Alle Artikel der Rubrik "G. Wie Journalisten informieren"

Ice-Bucket-Challenge: Darf sich ein Redakteur von einem Politiker im Wahlkampf einladen lassen?

Geschrieben am 14. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Wahlkampf in Thüringen. 16.000 Zuschauer im Erfurter Stadion warten auf den Anpfiff des Ost-Derbys gegen Dresden in der Dritten Liga. Am Rande des Rasens steht Bodo Ramelow, Spitzenkandidat der Linken, mit einem roten „Linken“-T-Shirt; rechts und links von ihm stehen auf zwei Hockern Rot-Weiß-Balljungen mit Eiskübel. Ein künftiger Ministerpräsident, möglicherweise, schüttet sich nicht selber Eiswasser über den Kopf.

Wir sind bei der Eiswasser-Wette, dem Ice Buckett Challenge, in den USA erfunden, um Geld für die kaum erforschte Nervenkrankheit ALS zu besorgen. Wer nicht Eiswasser über seinen Kopf kippt, zahlt hundert Dollar; Bill Gates hat sich beteiligt, Mark Zuckerberg und Bild-Chefredakteur Kai Diekmann (der einen „gewissen Christian Wulff“ und seine Frau nominiert haben soll). Nicht reagiert haben Joachim Löw, Angela Merkel und Wladimir Putin.

Auch das gehört eben zum Ritual der Wette: Bodo Ramelow nennt drei Menschen, die seinem Vorbild folgen sollen. Darunter ist sein „spezieller Freund“, der Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, gegen den er im Wahlkampf unzählige Tweets, Retweets, eine Unterlassungserklärung verfasst hat und reichlich Missfallens-Bekundungen erlassen.

Soll ein Chefredakteur (oder auch jeder andere Redakteur) über dies Stöckchen im Wahlkampf springen? Wird er dann nicht Teil des Wahlkampfs? Macht er sich nicht lächerlich vor seiner Leserschaft einer seriösen Zeitung? Oder ist er einfach ein Spielverderber? Einer, der alles zu ernst nimmt?

„Kann er nicht digital“, twittert einer, als meine Antwort nicht rechtzeitig kommt. Man muss, nach den Regeln, innerhalb von 24 Stunden eiskübeln. Meine Antwort an Ramelow:

Sie können mich nicht einladen: ich bin Journalist, kein Wahlkämpfer. Ich kämpfe weder für sie, noch für andere.

Ramelow ist indigniert und grummelt, ich hätte das Ganze nicht verstanden und sollte mal Wikipedia lesen. Meine Antwort:

Wiki lesen: „Ein Internet-Phänomen, von vielen ausgenutzt, sich selbst in Szene zu setzen.“

Übrigens: Die Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis lehnte auch ab: „Ich spende lieber still und leise.“

Hanns Joachim Friedrichs sprach den legendärer Satz, im Handbuch auf Seite 176 zu finden:

Einen guten Journalist erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.

Den beiden schließe ich mich an, ebenso:

Mittlerweile schwappt die Eiskübel-Welle weiter, ohne dass noch großartig auf diesen ernsten Hintergrund hingewiesen wird. Bei der aktuellen Flut an Eiswasser in sozialen Netzwerken bekommt man den Eindruck, es werde nur noch Wasser geschüttet, um sich ins Gespräch zu bringen. […] So wird aus einer Idee, die eine ernste Angelegenheit humorvoll verpackt, ein verwässertes Internet-Phänomen, das von vielen letzten Endes nur ausgenutzt wird, um sich selbst in Szene setzen.

Tanja Morschhäuser: Verwässertes Internet-Meme. Frankfurter Rundschau, abgerufen am 23. August 2014.

Kann man sich hinter der „Floskel der Objektivität“ verschanzen?

Geschrieben am 12. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Thomas Scheen schreibt in der FAZ ein Porträt der südafrikanischen Richterin Masipa, die das Urteil im Prozess gegen Oscar Pistorius spricht. Sie war Journalistin bei der Post in Johannesburg, kämpfte gegen die Apartheid und galt „als zäher Brocken“:

Das war in den siebziger Jahren, als das Apartheidsregime mit roher Gewalt gegen seine Gegner vorging und ein Reporter sich nicht hinter der Floskel der Objektivität verschanzen konnte, sondern Farbe bekennen musste.

Gelten die journalistischen Regeln der Objektivität nur in friedlichen und demokratischen Zeiten? Darf ein Journalist ansonsten Nachricht und Meinung vermischen? Und wenn ja: Warum? Darf auch ein Richter die Objektivität als Floskel sehen?

Quelle: FAZ 12. September 2014

Ein journalistisches Prinzip: „Wir müssen auf die Präzision der Sprache achten“

Geschrieben am 12. September 2014 von Paul-Josef Raue.

„Eine Lichtung, von Wald umgeben“ schrieb Annette Milz, Chefredakteurin des Medium Magazin , in einem ihrer ersten Artikel. Ihr Chef fragte sie: „Wo hast Du schon einmal eine Lichtung gesehen, die nicht von Wald umgeben ist?“. Sie antwortete reflexartig: „Natürlich gibt’s das!“

Der Chef blieb ungerührt: „Wenn Du mir diese Lichtung nennst, die nicht von Wald umgeben ist, darfst Du das schreiben. Wenn nicht, streichst Du ,Von Wald umgeben'“. Das erzählte Milz in einem Interview mit Wolfram Kiwit, dem Chefredakteur der Ruhr-Nachrichten.

Das Erlebnis prägte Milz in zweierlei Hinsicht:

1. Wir müssen als Journalisten auf Präzision der Sprache achten.
2. Wir müssen auf eine präzise Information achten.

Ein Glück, wer solch einen Chef hatte. Hochachtung vor dem, der solch eine Lektion wirklich lernte – und nach ihr lebte.

Dürfen Chefredakteure beim Interview mit der Kanzlerin „entgleisen“?

Geschrieben am 23. August 2014 von Paul-Josef Raue.

„Fürchterliche und beleidigende Entgleisungen“ entdeckt ein 84 Jahre alter und nach eigener Auskunft parteiloser Leser der Thüringer Allgemeine in den Fragen der Chefredakteure beim Interview mit der Kanzlerin.  Das Interview hatten die Chefredakteure der drei Thüringer Tageszeitungen (TA, OTZ, TLZ) gemeinsam geführt und wortgleich veröffentlicht.

Vor allem eine Frage empfindet der Leser als „unerhört und falsch“ und erinnert ihn an Politiker in der alten BRD des kalten Kriegs:

Sehr wahrscheinlich werden stasibelastete Politiker für die Linke in den Thüringer Landtag einziehen. Nach Ansicht der Thüringer CDU ist die Linke ein Sammelbecken für Stalinisten, linke Gewalttäter und Stasi-Zuträger. Teilen Sie diese Meinung?

Unser Leser zweifelt sehr, „dass die Thüringer CDU so falsch geprägt ist, wie das in der Fragestellung behauptet wird“.

Chefredakteur antwortet:

Sehr geehrter Herr S., 

die Frage an die Kanzlerin nimmt das Zitat eines führenden CDU-Politikers in Thüringen auf. Der Fraktionsvorsitzende Mike Mohring sagte in einem Interview mit Bernd Hilder, dem Chef der TLZ:

Bodo Ramelow verstellt sich. Hinter der vermeintlich bürgerlichen Fassade des Fraktionsvorsitzenden der Thüringer Linken verbirgt sich eine Gruppe aus Stalinisten, aus Extremisten, aus Leuten, die beim Schwarzen Block aktiv sind, aus linken Gewalttätern und ehemaligen Stasi-Spitzeln.

< Hier werden wir Journalisten für eine "Entgleisung", so sie eine ist, in Haftung genommen, die wir lediglich zitieren - um zu erfahren, ob die Kanzlerin so denkt wie ihr Parteifreund in Thüringen. Wir sind nur die Boten, mehr nicht. Es ist auch nicht Aufgabe von Journalisten, Werbung für Politiker zu machen und die Floskeln ihrer Pressesprecher und Wahlkampf-Manager zu drucken. Es ist unsere Aufgabe, mit unbequemen, gar frechen Fragen dem Politiker die Wahrheit seines Denkens zu entlocken. Das schulden wir unseren Lesern und den Bürgern. Ist uns das mit dem Merkel-Interview gelungen? Im Gegensatz zu Ihnen fanden andere Leser das Interview als zu zahm. Ich gebe zu: Unerhört, falsch und entgleisend waren die Fragen  wohl nicht; im Gegenteil: Wir hätten schon ein bisschen bissiger sein können. Thüringer Allgemeine, Samstag-Kolumne „Leser fragen“ 23. August 2014

**

Der Leserbrief in Auszügen, am 20. August 2014 auf der TA-Leserseite veröffentlicht:

Eine Stimme für die Linke

Frau Merkel wird gefragt: „Sehr wahrscheinlich werden stasibelastete Politiker für die Linke in den Thüringer Landtag einziehen. Nach Ansicht der Thüringer CDU ist die Linke ein Sammelbecken für Stalinisten, linke Gewalttäter und Stasi-Zuträger. Teilen Sie diese Meinung?“.

Hierzu antwortet ein 84-jähriger Bürger aus Erfurt, der in der DDR gelebt, ordentlich gearbeitet und seit 61 Jahren eine Familie mit einer Frau hat, seit 1989 parteilos ist und seit der Wende als Senior sehr aktiv ehrenamtlich tätig ist.

Die bereits erwähnte unerhörte, falsche Fragestellung von Chefredakteuren der drei Zeitungen in Thüringen zeigt eine Grundeinstellung dieser Chefs, die an den Kalten Krieg von vor 1989 erinnert, wie er von den Politikern und anderen klugen Leuten von der alten BRD öffentlich geführt wurde.

Ich zweifle sehr, dass die „Thüringer CDU“ so falsch geprägt ist, wie das in der Fragestellung der Redakteure gesagt und behauptet wird.

Die Linke ist heute eine Partei, die besonders in den östlichen Bundesländern von zum Teil mehr Menschen vertrauensvoll angesehen und gewählt wird, da sie mit sauberen und demokratischen Mitteln für die Interessen der Menschen hier eintritt und dabei die soziale Gerechtigkeit und andere Grundinteressen der Menschen hoch angebunden vertritt.

Ein Kuss, ein Gebet – Die letzten Stunden der Opfer von MH 17: Ein Glanzstück der Nachrichtenagentur AP

Geschrieben am 5. August 2014 von Paul-Josef Raue.

Das sind die Geschichten, die Leser lieben: Wie verbrachten die Passagiere des Flugs MH 17, den Terroristen abgeschossen haben, ihre letzten Stunden? Mit wem sprachen sie zuletzt? Wie lautete ihre letzte Mail? Welchen Menschen sahen sie als letzten, bevor sie zum Flugsteig gingen? Wen küssten sie? Wen umarmten sie?

Es ist schon ungewöhnlich, dass eine große Nachrichtenagentur wie AP solch ein großes Erzähl-Stück recherchiert und veröffentlicht. Normalerweise bringt sie die aktuelle Meldung, vielleicht noch die Namensliste der Opfer, ihre Nationalitäten. Kristen Gelineau, AP-Chefin in Australien, wollte hinter die Nachrichten schauen, die Kleinigkeiten entdecken, die das Leben ausmachen, sie suchte den Zeitstempel des letzten Gesprächs der Opfer, sie wollte „Qualität statt Quantität“ – und bat um Recherche-Hilfe bei Reportern in Neuseeland und auf den Philippinen, in Indonesien, Holland und Malaysia.

Erin Madigan White erklärte die Reportage „A kiss, a prayer: The last hours of MH 17’s victims“ im AP-Blog zum „Beat of the week“, der mit 500 Dollar honoriert wird. Kristen Gelineaus Geschichte beginnt so (frei übersetzt):

Im Schlafzimmer eines Hauses nahe Amsterdam fragt Miguel seine Mutter: „Mama, darf ich Dich umarmen?“ Samira, seine Mutter, legt ihre Arme um ihren elfjährigen Sohn, der sie seit Tagen nervt mit Fragen nach dem Tod, nach Gott und seiner Seele.

Am nächsten Morgen brachte sie ihn und seinen großen Bruder Shaka zum Flughafen, wo sie den Flug Malaysia Airline 17 nehmen wollten, um ihre Großmutter in Bali zu besuchen mit der Aussicht auf Wasser-Ski und Surfen im Paradies.

Irgendetwas war anders. Am Tag vor dem Flug brach es aus Miguel heraus beim Fußballspiel: „Wie willst du sterben? Was wird aus meinem Körper, wenn ich beerdigt bin? Fühle ich nichts, weil unsere Seele zu Gott zurückkehrt?“ Er beginnt mich zu vermissen, sagte sich seine Mutter. Sie hielt ihn die ganze Nacht fest in den Armen.

Das war um 23 Uhr am 16. Juli. Shaka und 296 andere Passagiere auf Flug 17 hatten noch ungefähr 15 Stunden zu leben.

Die Geschichte liest sich wie die Skizze für einen großen Roman. Zur Nachahmung empfohlen – für Nachrichtenagenturen und jeden, der Qualität mag und seine Leser liebt.

Diekmann hat bei Wulff-Frühstück nicht angebliche Rotlicht-Vergangenheit der Gattin angesprochen, so Diekmann

Geschrieben am 26. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

Veränderte Überschrift
@KaiDiekmann korrigierte in einem Tweet:

@pjraue BEI JENEM FRÜHSTÜCK spielte das Thema in der Tat keinerlei Rolle! Heisst nicht, dass es nicht eine andere Gelegenheit gab!

Die ursprüngliche Überschrift lautete: „Diekmann hat mit Wulf nicht über angebliche Rotlicht-Vergangenheit der Gattin gesprochen, sagt Diekmann“

**

Was geschah beim Frühstück im Schloss Bellevue, als Bundespräsident Wulff Bild-Chefredakteur Diekmann zu Kaffee und Toast eingeladen hatte – damals wohl noch ein Herz, aber ohne Seele? Die Berliner Morgenpost lauschte und schrieb nach dem Wulff-TV-Auftritt bei Maybrit Illner:

Wer seine Urlaube mit Top-Wirtschaftsleuten verbringt, wer Amt und Freundschaften bis zur Unkenntlichkeit vermischt, der ist eine dubiose öffentliche Figur. Und wenn Kai Diekmann bei einem privaten Frühstück im Schloss Bellevue die neue Ehefrau Bettina Wulff auf ihre angebliche Rotlichtvergangenheit anspricht, dann wäre spätestens das der Moment gewesen, den Mann sofort vor die Tür zu setzen. Warum hat Wulff damals kein Rückgrat gezeigt?

Diekmann antwortet kurz vor Mitternacht per Twitter:

@KaiDiekmann: Ganz einfach, liebe @morgenpost: Ich habe das Thema bei jenem Frühstück gar nicht angesprochen.

Worüber haben die Drei denn gesprochen? Die FAZ hatte Wulffs Mailbox-Nachricht auf Diekmanns Handy veröffentlicht – ist jetzt die Süddeutsche an der Reihe, Diekmanns Gedächtnisprotokoll des Frühstücks im Bellevue zu drucken?

++

Quellen: Morgenpost 25.7.2014 / Tweet Diekmann

Dieckmann Wulff

Wenn Dämme brechen und Leute ihr Haustier heiraten (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

In Deutschland gibt es vergleichsweise wenige Dämme. Sie schützen Mensch und Schaf gerade mal an großen Flüssen und am Meer. Dennoch ist ein Sprachbild, besonders bei Politikern, sehr beliebt: Der Dammbruch. „Wir sind ein Volk von Deichbeauftragten“, macht sich der Mainzer Verfassungsrichter Friedhelm Hufen über den Deich in der öffentlichen Diskussion lustig.

Aber das Bild ärgert ihn auch, zu Recht. Wer vor dem Dammbruch warnt, will nicht mehr diskutieren und begründen: Er malt den Weltuntergang an die Wand, wenn es um Designer-Babys, Einwanderung oder Homo-Ehe geht – und unterstellt, dass der Mensch nicht mehr eingreifen kann wie bei einer unbeherrschbaren Sturmflut.

„Der drohende Dammbruch gehört zum Lieblingsritual pseudointellektueller Gruselrunden“, urteilt der Jura-Professor und argwöhnt, dass Risiken dramatisch überzeichnet und Chancen von vornherein negiert würden. Diese „Pseudo-Intellektuellen“ seien selbsternannten Vormünder, die die Vernunft des Einzelnen durch ihre eigene Entscheidung ersetzen wollen: „Gegenüber Dammbruch und Katastrophe wird dann der vorsichtige Hinweis auf individuelle Freiheiten und die Begründungsbedürftigkeit von Freiheitseinschränkungen zum Verstummen gebracht.“

Der Blogger Michael Hohner zitiert in Ratio Blog ein blödes, aber offenbar verbreitetes Dammbruch-Argument: „Wenn Schwule heiraten dürfen, dann müssen wir auch Leute ihre Haustiere heiraten lassen oder ihr Auto, und dann bricht die Gesellschaft zusammen.“ Für ihn sind Dammbruch-Argumente ein „Fehlschluss“, von denen er 32 aufzählt.

In der englischen Sprache spricht man von der schiefen Ebene, dem „Slippery Slope“; andere deutsche Bilder sind der Domino- und Lawinen-Effekt und die „Spirale der Gewalt“.

Beerdigen wir also die „schiefen Ebenen“ und zuerst den „Dammbruch“ und lassen Immanuel Kant zu Wort kommen, den Philosophen des mündigen Bürgers – den auch der Verfassungsrichter zitiert:

Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, so brauche ich mich ja selbst nicht zu bemühen.

**

Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. Juli 2014 (hier erweiterte Fassung)

„Deutschlandradio Kultur“ hat das Mediengespräch am Morgen beerdigt

Geschrieben am 22. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

Journalisten sind eitle Menschen – auch nicht wenige leitende Redakteure von Regionalzeitungen, die selten eine Chance haben, im Fernsehen gesehen oder im Radio gehört zu werden. Kurzum: Sie freuen sich über jeden Auftritt!

Besonders beliebt war das Mediengespräch, einst das Zeitungsgespräch, in Deutschlandradio Kultur – jeden Morgen um 8.10 Uhr. Da stand der Redakteur gerne mal früh auf, um am Telefon zu erklären, warum es auch in der Provinz bisweilen hoch hergeht – oder auch: Warum eine Zeitung in der Provinz die Welt erklären kann. Da gab es legendäre Stimmen und Erklärer: Wolfgang Molitor von den Stuttgarter Nachrichten beispielsweise oder Alfons Pieper von der WAZ, als er stellvertretender Chefredakteur war.

Bisweilen ging es auch so daneben, dass einem der Moderator leid tat: Kein gerader Satz, kein Inhalt, Lampenfieber pur. Doch die fünf Minuten am frühen Morgen waren auch eine Verbeugung vor den Zeitungen in der Provinz, die massgeblich die öffentliche Meinung in Deutschland herstellen und nicht selten bestimmen. Gerade Deutschland-Radio Kultur legt, oder besser: legte großen Wert darauf, von den Eliten, Meinungsbildnern und Multiplikatoren gehört zu werden. Die Journalisten in der Provinz gehören nicht mehr dazu.

Das Zeitungsgespräch ist gerade wegreformiert worden. Auf die Frage, ob es einen neuen Sendeplatz gebe, antwortet der Sender:

Das Feuilletonpressegespräch wird es weiter geben – künftig in der Sendung „Kompressor“ (montags bis freitags von 14.00 bis 15.00 Uhr), allerdings nicht mehr täglich, sondern 2-3mal pro Woche in der Rubrik „Das Lesen der Anderen“.

Ruhe sanft!

Interview-Eklat (3) – Gestrichen: „Hören Sie auf, wenn Sie Weltmeister werden?“ Löw antwortete „Gut möglich“

Geschrieben am 21. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

Wieder ein Redakteur, diesmal ein Chefredakteur, der von einer peinlichen Interview-Autorisierung erzählt – allerdings ein Vierteljahr zu spät. Der Schweiz am Sonntag hatte Bundestrainer Löw seinen Rücktritt angedeutet, aber DFB-Pressesprecher Jens Grittner drohte und flehte am Telefon: „Wenn Sie diesen Satz im Interview drin lassen, dann brauchen wir gar nicht erst nach Brasilien fahren!» Es ist Samstagabend, 29. März, drei Stunden vor Andruck.

Der DFB-Pressesprecher sagte dann noch: „Also machen Sie jetzt bitte keine Dummheiten! Die deutschen Medien stehen Kopf, wenn Sie das drucken.“ Die Schweizer druckten diese beiden Löw-Sätze, die letzten im Interview, nicht:

Frage: „Falls Sie Weltmeister werden, hören Sie dann auf?“
Löw: „Das weiss ich nicht. Gut möglich. Nach zehn Jahren kann ich mir auch vorstellen, dass ich mal gerne wieder einen Verein trainieren möchte.“

Chefredaktor Patrik Müller berät mit seinem Reporter Markus Brütsch, der das Interview geführt hat, und kommt zum Ergebnis:

Drucken, was effektiv gesagt wurde – es aber damit wohl für alle Zeiten mit Löw und dem DFB verderben? Ist es das wert? Gemeinsam entscheiden wir, die Spielregeln, wie sie sich in unserer Branche eingebürgert haben, zu respektieren. Schliesslich haben wir das Interview nur unter der Voraussetzung bekommen, dass es gegengelesen werden darf.

Und wie endet das gedruckte Interview:

Falls Sie Weltmeister werden, hören Sie dann auf? —
Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.

Und warum erzählt der Chefredakteur heute diese Geschichte einer unterdrückten Sensation?

Jetzt darf das verbotene Zitat raus. Eine gewisse Pikanterie hat es nach wie vor, schliesslich ziert sich Jogi Löw zurzeit immer noch, klar zu sagen, dass er seinen Vertrag, der bis zum Jahr 2016 läuft, erfüllt und Bundestrainer bleibt. Auch wenn alle davon ausgehen, dass er es macht.

Falls es so kommt, lieber DFB: Wir hätten dann gern mal noch ein Interview mit dem Weltmeistertrainer. Wir waren doch so nett.

**

Quelle: Schweiz am Sonntag, 20. Juli 2014

Interview-Eklat (2) – Spiegel-Reporter erzählt vom Wulff-Gespräch: Es hat einige Male vor dem Abbruch gestanden

Geschrieben am 20. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

„Ich war eine Provokation“ steht auf dem Titel des neuen Spiegel, das auf einem Gespräch mit Ex-Bundespräsident Christian Wulff basiert, dessen Autorisierung lange fraglich war. So erzählt Spiegel-Reporter Peter Müller in einem Video auf Spiegel-Online. Wird es üblich, dass ein Interview, vor allem ein hart geführtes, begleitet wird von einem „Making of“? Also einem Bericht des Redakteurs, wie schwierig die Autorisierung war? Diese Berichte, einseitig von Natur aus, werden ja nicht autorisiert.

Gerade hat Markus Wiegand im Wirtschaftsjournalist erzählt, wie schwierig die Autorisierung eines Weimer-Interviews war (siehe dazu den Blog „Elite der Journalisten sind Weicheier“).

Offenbar missfällt immer mehr Reportern die deutsche Eigenart, Interviews autorisieren zu lassen. Sie beneiden ihre amerikanischen und britischen Kollegen, die – wie die New York Times – prinzipiell nicht autorisieren lassen. Doch hat der deutsche Sonderweg einen großen Vorteil: Politiker und andere Funktionäre sprechen frei und üben nicht vorher Phrasen und Textbausteine wie bei den unsäglichen TV-Erklärungen.

Vor wenigen Tagen erzählte Katrin Göring-Eckardt bei einem Redaktionsbesuch in Erfurt: Sie habe sich vor dem Interview mit einem angelsächsischen Journalisten gut vorbereitet und alle möglichen Sätze im Kopf bereitgelegt. Allerdings habe der Journalist von sich aus einer Autorisierung zugestimmt: „Ich weiß, dass Sie hier andere Sitten haben.“

Im Wulff-Interview, an dem auch Chefredakteur Büchner teilnahm (als einziger auf dem Foto grimmig schauend), beklagt Wulff verschiedene Spiegel-Titel, die Verrohung des Diskurses, Häme, Diffamierung und Denunziationen. Er verlangt härtere Regeln und Strafen des Presserats.

Kai Diekmann, Bild-Chefredakteur, weiß noch mehr. Er twittert:

Warum hat es so lange gedauert, das Interview mit Wulff zu veröffentlichen? Ist doch schon vor über 5 Wochen geführt worden…

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