch dumm. Man sollte wenigstens registrieren, dass die AfD schlau genug ist, Leute auszuschließen, die offen rassistisch argumentieren und zu versuchen, zwischen Asylrecht und Zuwanderung zu differenzieren.

Richtig, hierbei handelt es sich, genauso wie beim Angebot Höckes, seine Abgeordnetenwohnung an Flüchtlinge zu geben, insbesondere um Taktik. Aber wenigstens scheint die AfD so etwas zu besitzen.

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