Alle Artikel der Rubrik "G. Wie Journalisten informieren"

Der Mauerfall und die DDR-Journalisten: Aus kollektiven Agitatoren und Propagandisten werden 1989 Redakteure

Geschrieben am 7. November 2014 von Paul-Josef Raue.

„In der DDR gab es keinen echten Journalismus“, schreibt Hanno Müller, der 1989 Redakteur von Das Volk war, der SED-Bezirkszeitung in Erfurt, und der heute Reporter ist der Thüringer Allgemeine. Er blickte in der TA zurück: Was geschah in den Redaktionen in der Revolutions-Zeit und in den Jahrzehnten danach:

Spätestens ab dem Sommer des Jahres 1989 ist die DDR in Aufruhr. Die Welle der Republik-Flüchtlinge nimmt dramatische Ausmaße an. Ungarn öffnet seine Grenzen. Die westlichen Botschaften des Ostblocks füllen sich mit Ausreisewilligen. Viele kommen mit Kind und Kegel.

Die Parteizeitungen aber machen weiter wie bisher. Kaum eine Ausgabe ohne den Abdruck langer Reden über die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion oder über die DDR als Garant des Weltfriedens. Nach dem Republikgeburtstag brüstet sich der Partei- und Staatschef über zwei Seiten mit den Vorzügen des Sozialismus.

Anfangs verschweigen die DDR-Medien die Fluchtwelle komplett. Dafür hat das Thema in den West-Medien Konjunktur. Als es gar nicht mehr anders geht, wird der Massenexodus gegeißelt als „stabsmäßig organisierte Provokation“ der BRD, die sich eine völkerrechtswidrige Obhutspflicht anmaße.

Überschriften noch im September 1989 lauten „Eiskaltes Geschäft mit DDR-Bürgern“ oder „Der große Coup der BRD“. Die Flüchtlinge werden verunglimpft. Zur Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge Ende September heißt es, die Menschen hätten sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt, man sollte ihnen keine Träne nachweinen.

Die Propaganda-Texte werden in der Berliner ADN-Zentrale – dem Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst – oder in den Propaganda-Abteilungen des Politbüros formuliert. Verweigern können die Redakteure vor Ort den Abdruck nicht.

Journalisten sind Teil des Systems

Allerdings muss im Sommer 1989 in den Redaktionen noch niemand gezwungen werden, die Verlautbarungen aus Berlin zu verbreiten. In der DDR gibt es 1989 zwei Fernsehprogramme, fünf Radiostationen und die zentral gelenkte Nachrichtenagentur ADN. Dazu eine überregionale und 15 regionale SED-Zeitungen sowie 18 Zeitungen der sogenannten Blockparteien.

Unabhängige Medien – Fehlanzeige. Journalisten sind Teil des Systems. Entweder sind die Zeitungen „Organ“ einer Partei oder sie gehören parteinahen Massenorganisationen wie dem Kulturbund oder dem FDGB. Kontrolle und zentrale Steuerung werden hingenommen.

Wie die Hierarchien der SED sind auch deren Tageszeitungen regional durchgegliedert. Jeder Bezirk hat sein Partei-Organ. In Erfurt ist es „Das Volk“ mit 15 Kreisredaktionen. Das Politbüro sitzt quasi mit am Schreibtisch. Der jeweilige Kreisredakteur erhält Richtlinien aus der Kreisleitung, üblicherweise ist er dort auch selbst Mitglied. Für den Chefredakteur ist die Bezirksleitung zuständig.

Wer in der DDR Journalist wird, weiß, was ihn erwartet – die Parteimitgliedschaft eingeschlossen. Bei SED-Zeitungen gibt es für Journalisten keine Freiräume, allenfalls Spielräume. Trotzdem ist der Beruf begehrt. Hunderte bewerben sich jährlich für den Studiengang in Leipzig. Etwa 100 werden nach einem strengen Auswahlverfahren genommen. Die Motivationen sind unterschiedlich – als künftige Parteisoldaten sehen sich die wenigsten.

Sowieso rekrutiert sich der Berufsstand aus dem Teil der Bevölkerung, der das System DDR letztlich nicht infrage stellt. Wer den Sozialismus grundsätzlich ablehnt, bewirbt sich nicht in einer Redaktion – und würde auch kaum genommen.

Es ist die Mischung aus Überzeugung und Anpassung, die das Leben in der DDR möglich und durchaus erträglich macht. Man darf meckern – wenn man weiß, wann man den Mund halten muss. Journalisten verstehen sich besonders gut darauf, die eigene Meinung und das, was sie aufs Papier bringen, voneinander zu trennen. Man kann über alles reden, diskutieren, streiten, selbst in der Redaktion. Lästerhafte, zynische Reden sind Teil des kritischen Selbstverständnisses – nur schreiben darf und wird man es nicht. Gewöhnlich müssen DDR-Journalisten dazu nicht ermahnt werden – sie zensieren sich freiwillig.

Ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam

Dabei ist gerade in den Redaktionen die Verachtung für die dummen und dogmatischen Bonzen da oben groß. Man kennt sie, hört sie bei Veranstaltungen Parteichinesisch reden, weiß um ihre Doppelmoral, ihre Saufgelage oder ihr Luxusgehabe – mit ihnen anlegen wird man sich dennoch besser nicht.

Oft beruhen die Antipathien auf Gegenseitigkeit. Weil die Funktionäre ihrerseits den „Sesselfurzern an den Schreibmaschinen“, wie sie sie in ihrem rotzigen Funktionärsjargon auch gern mal öffentlich nennen, nicht trauen, pflegen Redaktionen und Parteiführungen ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam.

Auf die Frage, warum kluge Köpfe einen derart schizophrenen Zustand hinnehmen und aushalten, antworten viele Journalisten, trotz realer Unzulänglichkeiten glaube man an die Idee von der besseren Gesellschaft. Mit dem Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit, den Absurditäten und Albernheiten im Alltag geht jeder in der DDR auf individuelle Weise um.

Gleichaltrigen Freunden ist vor 1989 oft schwer zu erklären, warum man macht, was man macht und schreibt, was man schreibt. Zeitungen in der DDR sind nicht besonders sexy, gelten als langweilig und bieder. Oft sind sie auch denen peinlich, die sie machen. Wer sich anfangs noch dagegen auflehnt, resigniert schnell.

Der Beruf hat eben auch schöne Seiten. Man kommt raus, lernt Leute kennen, kann sich als Teil des gesellschaftlichen Prozesses fühlen – und schreiben. Dass bei den meisten Themen die rosarote Brille nicht fehlen darf – das kennt man so auch in anderen Bereichen der DDR.

Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen

Auch draußen in den Betrieben und auf den Feldern weiß man, was man von den Zeitungsleuten erwarten kann. Man redet offen – und mahnt zugleich: „Aber das schreibst du nicht!“. Meist bedarf es dieses Hinweises nicht. Vielfach sind die Gesprächspartner von den Parteileitungen ausgesucht. Das garantiert ein unausgesprochenes Einverständnis. Man weiß doch, wie die Dinge im Land laufen.

In wissenschaftlichen Arbeiten über den DDR-Journalismus ist später zu lesen, Leser und Zeitungsmacher befänden sich in einer Art „opportunistischen Tateinheit“: Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen.

Dabei gehörten Journalisten in der DDR zu denen, die mit am besten über den Zustand der Gesellschaft und die Machtverhältnisse im Bilde sein sollten. Sie sind täglich vor Ort, kennen interne Parteiberichte, wissen, wo der Schuh drückt. In den Zeitungen bzw. Rundfunk- oder Fernsehbeiträgen aber überwiegt die heile Welt – es sei denn, die Partei selbst meint, man könne doch mal mit dosierter Selbstkritik den Siegeszug des Sozialismus voranbringen.

Die vornehmste Aufgabe der Parteischreiber ist die Überzeugung – bei den Empfängern verfängt sie kaum. Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz spricht nach der Wende vom Zusammenhang zwischen verordneter Fehlinformation und individuellen Abwehrmechanismen. Trotzdem ist es zu DDR-Zeiten schwer – auch wegen des Papiermangels -, ein Zeitungsabonnement zu bekommen.

Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit

Als die SED-Führung Mitte der 80er die Gorbatschow-Worte Glasnost und Perestroika einschließlich ihrer deutschen Übersetzung auf den Index setzt, wird zwar zähneknirschend debattiert – trotzdem halten sich die Redaktionen an das Verbot.

Die Zensur des Sputnik 1988 oder die Verfügung, das üblicherweise groß gefeierte Festival des sowjetischen Filmes diesmal kleinzuhalten – die DDR-Zeitungen stehen bei Fuß.

Als die Weisung ausgegeben wird, dass Ausreiseantragsteller nicht auf den Zeitungsseiten vorkommen dürfen, gleichen die Redaktionen Namen ihrer Gesprächspartner mit den Dienststellen ab. Und sie vermeiden es, anonyme Menschenansammlungen von vorn zu fotografieren oder abzubilden.

Es gibt Kultur-, Wirtschafts- und Außenpolitik-Redakteure. Eine Abteilung widmet sich dem Parteileben. Journalisten sind keine homogene Masse. Jüngere denken anders als Kollegen der ersten Stunde. Unter den Redakteuren sind Feingeister, aber auch viele Betonköpfe. Manche schreiben mit dem ideologischen Holzhammer, andere mit feinerer Feder.

Beim Nachweis der eingeforderten „Parteilichkeit“ gibt es je nach Art des Mediums und des Themas durchaus Abstufungen. Sportseite, Lokales oder die Kultur bieten noch am ehesten Realitätsnähe. Auch in der Wochenendbeilage sind Begegnungen mit Funktionären selten. Wirklich abtauchen kann keiner.

Am Ende ist auch der Kommentar über die Lage in Ecuador oder der Beitrag über den Frühjahrsputz Teil der Propaganda. Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit ist nicht zu übersehen.

Es gibt keinen echten Journalismus in der Vorwende-DDR. Die sich dort Journalisten nennen, sind Parteiarbeiter und „Weiterleiter“ – „kollektive Propagandisten, Agitatoren und Organisatoren“, wie es bei Lenin heißt. Die in den Redaktionen dabeibleiben, wissen und erdulden es. Nach der Wende schämen sich nicht wenige dafür. „Aufs Ganze gesehen, war der DDR-Journalismus ein von Opportunismus, Frustration und Dummheit heimgesuchtes Geschäft“, schreibt der Spiegel 1995. Auch wenn es weh tut – man muss es wohl so sehen.

Redakteure entdecken im Wendeherbst die Wahrheit

Es sind eben diese DDR-Journalisten, die in den Wirren des Umbruchs zu echten Lebenshelfern und Begleitern des Systemwandels werden. Oftmals die gleichen Redakteure, die noch gestern Beiträge über die Feinde des DDR-Sozialismus redigieren, schreiben nun über Missstände, Amtsmissbrauch oder langjährige Tabus.

Man kann DDR-Journalisten als Wendehälse bezeichnen, muss aber auch einräumen, dass sie schnell wissen – und wohl immer wussten, wie es richtig geht. Der nahtlose Übergang funktioniert auch, weil die Menschen in den Redaktionen selbst Beteiligte am Veränderungsprozess sind. Wie die Bürger bei Foren und Demonstrationen ihren Mut entdecken und ihre Meinung offen sagen, begeistern sich nun auch Journalisten an der unzensierten Wahrheit.

Zugute kommt den Redaktionen dabei, dass sie – im Gegensatz zu anderen Gliedern des alten Herrschafts- und Propaganda-Apparates – noch gebraucht werden. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen werden zu Multiplikatoren der neuen Sprachmächtigkeit. Sie verbreiten die Ergebnisse der Diskussionsrunden und Runden Tische. Sie veröffentlichen Programme und Forderungskataloge der neuen Parteien und Gruppierungen und liefern immer neue Details aus den einstigen Hinterzimmern der Macht.

Der Zorn der Leser auf die Redakteure hält sich in Grenzen. Bei den Erfurter Donnerstagsdemonstrationen skandieren Demonstranten vor dem Volk-Hochhaus „Schreibt die Wahrheit“. In die Redaktionsstuben kommen nur wenige – sie bleiben friedlich und freundlich.

Die Medien werden zur Plattform für das neue Mitteilungsbedürfnis. Leserbriefe, bis dahin streng auf Systemkonformität geprüft oder gleich ganz in den Redaktionen verfasst, füllen nun ganze Seiten. Die Nähe zu ihren Lesern sowie zu den Themen und Gerüchten, die diese schon zu Zeiten vor der Wende bewegten, die Kenntnis der Situation in den Betrieben und Gemeinden, all das verschafft den Ostredakteuren auch einen Vorteil gegenüber neuen Westblättern, die sich zu etablieren versuchen.

Viele DDR-Journalisten tun sich schwer mit ihrer Vergangenheit

Vieles dreht sich um die Aufarbeitung bisheriger Tabus – um sowjetische Internierungslager, Grenztote und Zwangsausgesiedelte, um verborgene Waffenlager oder die Jagdgelüste der gestürzten Bonzen. Befreit zu recherchieren, macht Spaß. Die Wertschätzung der Leser auch.

Zudem entdecken die Ostzeitungen ihre neue Service- und Ratgeberfunktion. In der Noch-SED-Zeitung Das Volk erscheint das Fernsehprogramm von ARD und ZDF. Nach der Maueröffnung erfährt man aus der Zeitung, wie man in den Westen kommt, wo es Westgeld gibt und welche Grenzübergänge wann neu geöffnet werden.

Ende ’89 müssen viele Neuerungen noch gegen die Parteileitungen und teils gegen die eigenen Chefredaktionen ertrotzt werden. Noch hängen die Blätter am Tropf der Berliner Zentrale, von der Geld und Papier kommen. In den sogenannten „Herbstmonaten der Anarchie“ aber scheint inzwischen nichts mehr unmöglich zu sein. Anfang Dezember tilgt die Volkskammer die führende Rolle der SED aus der Verfassung. Damit sind auch die Tage der Gängelung der Redaktionen gezählt.

Nach der Wende tun sich viele DDR-Journalisten schwer mit ihrer Vergangenheit. „Ja, aber“ ist oft zu hören. Ja, man war systemnah, aber man habe doch auch unter der Zensur gelitten und vieles „zwischen den Zeilen“ transportiert. Auch auf die Parteischule hat es manchen nur verschlagen, weil es nicht anders ging.

Wo die Selbsterkenntnis doch stattfindet, ist sie schmerzlich. So wie bei Alexander Osang, der nach der Wende schreibt: „Die Frage, was aus mir geworden wäre, wenn sich die Ereignisse nicht überschlagen hätten, macht mich ganz krank.“

Thüringer Allgemeine, 3. November 2014

Hanno Müller ist Reporter der Thüringer Allgemeine: Er war – zusammen mit Dietmar Grosser – federführend bei der großen Serie „Treuhand in Thüringen – Wie Thüringen nach der Wende ausverkauft wurde“, die mit dem Deutschen Lokaljournalistenpreis 2013 ausgezeichnet wurde. Die Serie ist auch als Buch in der Thüringen Bibliothek des Essener Klartext-Verlags erschienen (Band 9, 13.95 Euro)

Das Goethe-Institut und die deutsche Sprache – wie Feuer und Wasser (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. Oktober 2014 von Paul-Josef Raue.

Welche Rolle spielt die deutsche Sprache in unserem Berufsleben? Diese Frage will das Goethe-Institut beantworten und lädt zu einer Tagung: „Sprache. Mobilität. Deutschland.“

Wer das Programm durchliest, wähnt sich in einem Test: Verstehen Sie deutsch? Zum Beispiel: Was bedeuten diese beiden Wörter:

>  Zirkuläre Migration;
> dichotomische Wahrnehmung.

Ein türkischer Gastarbeiter arbeitet in Deutschland, kehrt in seine Heimat zurück und kommt wieder nach Deutschland: Er pendelt zwischen den Ländern ebenso wie ein polnischer Professor, der in jedem Jahr zur Spargel-Ernte nach Thüringen kommt: Beide sind zirkuläre Migranten, Pendler oder Wanderarbeiter.

Steffen Angenendt arbeitet für die Stiftung „Wissenschaft und Politik“ mag den Begriff „zirkuläre Migration“ nicht:

In der politischen Debatte ist weitgehend unklar, was unter zirkulärer Migration verstanden werden soll und dementsprechend unterschiedlich sind auch die Antworten.

Nur – warum bedient sich das Goethe-Instiutut eines Spezial-Begriffs, den selbst ein Experte als unklar bezeichnet?

Ähnlich fragen wir nach der Dichotomie, die nicht unklar, aber schwer verständlich ist, ein Spezialwort eben. Dichotomisch ist Yin und Yang, Mann und Frau, Feuer und Wasser, Erfurt und Jena, Gut und Böse, Schwarz und Weiß – also alles, was zusammengehört und doch unterschiedlich ist.

Wer, wenn nicht das Goethe-Institut, sollte verständlich sein? Sollte Gespräch oder Diskussion statt „Diskurs“ wagen, Forum oder Arbeitsgruppe statt „Panel“ sagen und nicht endlose Folgen von Hauptwörtern aneinanderreihen.

Es lohnt sich von Goethe zu lernen; er spricht von den Quellen der Sprache:

Sie sollten  in ihrer Heftigkeit auch etwas Bergschutt mitführen – er setzt sich zu Boden und die reine Welle fließt darüber her.

Das wäre eine schöne Aufgabe für das Institut, das sich auf den Dichter aus Weimar beruft: Bergschutt zu Boden sinken lassen!

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Thüringer Allgemeine „Friedhof der Wörter“ 27. Oktober 2014

Pressefreiheit in Deutschland: Feuilletonisten und Sportler klagen

Geschrieben am 18. Oktober 2014 von Paul-Josef Raue.

Chefredakteure und Ressortleiter sind sich einig: Die Pressefreiheit in Deutschland ist gut oder sogar sehr gut verwirklicht, aber knapp die Hälfte beklagt, dass Behinderungen in den letzten Jahren zugenommen haben.

Die Allensbacher Demoskopen fragten im Frühjahr 2014 über vierhundert Chefs in 230 Zeitungen. Knapp zwei Drittel haben auch schon Behinderungen von Recherchen erlebt. Politikern, Unternehmer und PR-Managern drohen, Anzeigen zu entziehen, oder umarmen die Redakteure, um eine wohlwollende Berichte zu bekommen.

Überraschend ist, auf welche Ressorts am meisten Druck ausgeübt wird: Kultur und Sport. Fotografen müssen mit großen Einschränkungen fertig werden und die Reporter mit massiven Veränderungen bei der Autorisierung von Interviews.

Zwei Drittel der Lokalredakteure klagen über Politiker, die häufig Einfluss nehmen wollen, oder über Kaufleute und Unternehmer, die Berichte steuern wollen.

Warum zeigen wir nicht die grauenhaften Fotos der IS-Folterungen? Ein Tabubruch, ja. Aber – auch ein Weckruf?

Geschrieben am 16. Oktober 2014 von Paul-Josef Raue.

Der Mörder setzt das Messer an die Kehle, das Gesicht ist mit Blut überströmt, ein Gesicht von Angst zerrissen – der Fotograf wie der Mörder delektieren sich daran, einen Mensch sterben zu sehen, als wäre er ein Tier. Ich kann mir das Bild nur kurz ansehen, es ist Ekel, purer Ekel, dem man sich nicht ergeben kann. Mehr Bilder will ich nicht sehen.

Es sind Bilder, die Terroristen des IS, des „Islamischen Staat“, ins Netz gestellt haben, wo sie relativ leicht zu finden sind. Keine deutsche Zeitung, kein deutsches Magazin, keine wichtige deutsche Online-Nachrichtenseite zeigen die Bilder. Ein Freund, der in der politischen Bildung arbeitet, schickt mir eine Zeitung, die das Bild online zeigt, und fragt mich:

Warum zeigen Medien in Deutschland nicht diese grausame Realität eines aus den Fugen geratenen Islam(extremismus)? Das Bild – aufgenommen vor wenigen Tagen – zeigt das tägliche Grauen, das sich derzeit vor der Haustür Europas abspielt. Es wurde der polnischen Seite Polska24 entnommen, auf der einige (grauenvolle) Bilder des aktuell vor sich gehenden Genozids an irakischen Christen durch sunnitische ISIS-Gotteskrieger zu sehen sind. Unsere Medien veröffentlichen solche Bilder nicht. Warum nicht? Wir wurden doch früher auch nicht von grauenhaften Fotos, z. B. aus dem Vietnamkrieg, verschont…

In unserem Mailwechsel sagt er schließlich, nachdem er für die Veröffentlichung der Bilder plädiert hatte:

Die Wirkung von solchen Bildern verändert uns…

Von Dir lernte ich, des Journalisten Pflicht sei es, in Wort, Bild und Schrift zu berichten, was ist, streng getrennt vom Kommentar. Das habe ich mir zu eigen gemacht.

Meine schlichte Frage lautet:
Warum wird das, was ist, also die Wirklichkeit, wie diese entsetzlich grausamen Fotos sie beschreiben, bei uns nicht veröffentlicht? Was erzählen uns diese Bilder? Die Leichenberge aus deutschen KZ gingen doch auch um in Deutschland, haben viele wach gerüttelt, die es nicht wahr haben wollten – und das war auch gut so.

Eine farbige Doppelseite wäre mal ein Tabubruch im Sinne eines Weckrufes, finde ich. Der Blätterwald würde rauschen. Wegsehen hat doch noch nie ein Problem gelöst.

Stattdessen fragt man bei uns: Darf man solche Bilder veröffentlichen? Und so kommt man zu dem in allen Medien einheitlichen Ergebnis: Zeigen wir nicht. Cui bono?

Das verstehe ich nicht.

Was sagt unsere Ethik, der Pressekodex?

1. „Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ – Also: Verletzten wir nicht die Würde des Opfers, wenn wir ein Terror-Mordopfer öffentlich machen?

2. „Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein.“ – Da ist die Hintertür: Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit, der Weckruf. Aber reicht dies Interesse, Menschen zu erniedrigen, Opfer sterbend zu zeigen?

3. „Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid.“

Ich füge an:

4. Journalisten dürfen sich nicht vor den Propaganda-Karren spannen lassen, erst recht nicht von Terroristen.

Fassen wir noch einmal die Fragen des Freundes zusammen, die mit dem Pressekodex nicht abschließend beantwortet sind:

> Wäre die Veröffentlichung der Fotos des Grauens, also der bestialischen Ermordung von Menschen, nicht ein Weckruf, eine Mobilisierung des öffentlichen Gewissens?
> Warum zeigten wir Bilder von Opfern des Vietnams-Kriegs (etwa: Der Mann, der vom Polizeichef Saigons erschossen wurde; die nackte neunjährige Kim Phuc, die vor dem Napalm flieht), aber nicht die des IS-Terrors?
> Warum zeigen wir Holocaust-Opfer sogar öffentlich in Museen, etwa in Yad Vashem, Jerusalem?

Der „Spiegel“ zitiert Kohl aus nicht-autorisierten Gesprächen: Unmoralisch? Verstoß gegen Pressekodex?

Geschrieben am 7. Oktober 2014 von Paul-Josef Raue.

„Schwan begeht einen Vertrauensbruch, das ist keine Frage“, schreibt Rene Pfister in der Spiegel-Geschichte über das Schwan-Buch nach Gesprächen mit Helmut Kohl, aufgezeichnet und auf Tonband aufgenommen vor 12 Jahren. Dürfen Journalisten Vertrauen brechen? Verstossen sie so nicht gegen jede Moral?

Die folgende Passage zur Recherche hat  im „Handbuch des Journalismus“ reichlich Irritation und Widerspruch ausgelöst:

Manchmal spielen eher unmoralische Motive die Hauptrolle, damit der Moral zum Siege verholfen wird. Hätte nicht der Spiegel einem Informanten eine horrende Summe bezahlt, so wüssten wir immer noch nicht, auf welche Weise sich die Chefs der „Neuen Heimat“ bereichert haben.

Also – Recherchen sind weder moralisch noch unmoralisch, entscheidend ist allein, was am Ende herauskommt: Eine Wahrheit, die die Bürger unbedingt wissen müssen. Oder nicht.

Ähnlich schwankend ist die Argumentation des „Pressekodex“. Erst lesen wir „Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren.“ Meist wenn der Kodex  „grundsätzlich“ schreibt, meint er das Gegenteil: es gibt reichlich Ausnahmen, zum Beispiel:

Vertraulichkeit muss nicht  gewahrt werden, wenn bei sorgfältiger Güter- und Interessenabwägung gewichtige staatspolitische Gründe überwiegen… Über als geheim bezeichnete Vorgänge und Vorhaben darf berichtet werden, wenn nach sorgfältiger Abwägung festgestellt wird, dass das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit höher rangiert als die für die Geheimhaltung angeführten Gründe.

Da stehen alle Türen weit offen, um einmal zugesichertes Vertrauen brechen zu dürfen. Rene Pfister nennt mehrere Gründe für Schwans Vertrauensbruch:

1. Kohl hat die Gespräche geführt, damit sie veröffentlicht werden. Streit ist nicht, ob sie veröffentlicht werden, sondern wann. Pfister vermutet, Kohl – oder seine neue Frau – wolle bestimmen, „welchen Platz er einmal in den Geschichtsbüchern einnehmen würde“.
2.  Kohls Erinnerungen sind ein „historischer Schatz“ der jungen deutschen Geschichte, ein „historisches Vermächtnis“, wie das Landgericht Köln vor einem Jahr feststellte. Für Historiker sind sie eine einzigartige Quelle. So etwas nennt man ein hohes Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit.
3. Wir Zeitgenossen erfahren Neues über die Geschichte und die Mächtigen im Land – erzählt von einem, der fast zwei Jahrzehnte der Mächtigste war.
4. Wir erfahren Neues über die Deutsche Einheit, dem wichtigsten Ereignis der Nachkriegszeit.
5. Die Interviews mit Schwan sind offenbar die einzigen, in denen  sich Kohl relativ unverstellt einem Journalisten offenbart hat.
6. Kohl selber hielt wenig von Vertraulichkeit: In seinen Memoiren veröffentlichte er mehrere vertrauliche Briefe Weizsäckers.
7. Kohl ist so krank, dass er keine ausführlichen Interviews mehr geben kann.

Erinnern wir uns auch noch: Während jeder Deutsche, jeder weniger berühmte, ertragen musste, dass aus seinen Stasi-Akten zitiert wurde, schaffte es Helmut Kohl, dass seine Stasi-Akte gesperrt blieb. Der Kanzler wollte sein Bild für die Geschichte selber zeichnen. Das kann kein Journalist dulden, wenn er gründlich recherchiert.

Haben Schwan und der Spiegel also Kohl hintergangen? Ja, aber die Wahrheit und das Informationsbedürfnis der Bürger haben einen höheren Rang, einen Verfassungsrang. Die deutsche Geschichte, wie sie wirklich war und wie sie die sehen, die vom Volk gewählt sind,diese deutsche Geschichte gehört dem Volk und nicht dem höchsten Volksvertreter, dem Kanzler a.D. Helmut Kohl.

Sicher hat Moral einen festen Platz im Journalismus. Den höchsten Grad der Moral nenne ich die Verfassungs-Moral. Sie ist unser erstes Gebot.

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Beitrag für Bülend Ürük, Chefredakteur von Newsroom.de, der diese Fragen zum Spiegel-Aufmacher stellte; alle Antworten unter newsroom.de:

  • Darf man als Journalist Recherchen verwenden, auch wenn ein Gesprächspartner, dem man dies auch vorher zugesichert hat, dies ablehnt, dies nicht möchte?
  • Wie würden Sie reagieren in einem Fall wie jetzt bei Herrn Schwan und Herrn Kohl? Würden Sie trotzdem auf Gespräche zurückgreifen und daraus ein Buch machen?
  • Gebe es Skrupel, wenn es nicht die Person Helmut Kohl wäre, über die Herr Schwan schreibt? Was wäre, wenn es ein weniger berühmter Mensch der Zeitgeschichte wäre?
  • „Hintergeht“ man seinen Gesprächspartner nicht, wenn man trotz seines Vetos auf diese Gespräche zurückgreift? Ist das ethisch sauber?
  • Wie wirkt sich das auf den Journalismus aus, wenn wir Zusagen an Gesprächspartner nicht mehr halten? Können Gesprächspartner dann noch sicher sein, dass wir eine Info, die sie uns im Vertrauen oder unter Bedingungen gegeben haben, nicht doch später ganz nach unserem Sinn verwenden?
  • Und wie ist das eigentlich, wenn man „nur“ über ein Buch berichtet, wie jetzt im aktuellen Fall der „Spiegel“ – hätten Sie moralische Bedenken, über ein Werk zu berichten, das so viel Streit zwischen den Beteiligten hervorgebracht hat?
  • Hat so etwas wie „Moral“ überhaupt Platz im Journalismus oder ist es nicht viel wichtiger, aufzudecken, Themen zu setzen und andere Geschehnisse zu ignorieren?

NACHTRAG
Das Landgericht Köln hat Anfang Oktober einen Antrag Kohls, die Buchauslieferung zu stoppen, abgelehnt mit der Begründung: Es geht nicht um Urheber-, sondern um Persönlichnkeitsrechte. Nun muss das Oberlandesgericht entscheiden, bei dem Kohls Anwälte Beschwerde eingelegt haben.

Native Werbung ist Betrug am Leser (Zitat der Woche)

Geschrieben am 4. Oktober 2014 von Paul-Josef Raue.

Native will den Leser überlisten – Journalisten wollen überzeugen.

Lars Reckermann, Chefredakteur Schwäbische Post. in einem Tweet vom Verleger-Kongress in Berlin – als Reflex auf FAZ-Online-Chef und Ex-Spiegel-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencorn, der gegen native Werbung argumentierte (also Werbung, die wie ein redaktioneller Beitrag aussieht): „Einzige Überlebenschance der Zeitung im Netz: Glaubwürdigkeit“.

Quelle BDZV Intern Ende September 2014
Fachausdruck: Native advertising

Ist eine Redaktion mitschuldig, wenn Bergsteiger bei einer Weltrekord-Jagd im Himalaja ums Leben kommen?

Geschrieben am 27. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Zwei deutsche Bergsteiger wollen auf zwei Achttausendern im Himalaja einen neuen Weltrekord aufstellen, werden von einer Lawine verschüttet und wahrscheinlich getötet. Spiegel-Online berichtete exklusiv und ausführlich. Deshalb stellt die Redaktion, von Spiegel-Reporter Cordt Schnibben auf Twitter herausgestellt, grundlegende Fragen:

> Welche Verantwortung bringt eine so intensive Berichterstattung mit sich?
> Befeuern wir gar durch die Aufmerksamkeit einen Trend – höher, schneller, weiter, riskanter?
> Was treibt uns?
> Und haben wir die Idee mit vorangetrieben?
> Können wir noch nüchtern berichten? In Syrien oder bei der Ebola-Tragödie stellt die Redaktion die eigene Trauer zurück, analysiert und erklärt die Folgen. „Bei den vermissten Extrembergsteigern Sebastian Haag und Andrea Zambaldi fällt uns das schwer. Es fällt uns schwer, nur unserer Arbeit nachzugehen und nüchtern zu berichten.“

Die Redaktion gibt die möglichen Antworten:

> Einfach nicht mehr berichten? Doch die Grenze zur Ignoranz wäre fließend.
> Würden wir der journalistischen Verantwortung gerecht, indem wir Themen einfach ausblendeten? Extremsportler führen uns immer wieder vor Augen, wozu Menschen in der Lage sind.
> Hätten wir sie aufhalten können? Nein.

Vorsicht Zahlen! Prozente sind trügerisch – und machen bei Wahlen Verlierer zu Siegern (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 21. September 2014 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 21. September 2014 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Friedhof der Wörter, G 27 Vorsicht Zahlen.

An Wahltagen sollten wir ein Wort in die Besenkammer sperren: Prozente – auch wenn wir zu wissen glauben, dass es die Prozente sind, die über Regierungen und Karrieren entscheiden. Aber die Prozente sind trügerisch, so wie es die meisten Zahlen sind: Man muss sie richtig einordnen, sonst richten sie mehr Schaden an als Nutzen.

So war am Abend der Landtagswahl in Thüringen bisweilen zu hören und im Internet zu lesen: Die CDU ist Wahlsieger, sie hat deutlich zugelegt – über zwei Prozent. Das stimmt nicht aus drei Gründen:

> Der Anstieg von 31,2 Prozent auf 33,5 ist ein Anstieg von gut sieben Prozent. Gemeint war aber der Abstand; der beträgt nur zwei Prozent-Punkte. Nur: Wer versteht, zumal im Eifer eines nervösen Wahlabends, was „Prozentpunkte“ bedeutet?

> Schauen wir uns nicht die Prozente an, sondern die Zahl der Stimmen: Dann hat die CDU über 14.000 Wähler verloren im Vergleich zur Landtagswahl 2009. Die anderen Parteien haben übrigens, relativ gesehen, noch mehr Wähler verloren: Die Linke doppelt so viel wie die CDU, die Grünen vier Mal so viel, die SPD fast zehn Mal so viel.

> Aber auch der Vergleich der Stimmen trügt. Thüringen schrumpft, die Zahl der Wähler ist um gut fünf Prozent geringer als vor fünf Jahren. Wer noch Lust hat zu zählen, etwa im Mathematik-Unterricht, der rechne aus, ob sich überhaupt eine Partei als Sieger feiern darf – von der AfD abgesehen, die erstmals auf dem Wahlzettel stand.

Da die Zahl der Stimmen erst in der Nacht mit dem Endergebnis vorliegt, werden wir am Wahlabend wohl weiter mit den Prozenten rechnen müssen. Es ist einfach und überschaubar, aber eben trügerisch.

Übrigens: In diesem Text kommen vier Zahlen vor, als Ziffern geschrieben. Die Lese-Forschung hat herausgefunden, dass die meisten spätestens nach der vierten Zahl aufhören zu lesen. Zahlen machen Menschen eben nervös, so oder so (und ich hoffe, alles richtig gerechnet zu haben).

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Thüringer Allgemeine 22. September 2014, Friedhof der Wörter

Prozente berechnet mit Prozentrechner.net

Die Zahlen (Landtagswahl 2014 Thüringen):

CDU verliert an Stimmen 4,3 Prozent
Die Linke 8,1
Die Grünen 17,7
Die SPD 40,2

Wahlberechtigten-Zahl schrumpft um 5,1 Prozent

Es lebe der Superlativ! Was ist die Steigerung von „knapp“ und „sehr knapp“?

Geschrieben am 17. September 2014 von Paul-Josef Raue.

ntv am frühen Morgen: Der Moderator schaltet nach Schottland, es geht um die Abstimmung zur Unabhängigkeit. Es wird wohl „knapp“, meint der Moderator, und fügt hinzu „sehr knapp“. Und was sagt der Korrespondent in Schottland? „Ja, es wird wahnsinnig knapp.“ Was für ein Wahnsinn!

Journalisten lieben den Superlativ und steigern ihn in den Wahnsinn. Es begann mit dem GAU, dem größten anzunehmenden Unfall. Es liegt in der Natur des Endlichen, dass der „größte“ Unfall nicht mehr der größte ist, wenn ein anderer noch größer ist. Der bekommt dann den Ehrentitel „Gau“.

Wie nannten wir Journalisten ihn? „Super-Gau“. Der nächste, der noch größer ist? „Mega-Gau“. Welche Steigerungen sind noch möglich: „Super-Mega-Gau“ und „Mega-Mega-Gau“ oder „Wahnsinns-Gau“.

Nach der Rettung des Genitivs sollten wir uns an die Rettung des Superlativs wagen.

Die besten Interview-Tipps: Spielen Sie ruhig mit ihrem Gast!

Geschrieben am 16. September 2014 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 16. September 2014 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, G 26 Interview, H 34 Porträt.

Die besten Zeitungs-Interviews sind Gespräche, in die sich der Leser hineingezogen fühlt – in die Atmosphäre, in die Fragen mit all ihren überraschenden Wendungen. Wenn es möglich ist, sollte der Journalist mit seinem Gast auch spielen – mit den Worten, mit den Themen, mit den Antworten.

Spielen bedeutet nicht: flach sein, blödeln, unsinniges Zeug reden, auffallen um jeden Preis. So wie jedes kindliche Spiel immer ein ernstes ist, so ist auch ein Interview der Versuch, einen Menschen und seine Persönlichkeit kennenzulernen, mit Respekt.

Ein Beispiel stammt aus einem Interview, das Tobias Haberl mit Dirk Nowitzki führte. Er thematisierte das wohl schleppend verlaufene Interview mit einer fast frechen Frage – um eine Antwort zu bekommen, die mit zwei, drei Sätzen die Persönlichkeit des Basketball-Stars offenlegte:

Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie gar kein leichter Interview-Partner sind?

Haberl, der Interviewer, sagt nicht: „So kommen wir nicht weiter: Sie antworten ausweichend – und so wird das niemals ein gutes Interview.“ Vielleicht hat er das, ein wenig netter, im Gespräch sogar so gesagt; aber in der Druck-Fassung klänge es respektlos. Er kleidet eine Feststellung in eine persönliche Frage:

Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie gar kein leichter Interview-Partner sind?

Nowitzki: Nein, warum?

SZ: Weil Sie so bescheiden, zurückhaltend und bodenständig sind. Böse Jungs haben oft die besseren Geschichten zu erzählen.

Nowitzki: Tut mir leid. Ich denke auch manchmal: Mensch, Dirk, sie doch nicht immer so vernünftig, sei doch mal wilder, aber was soll ich sagen, ich bin’s einfach nicht. Ich bin so groß geworden, meine Eltern sind bodenständig. Meine Mutter gibt mir heute noch Taschengeld, wenn ich den Sommer über in Würzburg bin.

SZ: Nicht Ihr Ernst?

Nowitzki: Doch, zum Tanken. Ich fahre jeden zweiten Tag zum Training nach Bamberg. Und wenn der Tank leer ist, trete ich bei meiner Mutter an und sage: Mama, kein Geld mehr da.

Die spielerische Frage, die eigentlich ein Vorwurf ist, nach der Schwere des Interviews führt zu sieben Mal „Ich“ in sieben Antwort-Sätzen. Glückwunsch: So gelingt ein Interview.

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Quelle: Süddeutsche Zeitung „Bescheidenheit“, Wochenende-Interview, 6. September 2014

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