Alle Artikel der Rubrik "G. Wie Journalisten informieren"

Wie Niki Lauda eine Reporterin aus der Fassung brachte

Geschrieben am 21. September 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 21. September 2013 von Paul-Josef Raue in G 26 Interview, H 32 Reportage.

Nur knapp sein Leben rettete Niki Lauda nach seinem Unfall auf dem Nürburgring 1976. Sein Gesicht ist seitdem buchstäblich gezeichnet. Eine amerikanische Reporterin holte Lauda an den Nürburgring, um mit ihm über den Unfall zu sprechen.

Niki Lauda erzählt im Magazin der Süddeutschen Zeitung:

Na ja, das war eine von diesen amerikanischen Morningshows, die kamen zum Nürburgring, und so eine Frau, groß, blond, alles dran, wollte mich an der Unfallstelle interviewen. Die hatten sich alle gesagt: Ui, der wird sicher weinen, das wird ein ganz großer emotionaler Moment!

Ich hab mir aber vom Hotelbuffet ein Kipferl mitgenommen und das vorher ins Gras gelegt. Die fängt an:

‚Mister Lauda, how is it to be here …‘ Sag ich: ‚Just a moment!‘ und geh ein paar Schritte ins Gras.

Fragt sie: ‚What are you doing?‘ Sag ich: ‚Oh look, here’s my ear!‘

Die war fertig. Die hat die Fassung verloren. Die mussten alles noch mal drehen.“

(Ein Kipferl ist ein österreichisches Gebäck, das wie ein gepudertes Horn aussieht)

Quelle: Süddeutsche Magazin 20.9.2013

Die FAZ druckt einen Text, den die taz nicht drucken wollte

Geschrieben am 18. September 2013 von Paul-Josef Raue.

„Und wer kontrolliert die Zeitungen?“ Es gibt kaum eine Diskussion mit Politikern und nicht selten auch mit Leser, in der nicht diese Frage gestellt wird. Die Antwort ist einfach: Die Medien kontrollieren die Medien.

Ein gutes Beispiel lieferte die Sonntagszeitung der FAZ: Sie druckte auf der zweiten und dritten Seite einen Beitrag, den die taz-Chefredakteurin Ines Pohl nicht drucken wollte. Thema von Christian Füllers „Die große Legende“ ist die Förderung von Kindesmissbrauch und Pädophile durch die Grünen in ihren Anfangsjahren.

Die FAS kündigte den Beitrag auf der Titelseite an: „Die taz-Chefin wollte den Text nicht drucken. Genannt wurden dafür alle möglichen Gründe, auch in der Redaktionskonferenz.“ Die Gründe waren: Falsche Tatsachen, falsche Kausalketten, handwerkliche Schwächen. Der Hauptgrund war wohl der Wahlkampf und die schädliche Wirkung des Artikels auf die Grünen, die der taz nahestehen.

Füllers Artikel endet:

Der grüne Moralist ist nackt – und alle können es sehen.

Am Rande sei eine Pikanterie erwähnt: Die taz-Chefredakteurin beschwerte sich in der Redaktionskonferenz, dass der Streit öffentlich wurde. Der Autor dieses Blogs erinnert sich gut daran, wie genüsslich die taz Diskussionen anderer Redaktionen in ihrem Blatt ausbreitet – in der Regel ohne die Angegriffenen zu befragen.

FAS 15. September 2013

Kommentar von Anton Sahlender via Facebook

Da gibt es durchaus noch etwas mehr Kontrolle: Gesetze, Presserat, Leser und da und dort Ombudsleute

Merkel und ihre Unbestimmtheit: Die stellt Journalisten doch zufrieden

Geschrieben am 15. September 2013 von Paul-Josef Raue.

Von wem hat Angela Merkel das Nicht-Genau-Festlegen gelernt? Das Abwartende? Das Unbestimmte? Von Hans-Dietrich Genscher und den Journalisten: Genscher mochte das Unbestimmte, und die Journalisten mochten Genscher.

Auf der Feier zum 80. Geburtstag von Genscher sprach Merkel diesen Satz, für sie seltsam verschwurbelt:

Die aus meiner Sicht doch in seinen Äußerungen vorhandene Unbestimmtheit über den Gegenstand, den er beschrieb, und die gleichzeitige Zufriedenheit der Journalisten, die hat bei mir, ehrlich gesagt, auf meinem politischen Lernweg eine nachhaltige Wirkung entfaltet.

Merkel hatte sich, so erzählt sie, diese Technik von Genscher bei einer Moskau-Reise abgeschaut; damals war sie stellvertretende Regierungssprecherin.

Michael Hanfeld hat sich Stephan Lambys Film „Das Duell Merkel gegen Steinbrück“ vorab angeschaut und daraus in seiner Rezension zitiert; der Film läuft am Montag um 22.45 Uhr im Ersten. Hanfeld lobt den Film: Er zeige die beiden Kandidaten klarer als in dem TV-Duell mit vier Journalisten als „Wichtigtuer“.

Quelle: FAZ 14.9.13

Wann wird ein Gesicht gepixelt? (Frage eines Lesers)

Geschrieben am 7. September 2013 von Paul-Josef Raue.

Warum werden Straftäter, auch wenn sie eindeutig gesucht werden und entlarvt sind, in Videos und Fotos oft verpixelt dargestellt?

Ein Leser fragt, in der Samstag-Kolumne antwortet der TA-Chefredakteur:

Solange ein Bürger nur angeklagt und nicht verurteilt ist, gilt die Vermutung der Unschuld. Also dürfen weder Polizei noch Zeitungen die Gesichter zeigen, es sei denn die Angeklagten sind öffentlich bekannte Persönlichkeiten wie beispielsweise der ehemalige Bundespräsident Wulff, der sich bald vor Gericht verantworten muss.

Wäre Wulff ein einfacher, kaum bekannter Bürger, käme sein Bild nicht in die Zeitung – bei einem relativ geringen Vorwurf wie der Vorteilsnahme.

Wer nur für kurze Zeit ins Gefängnis geht, hat auch ein Recht, dass sein Gesicht nicht öffentlich gezeigt wird: Hat er seine Strafe abgesessen, soll er ein normales Leben führen dürfen. Kennen viele Menschen sein Gesicht, wirkt ein Foto wie ein lebenslanger Pranger und eine lebenslange Strafe.

Sucht die Polizei einen mutmaßlichen Gewaltverbrecher, der auf der Flucht ist, gibt sie zur Fahndung ein Foto heraus, das auch von unserer Zeitung gedruckt wird ohne eine Verfremdung des Gesichts.

Unproblematisch ist dies nicht: Im Internet wird dies Foto für alle Zeiten sichtbar sein, auch wenn sich die Unschuld herausstellen sollte.

Dankbar bin ich Ihnen für diese Zeilen am Ende Ihres Briefs:

Die TA schreibt meinen Namen unter meinen Leserbrief, weil ich mit meinem Namen auch zu dem stehe, was ich sage. Das aber beweist meine Naivität. Schlaue Kommentatoren schreiben nämlich unter Pseudonym oder verfassen böse Briefe mit falschem Namen. Leider ist in solchen Fällen eine ehrliche mutige Diskussion nicht möglich.

Ich versichere Ihnen: Sie sind nicht naiv, Sie beweisen im Gegenteil Zivilcourage! Wer sich in die öffentliche Diskussion einmischt, sollte sein Gesicht zeigen – von wenigen Ausnahmen abgesehen, wenn sich ein Leser sorgt um Leib und Leben.

Auch wenn uns ein Leser informiert über Machenschaften, beispielsweise in einer Behörde, dann garantieren wir ihm Anonymität – auch gegenüber Staatsanwalt und Polizei.

Leser, die unter falschem Namen schreiben, sind nicht schlau, vielmehr betrügen sie die anderen Leser unserer Zeitung. Doch kommt dieser Betrug nur sehr selten vor, weil wir in der Regel die Identität prüfen.
Dass Leser mir ihrem guten Namen für ihre Meinung einstehen, ist der große Vorzug der Zeitung vor dem Internet. Dort wird zu oft beleidigt, beschimpft, besudelt – von Menschen, die sich hinter einem Pseudonym verstecken. Ich stelle mir eine Demokratie anders vor, eben so wie wir in der Zeitung miteinander umgehen und diskutieren.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 7. September

Der erste Band der „Bibliothek des Journalismus“: Hans Hoffmeister – Harmonie ist mir suspekt

Geschrieben am 31. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Er ist ein Getriebener, ein Schwarz-Weiß-Seher, ein Himmelhochjauchzendundzutodebetrübter, atemlos mit dem geschriebenen wie dem gesprochenen Wort.

So schreibt Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig über Hans Hoffmeister, 22 Jahre Chefredakteur der Thüringischen Landeszeitung; er wurde, der am Freitag in den Ruhestand verabschiedet wurde (30. August 2013). Machnig war einer der 250 Gäste, die zum Abschied in den Weimarer „Elephant“ gekommen waren. Machnig, auch ein Politiker starker Worte. schreibt weiter:

Das feine Florett war nicht Hoffmeisters Waffe, eher die schwere Nagelkeule.

Machnigs Einschätzung ist zu lesen in einem Interview-Buch, das Paul-Josef Raue, Autor dieses Blogs, über Hans Hoffmeister verfasst hat; es ist der erste Band der neu gegründeten „Bibliothek des Journalismus“, die im Klartext-Verlag erscheint mit Raue als Herausgeber:

Paul-Josef Raue: Hans Hoffmeister – Harmonie ist mir suspekt. Klartext-Verlag, 163 Seiten, 13,95 Euro

„Wir haben nicht über die Wende berichtet. Wir haben sie gemacht“, sagt Hans Hoffmeister in dem fünfstündigem Interview, in dem der scheidende Chefredakteur ausführlich seinen Anfang in Thüringen direkt nach der Wende erzählt. Die Kapitel-Überschriften führen durch das Buch wie durch das Hoffmeistersche Leben. In der ersten Hälfte sind die Wende und die folgenden Jahre das Thema:

> „Eine Affekthandlung“ – Hoffmeisters Aufbruch in den Osten
> „So war der wilde Osten“ – Der Start der „Tagespost“ in Eisenach
> „Wie sollten sie denn plötzlich Demokraten sein?“ – Die ersten Tage in der Weimarer Redaktion
> „Nicht nur nicken, auch handeln“ – Die ersten Jahre der TLZ
> „Harmonie ist mir suspekt“ – Wie es dem Westdeutschen im Osten erging.

Im zweiten Teil erzählt Hans Hoffmeister aus seinem Leben und von seinen Anfängen als Journalist im Westen: „Es wurde unfassbar viel gesoffen“. Immer wieder räsonieren die beiden Chefredakteure auch über den Journalismus, seine Werte und Regeln.

Zwei Auffassungen von Journalismus prallen in dem Interview aufeinander:

> Hoffmeister bekennt sich zur Einmischung der Redaktion in die Politik, er nimmt Partei, ist gegen die Trennung von Nachricht und Meinung und begründet dies so: „Ich will nicht, dass dieses Land, mein Land, Schaden nimmt“.

> Paul-Josef Raue, Chefredakteur der konkurrierenden Thüringer Allgemeine (TA), plädiert dagegen für eine Distanz, die dem Leser die Freiheit lässt, selber ein Urteil zu bilden, und zitiert den TV-Moderator Friedrich: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.“

Im Anhang antworten 21 Prominente auf die Frage „Hatten Sie Angst vor Hans Hoffmeister:

Erfurts MDR-Funkhaus-Chef Werner Dieste:

Viel spannender ist die Frage: Hat Hans Hoffmeister in den vielen Jahren in der Weimarer Marienstraße manchmal Angst gehabt – gar vor sich selbst?

TA-Redakteur Henryk Goldberg:

Ich habe ein wenig Angst vor einer Fähigkeit, die Hans Hoffmeister auszeichnet, und die mir seit 1990 abhandenkam: Sich so ganz, so rückhaltlos einer Sache hinzugeben.“
Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht: „Wir sind stolz darauf, dass er Bürger unseres Landes ist.

Ex-Jenoptik-Chef Lothar Späth:

Parlaments- und Regierungsvertreter hatten bei ihm kaum eine Chance, ihre Sicht der Dinge vorzutragen. Am liebsten hätte er das Ganze selbst übernommen.

Thüringens Vize-Ministerpräsident Christoph Matschie über Hoffmeisters Samstagkommentar, das „Schlüsselloch“:

Im Schlüsselloch ließ Hans Hoffmeister nicht selten das Fallbeil auf Politiker nieder. Mich traf es auch, aber ich lebe noch.

Wahlkampf: Wenn Parteien ihre Mitglieder zu Leserbriefen animieren

Geschrieben am 22. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser, der ungenannt bleiben will, schickt mir einen Brief und erzählt: Ein Verwandter hörte in einer internen Partei-Versammlung, dass die Mitglieder die Leserseite der TA zu Wahlkampf-Zwecken nutzen sollten. Auch die Themen gab man vor:

Altersarmut, Kinderarmut, korrupte Politiker, „Ossigkeit“ in allen Formen wie Hoffnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit.

Offenbar hat diese Partei ihr Ziel erreicht, ihre Anordnung geht voll auf, schreibt unser Leser. Genau die von der Partei befohlenen Themen füllen die Leser-Seite; er nennt zwei Beispiele:
+ Da berichtet ein fast 90-jähriger und schließt mit den Worten „armes Deutschland“. Wann in seinem Leben war es denn besser?

+ Da schreibt eine Mittfünfzigerin über ihre Arbeits- und Perspektivlosigkeit: „Ich wohne in einem 100-Seelendorf mit schlechter Verkehrsanbindung und habe keine Fahrerlaubnis und bekomme keine Arbeit.“ Tausende sind dahin gezogen, wo es Arbeit gibt; Tausende haben die Fahrerlaubnis gemacht und pendeln täglich mehrere Stunden…

Wie kommt es, fragt unser Leser, dass die Mehrheit der Thüringer für die Regierung votiert, aber auf der Leser-Seite sich zu 95 Prozent die Unzufriedenen einer Partei finden?

Schreiben die anderen nicht?, merkt unser Leser noch an. „Das sind aber die Leistungsträger, die mit Pendlerzeit 12 Stunden am Tag tätig sind und keine Zeit zum Schreiben haben.“

Wahl-Tagebuch in der Thüringer Allgemeine, 23. August 2013

Schauen Sie nicht nur auf die Sonntagsfrage! Das große Schönenborn-Interview zu Wahl und Umfragen

Geschrieben am 6. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Worauf sollen Redakteure achten, wenn sie eine Umfrage lesen?, fragte ich Jörg Schönenborn, den WDR-Chefredakteur und Umfragen-Papst der ARD. Seine Empfehlungen:

„Zum einen: Achten Sie auf das Datum der Befragung. Nicht selten sind Zahlen unterwegs, die aus der letzten Woche stammen und über die aktuelle Situation nicht mehr viel sagen. Und die andere: Gucken Sie bitte nicht nur auf die Sonntagsfrage.“

Diese Antwort ist Teil eines großen Interviews mit Jörg Schönenborn, das die Thüringer Allgemeine am 3. August veröffentlich hat – zum Auftakt der Wahlwette, bei der die Leser im Internet den Wahlausgang vorhersagen sollen; erfunden hat die Wahlwetter die Saarbrücker Zeitung, die auch das technische Wissen vermittelt und die Führerschaft der Aktion übernommen hat. Etwa ein Dutzend Zeitungen beteiligt sich an der Wahlwette.

Herr Schönenborn, wissen Sie schon, wie die Bundestagswahl ausgeht?

Nein, dann müsste ich ja Hellseher sein. Diese Woche zum Beispiel haben über 40 Prozent der von uns Befragten angegeben, dass sie sich entweder noch nicht entschieden haben oder dass sie es sich vielleicht noch einmal anders überlegen. Viele von denen werden nicht einmal wissen, wen sie wählen, wenn sie am Wahlsonntag aufstehen, sondern sich wirklich erst in letzter Minute entscheiden. Deshalb ist mir die Botschaft immer besonders wichtig: Umfragen sind keine Prognosen, keine Vorhersagen.

Sie präsentieren Monat für Monat die Sonntagsfrage, also: Wenn heute die Wahl wäre, wie würden die Deutschen entscheiden. Wen beeinflussen Sie damit mehr: Die Politiker oder die Wähler?

Zum Glück bin ich da nicht der Einzige, es gibt andere Institute, andere Zahlen. Sonst wäre die Verantwortung noch größer. Politiker haben im Zweifel ihre eigenen Umfragen, die von den Regierungen und Parteien bezahlt werden. Unsere Zielgruppe sind die Wähler und unser Publikum. Und ich will da nicht drum herum reden: Je schwächer die Parteibindung in Deutschland wird, desto mehr Menschen wählen taktisch. Und das heißt nichts anderes, als dass sie sich an Umfragen orientieren und diese in ihre Überlegungen mit einbeziehen.

Deutschland hat rund 62 Millionen Wahlberechtigte. Warum kommen Sie eigentlich immer mit tausend Bürgern aus oder ein paar hundert mehr? Ist eine Umfrage stimmig mit dieser nicht sehr hohen Zahl von Befragten?

Natürlich gilt bei jeder Umfrage: Je mehr Menschen man befragt, desto genauer sind statistisch gesehen die Ergebnisse. Allerdings gilt aus mathematischen Gründen, dass jenseits von 1.000 oder 1.500 Befragten ein paar hundert mehr den Kohl auch nicht fett machen. Im Übrigen darf man nicht vergessen: Der statistische Messfehler ist das eine, die Unentschlossenheit vieler Befragter das andere. Deshalb ist die Sonntagsfrage eben nur ein Trend und nicht mehr.

Bei den vergangenen Wahlen lagen Sie manchmal reichlich daneben. Nehmen wir die Niedersachsen-Wahl: Die CDU hatte vier Prozent zu viel, die FDP vier Prozent zu wenig. Woran lag es?

Umfragen sind eben wie gesagt keine Vorhersagen, auch wenn das manchmal so verstanden wird. Zehn Tage vor der Wahl hatten mehrere Institute unabhängig voneinander die FDP bei fünf Prozent gemessen, am Ende hat sie fast das Doppelte erreicht. Ich glaube, dass die Umfragen die Stimmung zum Zeitpunkt ihrer Erhebung richtig gemessen haben, aber dann haben selbst CDU-Politiker unmissverständlich dazu aufgerufen, FDP zu wählen, damit sie auf jeden Fall in den Landtag kommt.
Diese Aufrufe haben Wirkung gezeigt, stärker, als es der CDU im Nachhinein lieb war. Übrigens war das in Niedersachsen ein Paradebeispiel dafür, wie die Wähler Umfragen in ihr Kalkül einbeziehen. Das ist übrigens für uns durchaus ein Dilemma.

Wir wissen, dass die Wähler immer öfter wechseln, dass die Stammwähler, die stets ein- und dieselbe Partei wählen, immer weniger werden. Wir wissen auch, dass immer mehr Menschen spontan nicht zur Wahl gehen. Ist dann eine Umfrage nicht eher ein Blick in die Glaskugel als eine wissenschaftlich exakte Forschung?

Nein, Umfragen sind eine ziemlich genaue Messung – aber eben nur zum Zeitpunkt, zu dem sie durchgeführt werden. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Sonntagsfrage eine von 12 oder 14 ist, die wir stellen. Wir fragen auch danach, wie das Betreuungsgeld ankommt, ob Thomas de Maizière zurücktreten soll oder wie Kanzlerkandidat Steinbrück eingeschätzt wird. Nur in der Zusammenschau ergibt sich daraus ein Bild, und die Sonntagsfrage ist ein Mosaikstein. Ich wünsche mir auf jeden Fall Zuschauer, die das ganze Bild wahrnehmen.

Beim vergangenen US-Wahlkampf kam ein Journalist, der Twitter-Meldungen auswertete, zu genaueren Vorhersagen als die Wahlforscher. Sind die Menschen in den sozialen Netzwerken ehrlicher als bei Ihnen am Telefon?

Das ist ein guter Vergleich, der die wesentlichen Unterschiede deutlich macht. In den USA ging es um Romney oder Obama. Das ist verglichen mit dem deutschen Zweistimmen-Wahlrecht eine ziemlich einfache Entscheidung. Die Unsicherheiten bei uns entstehen ja vor allem dadurch, dass viele Menschen einfach nicht mehr wissen, was sie mit ihrer Stimme machen sollen oder ob sie sie überhaupt nutzen. Bei der Frage Merkel gegen Steinbrück tun sich die Menschen übrigens auch bei uns leichter. Aber weder die Wahlforschung noch Twitter kann etwas widerspiegeln, was Menschen für sich selbst noch nicht entschieden haben.

Gerade in den Wochen vor der Wahl gewinnt man den Eindruck, als ob jeden Tag eine Umfrage veröffentlicht wird. Wer gibt die eigentlich alle in Auftrag?

Ja, es gibt eine wahre Umfrageflut. Ein Teil kommt von Instituten, die nach wissenschaftlichen Standards wöchentlich oder monatlich im Feld sind, andere tauchen nur in Vorwahlzeiten auf oder erheben ihre Daten sogar über das Internet. In dieser Phase werden die meisten Umfragen von Medien in Auftrag gegeben. Insgesamt aber gibt es viele unveröffentlichte Umfragen, die Staatskanzleien oder Parteizentralen bezahlen. Und darin liegt für mich der eigentliche Grund für unsere Arbeit: ARD und ZDF sorgen mit ihrer Wahlforschung für Transparenz. Alles, was wir machen, ist öffentlich. Bei uns erfahren die Wähler auch das, was ein Wahlkampfteam lieber unter der Decke hält.

Wie erkennt man, ob eine Umfrage eine seriöse ist?

Im Grunde ist das wie beim Autokauf. Jeder kennt Marken, die seit Jahren auf der Strasse herumfahren oder weiß von Freunden, wo es besonders viele Pannen gibt. Ich kenne nicht alle Institute, aber ich kann Ihnen versichern, dass die Arbeit von Infratest dimap und der Forschungsgruppe Wahlen für ARD und ZDF seriös und in keiner Weise interessengeleitet ist.

Was muss eine Partei für eine Umfrage bezahlen?

Das hängt von der Länge des Fragebogens ab. Eine kurze aktuelle Erhebung kann man sicher für 5.000 Euro bekommen, eine intensivere Studie mit genaueren Fragen kostet aber schnell das Doppelte und Dreifache.

Worauf müssen ein Journalist und ein Bürger achten, wenn sie eine Umfrage lesen?

Ich hätte zwei Empfehlungen. Zum einen: Achten Sie auf das Datum der Befragung. Nicht selten sind Zahlen unterwegs, die aus der letzten Woche stammen und über die aktuelle Situation nicht mehr viel sagen. Und die andere: Gucken Sie bitte nicht nur auf die Sonntagsfrage.


Auch unsere Zeitung – wie andere auch oder Magazine wie der „Spiegel“ – fragen ihre Leser: Wie geht Ihrer Meinung nach die Wahl aus? Wie genau sind diese Umfragen im Internet, an denen Zigtausende von Bürgern teilnehmen?

Ein schwieriges Feld. Um es ganz ehrlich zu sagen: Sie sind in keiner Weise repräsentativ. Denn es nehmen nur Internetnutzer teil, und von denen nur solche, die auch eine bestimmte Seite ansteuern und zudem aus irgendeinem Grund die Mühe auf sich nehmen zu klicken. Ich finde das durchaus interessant, aber man darf es bitte nicht mit repräsentativen Umfragen verwechseln. Übrigens auch dann nicht, wenn Zigtausende mitmachen.

In Frankreich dürfen Umfragen in der Woche vor der Wahl nicht mehr veröffentlicht werden. Würden Sie das auch für Deutschland als sinnvoll erachten?

Die ARD hat sich genau diese Abstinenz selbst auferlegt. Seit wir Wahlforschung machen, gibt es in der letzten Woche vor der Wahl einfach keine Umfragen mehr. Denn das ist die Phase, in der sich die Unentschlossenen wirklich entscheiden. Leider stehen wir damit ziemlich allein. Verbote kann man übrigens ziemlich leicht umgehen, Einsicht wäre mir lieber.

Thüringer Allgemeine 3. August 2013

Wie AP recherchierte, ob der Unglücks-Zug zu schnell gefahren ist

Geschrieben am 5. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Recherche ist Kleinarbeit, bisweilen ein wenig Mathematik, begleitet von einer gehörigen Portion Logik – wie nach dem Zugunglück im spanischen Santiago de Compostela, bei dem 79 Menschen getötet wurden.

Der Grafik-Spezialist Panagiotis Mouzakisder von AP in London fand heraus, wie schnell der Zugführer gefahren ist mit folgender Methode:

1. Die Geschwindigkeit des Zuges ist zu berechnen, wenn er den Abstand zwischen den im Überwachungsvideo zu sehenden Leitungsmasten kennen würde.

2. Er spielte das Video Bild für Bild ab und schaute auf den Zeitstempel, um herauszufinden: Wie lange ist der Zug von einem Mast zum nächsten unterwegs?

3. Der am Unglücksort filmende Madrider Kameramann Alfonso Bartolome schätzte den Abstand zwischen den Masten.

4. Um diese Daten abzusichern, zählte Fisnik Abrashi, Redakteur am Europa-Desk der AP, die Zahl der Bahnschwellen zwischen zwei Masten auf dem Foto einer Lokalzeitung.

5. AP-Redakteur Bob Barr, ein Eisenbahn-Fan, recherchierte den üblichen Abstand zwischen zwei Bahnschwellen im europäischen Schienennetz.

Beide Methoden führten jeweils zu dem Ergebnis: Die Geschwindigkeit lag zwischen 143 und 192 km/h oder zwischen 154 und 180 km/h. Da die Geschwindigkeitsbeschränkung bei 80 km/h lag,konnte die AP lange vor der Bestätigung durch die Behörden melden: Der Zug fuhr doppelt so schnell wie erlaubt.

Fünf Tage später bestätigten die Daten aus der Black Box die Richtigkeit; laut vorläufigem Untersuchungsergebnis bremste der Fahrer in den Sekunden vor dem Unfall von 191 km/h auf 153 km/h.

Aus dem AP-Blog „Spain train crash: How a journalist’s quick thinking provided vital info“ von Erin Madigan White (31. Juli 2013); aus dem Amerikanischen übertragen von Felix Voigt.

Wie lange darf man ein Thema zum Aufmacher treiben?

Geschrieben am 3. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Die Frage kennen Redaktionen: Können wir das Thema am dritten Tag immer noch als Aufmacher bringen?

In Thüringen wechselt der Regierungssprecher als Vorstand zu einer Internet-Firma. Er kündigt nicht seinen Job in der Regierung, sondern bekommt von der Ministerpräsidenten den goldenen Handschlag – also viel Geld bis ins hohe Alter.

Ein Leser aus Sondershausen schreibt an die Thüringer Allgemeine (TA):

Was ist mit der TA los? Zum dritten Mal in dieser Woche wird auf der Titelseite der TA die Provinzposse mit Herrn Zimmermann wiedergekäut.

Gibt es nichts Wichtigeres und/oder Besseres zu berichten? Dieser Gaul ist doch schon sowas von tot geritten, töter geht nicht (extra für Sie als Liebhaber der deutschen Sprache).

Es ist ja schön, wenn die Redakteure Luther beherzigen und „den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie (was) sie reden“, aber ich bezweifle, ob die Leser dies zu würdigen wissen. Mal abgesehen davon, dass diese Berichterstattung meiner Meinung nach die Politikverdrossenheit massiv fördert.

(Ironie ein) Wenn meine Frau nicht gern den Hägar läse, hätte ich womöglich die TA schon abbestellt (Ironie aus). Mir ist zwar klar, dass die vielen Seiten der TA täglich irgendwie „gefüllt“ werden müssen und Redakteure auch nur Menschen sind, aber die ständigen Wiederholungen sind eine Beleidigung jedes denkenden Menschen und nerven.

In seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:

Provinzposse? Provinz: Ja – wir leben in Thüringen, wir leben gerne hier, wir schämen uns nicht. Posse? Nein – wir haben die Arroganz der Macht an einem Beispiel offenbart; wir haben der Regierung klar gemacht, wie das Volk, das sie vertritt, denkt; wir haben den Mächtigen gezeigt, dass in einer Demokratie Kontrolle wichtig ist – und wir, die Journalisten, sie ernsthaft ausüben.

Die Aufmacher zur Zimmermann-Affäre waren auch keine Wiederholungen. Das Drama hatte, wie in der griechischen Tragödie, drei Akte:

> Der Jammer am ersten Tag: Was ist passiert?

>Der Schrecken am zweiten Tag: Droht eine Katastrophe?

> Am dritten Tag die Lösung, die „Katharsis“: die Reinigung.

Oder glauben Sie, Herr Schwartz, dass eine Regierung schwach wird – wenn wir einmal berichten und dann „Wichtigeres“ auf die erste Seite heben? Ermuntern sie die Mächtigen nicht, durch Schweigen, Halbwahrheiten und Aussitzen die Probleme in ihrem Sinne zu lösen?

„Provinzposse“ – so sähen es die Mächtigen gerne. Wir, die Redakteure, sehen es anders. Durch unsere Kontrolle der Macht fördern wir keine Politikverdrossenheit, sondern zeigen, wie stark eine Demokratie ist – in der Kontrolle funktioniert.

Thüringer Allgemeine 3. August 2013

Margot Käßmann und die Sünden der Journalisten

Geschrieben am 27. Juli 2013 von Paul-Josef Raue.

Wäre es Ihnen so wichtig, dass Ihnen Ihre Sünden vorgehalten werden?

fragt die ehemalige EKD-Vorsitzende Margot Käßmann die Spiegel-Reporter Jan Fleischhauer und Rene Pfister, die ihre Frage anhängen: „Gehört das nicht zu Ihren Aufgaben?“

Käßmann:

Na gut, wenn ich an das achte Gebot denke – „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ -, fällt mir bei Journalisten einiges ein. Wir könnten zum Beispiel darüber sprechen, was es für sie bedeutet, dass Luthers Kleiner Katechismus dazu schreibt:

Ihr sollt Euren Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.

Spiegel 30/2013, Seite 45

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