Wie eitel dürfen Journalisten sein? Das Porträt-Foto im Blatt und die Kaffeekasse
Journalisten schreiben nur selten ihre eigene Geschichte. Manche, die prominent genug sind, schreiben ihre Geschichten auf, die sie ihr Leben nennen; das kann durchaus lesenswert sein wie zuletzt bei Wolf Schneider, dessen Memoiren sich aber nicht so gut verkaufen wie seine Sprachbibeln. Schade: Ob’s am Titel liegt „Hottentotten Stottertrottel“?
Schön sind Kolumnen, wenn Journalisten aus alten, fern erscheinenden Zeiten erzählen, zum Beispiel von der Abwehr in Redaktionen, den Kommentar oder ein anderes feines Stück mit dem Porträt des Autors zu versehen: „Selbstbeweihräucherung! Pure Eitelkeit! Eines guten Journalisten unwürdig! Dann kann man ja gleich ins Fernsehen gehen!“
Ich habe Redakteure erlebt, die lieber wochenlang keinen Kommentar mehr geschrieben haben, als mit Bild in die Zeitung zu kommen; zudem pochten sie auf ihr Recht am eigenen Bild und wandten sich an die Gewerkschaft. Für sie war der Untergang des Abendlands verbunden mit ihrem Foto. Sie haben alle aufgegeben, mittlerweile, seufzend und unter Berufung auf den Zeitgeist, dem sie sich nie unterwerfen wollten.
Das Argument mit dem Fernsehen ist nicht das schlechteste: Auch dort dauerte es lange, bis der Korrespondent aus Washington nicht mehr nur aus dem Off sprach, sondern einen roten Schal zum Markenzeichen machte und sein Gesicht in die Kamera hielt. Die Zuschauer protestierten nicht, sondern freuten sich: Sie wollten den sehen, der sprach – so wie es im normalen Leben auch üblich ist.
In der Zeitung ist es ähnlich: Was sagt schon der Name? Das Bild neben dem Leitartikel zeigt, ob die Kommentatorin jung ist oder erfahren, schön oder lebensklug – und ob die Haare die Meisterschaft eines Frisörs genießen dürfen. Das Foto ist eine Information, die hilfreich ist, zugegeben eine emotionale, aber ein bisschen, wirklich nur ein bisschen Leidenschaft tut gut auf dem grauen Papier.
Ich kann „auf Augenhöhe“ nicht mehr hören; der Begriff war praktisch, als nur wenige Redakteure den Kopf senkten; aber mittlerweile wird er für jeden Unsinn gebraucht. Nur hier passt er: Wer auf Augenhöhe gehen will, muss seine Augen zeigen.
Noch früher, also vor zwanzig Jahren oder mehr, wurde es sogar teuer, wenn man als Redakteur rein zufällig in die Zeitung kam. Nico Fried erinnert in seinem „Spreebogen“ daran:
Früher gab es Redaktionen, das mussten Reporter eine Strafe in die Kaffeekasse zahlen, wenn sie auf einem Foto in der eigenen Zeitung zu sehen waren. Heute gilt es manchen Medien als Ausweis besonderer Authentizität der Berichterstattung… Ich und der Gletscher; ich und Merkel; ich im Oval Office.
Nun ja, besonders authentisch ist er schon, geradezu stylish ist Nico Fried: Über seiner Kolumne steht nicht einfach ein Foto, sondern eine Zeichnung aus vielen Pixeln aufgebaut, ein Pixel-Porträt. Das bekommt nicht Nico Fried allein, das hat jeder Kolumnist in der SZ, nur nicht der Heribert Prantl, weil er Leitartikel schreibt. Leitartikel sind besonders authentisch hoch zwei und bekommen deshalb kein Bild in der Süddeutschen; zudem ist Heribert Prantl so oft im Fernsehen, dass alle sein Gesicht kennen (und die in der SZ an ihn erinnert werden, die ihn so selten in der Redaktion sehen).
Strenge Sitten gab und gibt es nicht in der SZ, wie Nico Fried erzählt:
In der SZ muss man keine Strafe zahlen, wenn man auf einem Foto landet. Mein ehemaliger Büroleiter, der heute mein Chefredakteur ist, erwartet aber auch nicht, dass man sich auf ein Bild drängt. Wie ich ihn kenne, würde er das unter anderem ganz unumwunden mit Argumenten aus dem Bereich der Ästhetik begründen. Bei mir jedenfalls.
Wenn das kein Hieb ist auf all die Eitlen, die in den Presseclub drängen, auf jedes Podium eilen bei jedem Kongress (und keine Branche veranstaltet so viele Kongresse wie die Medien, wobei es meistens um den Niedergang geht und alle ernste Gesichter machen, obwohl ihnen nichts einfällt). Da war die Kaffeekasse kein schlechter Brauch: Aber bitte nur Scheine.
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Quelle: SZ 29. August 2015, Seite 46, Kolumne Spreebogen
Vorbildlich: Die Middelhoff-Buddenbrooks-Reportage der SZ
Zwei Reporter haben Thomas Manns Bürger-Roman „Buddenbrooks“ gelesen und das Schicksal der Lübecker Familie mit der von Thomas Middelhoff verglichen: Entstanden ist ein großes Feature, eine Mischung aus Essay, Porträt und Analyse, eine prächtiges Lese-Stück über drei große Zeitungsseiten. Die Süddeutsche mit ihrer neuen Wochenend-Ausgabe zeigt, was Zeitung erschaffen kann, was eine gute Redaktion leisten kann, wenn sie den Mut hat, über eine Zeitungsseite hinauszudenken. Mit der Wochenend-Ausgabe ist das Gefäß dafür geschaffen, jetzt kommen die edlen Stoffe hinein.
„Warum ist Middelhoff so geworden? Was trieb ihn an? Warum handelte er so widersprüchlich? Warum erscheint sein glanzvolles Leben im Nachhinein als eine einzige Unstimmigkeit?“, fragen Uwe Ritter und Ulrich Schäfer in der SZ-Wochenendausgabe. „Mein Haus, meine Yacht, meine Familien“ ist „eine Geschichte wie ein Roman, ein Verfall wie bei den Buddenbrooks“. Nur wofür die Buddenbrooks vier Generationen brauchten, das schafft Middelhoff in nicht einmal einem Leben.
Lesen!
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SZ 8. August 2015
Wie schreiben über das Leben in der DDR? Was ist Wahrheit? Was ist subjektiv?
Einem Leser missfällt, wenn Menschen, die an der DDR-Grenze gelebt und gelitten haben, zu Wort kommen – und „in die Rolle eines Opfers der DDR gerückt werden“. Seit einigen Wochen ist in der Thüringer Allgemeine die Serie „Die Grenze“ zu lesen, eine politische Wanderung entlang der kompletten innerdeutschen Grenze.
„Leider, ich weiß nicht aus welchen Gründen auch immer, kommen Ihre Darstellungen nicht ohne das Bedienen von Ressentiments aus“, schreibt der Leser. Er habe andere Erfahrungen gemacht, so hatte er beispielsweise „jahrelang permanent unmittelbar (in wenigen Meter Abstand) an der Grenze zu tun und durfte dies auch, ohne auch nur hundertprozentig zu sein, denn ich war weder Genosse und auch kein IM“.
Er schließt seine freundliche Mail: „Es kommt mir manchmal so vor, dass ähnlich wie zu DDR-Zeiten, wo kaum ein Fachvortrag ohne die Erwähnung des x-ten Parteitages der SED begann, auch heute in vielen Artikeln in mindestens einer Passage auf die permanente Unterdrückung und Unfreiheit hingewiesen werden muss, sei es auch mit Un- oder Halbwahrheiten. Vielleicht lassen sich auch solche nicht unbedingt relevanten Aussagen auf ihren objektiven Wahrheitsgehalt vor einer Veröffentlichung überprüfen.“
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:
Es ist kaum möglich, an der Grenze jene links liegenzulassen, die von Schikanen, Vertreibungen und Unfreiheit, von Tod, Verstümmelung und unbewältigten Träumen berichten. Es dürfte auch schwer möglich sein, diese Geschichten als unwichtig zu erachten, wenn wir die Wahrheit der Geschichte erkunden.
Was ist der „objektive Wahrheitsgehalt“ der Aussage eines Bruders, der immer noch unter der Enthauptung seines Bruders leidet? Was ist der „objektive Wahrheitsgehalt“ der Aussage eines Menschen, den heute noch die Blicke der Arbeiter verfolgen, wenn er als junger Häftling in einen Betrieb einmarschierte?
Wie sollen wir ein Trauma, eine tiefe Verletzung überprüfen? Und – wer hat das Recht, diesen Menschen ihre Erfahrungen zu nehmen? Sicher sind das subjektive Erfahrungen, aber auch diese Erfahrungen gehören zur Geschichte.
Wo es möglich ist, haben wir in Dokumenten geforscht, haben Briefe und Urkunden gesichtet – und zitieren eifrig daraus. Wenn die Wahrheit im grauen Nebel verschwindet – wie beim Tod des Grenzers Rudi Arnstadt oder den Schüssen auf Wahlhausen -, dann schreiben wir auch das.
Aber den Opfern ihr Opfer zu bestreiten, käme einer zweiten Erniedrigung gleich. Es zu verschweigen, wäre zumindest unwahrhaftig.
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Thüringer Allgemeine, 8. August 2015, Leser fragen
Kommentare von Lesern online:
- raue verkauft dir auch Schmirgelpapier als toilettenpapier
- Und worin liegt der objektive Wahrheitsgehalt in den Aussagen eines Wessis, der die DDR nie selbst erlebt hat und sie nur vom Hörensagen kennt, Herr Raue?
Was dürfen Journalisten? Presserat entschied über Beschwerden zu Germanwings-Absturz (Leser fragen)
430 Leser von deutschen Zeitungen haben sich nach dem Absturz der Germanwings-Maschine an den Presserat gewandt und sich über die Berichterstattung beschwert. Eine Leserin der Thüringer Allgemeine hatte sich direkt an die Redaktion gewandt und kritisierte die „respektlose und pietätlose und vor allen Dingen lauthalse Berichterstattung über den Absturz der Unglücksmaschine“: Er sei „zutiefst menschenunwürdig und nur einem verachtungswürdigen Voyeurismus geschuldet“.
Ein anderer Leser wollte gleich den Staat einschalten, damit er Medien verbiete, „persönliche Daten in solchen Fällen zu veröffentlichen. Normalerweise müssten hier empfindliche Strafen ausgesprochen werden. Bis zum Berufsverbot. Allerdings, wie vereinbart sich das dann mit dem Grundgesetz?“
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortete der Chefredakteur:
Sehr geehrter Herr W.,
Sie fragen zu Recht: Wie vereinbaren sich Berufsverbote und harte Strafen für Journalisten mit dem Grundgesetz?
Gar nicht, so lautet die klare Antwort. Die Presse kontrolliert den Staat und nicht der Staat die Presse – so steht es in Artikel 5 des Grundgesetzes. „Eine Zensur findet nicht statt“ bedeutet: Keiner darf Journalisten zwingen, über eine Sache oder eine Person zu schreiben oder dies zu unterlassen. Die Presse ist frei.
Allerdings müssen auch Journalisten die Persönlichkeits-Rechte beachten und dürfen, falls sie dagegen verstoßen, bestraft werden; sie dürfen nicht beleidigen oder die Unwahrheit schreiben.
So läuft zurzeit ein umstrittenes Gerichtsverfahren in Mecklenburg: Ein Reporter muss 1000 Euro bezahlen, weil er einen Jäger „Rabauken“ genannt hat; der Jäger hatte ein totes Reh an seiner Anhänger-Kupplung befestigt und über die Landstraße gezogen. Der Nordkurier akzeptiert diese Strafe nicht und zieht in die nächste Instanz. Der Chefredakteur in Neubrandenburg spricht von einer Gefährdung der Pressefreiheit durch Staatsanwalt und Richterin:
„Dieses Land hat zwei Diktaturen hinter sich und leider auch eine entsprechend fürchterliche Justizgeschichte. Die beiden über die freie Presse herfallenden Juristen haben daraus nichts gelernt. Vielleicht wäre es ihnen genehm, wenn der Nordkurier seine Artikel künftig den Behörden vorab zur Begutachtung vorlegt – war doch früher auch schon so.“
Der Staatsanwalt hat Anzeige gegen den Chefredakteur gestellt.
Sehr geehrte Frau Z.,
der Presserat entscheidet, ob Journalisten gegen den Pressekodex, also die Moral der Medien, verstoßen haben. Er hat so über die Beschwerden gegen die Berichterstattung zum Flugzeug-Absturz entschieden:
1. Der Name des Piloten durfte genannt werden.
Nach der Pressekonferenz des französischen Staatsanwalts durften Journalisten davon ausgehen, dass Andreas Lubitz das Flugzeug absichtlich zum Absturz gebracht hatte. Der Sprachrekorder war ausgewertet und Ermittlungen der Luftfahrtbehörde lagen öffentlich vor. Von Vorverurteilung konnte keine Rede mehr sein.
Zwar war durch die Namensnennung auch die Identifizierung der Eltern möglich, aber das öffentliche Interesse wog stärker als das Verschweigen des Nachnamens bei dieser außergewöhnlich schweren Tat, die in ihrer Art und Dimension einzigartig ist.
Eine besondere Zurückhaltung, die bei Selbstmorden geboten wäre, tritt mit dem Blick auf 149 Todesopfer zurück.
2. Bilder von den Opfern durften nicht veröffentlicht werden.
Opfer und ihre Angehörigen dürfen im Bild nur gezeigt werden, wenn es sich um berühmte Persönlichkeiten handelt oder eine ausdrückliche Zustimmung vorliegt. Also durften Fotos der Angehörigen, aufgenommen an den Flughäfen in Düsseldorf und Barcelona, nicht gedruckt werden.
Die TA hatte ein solches Foto gedruckt; wir haben dafür um Entschuldigung gebeten.
3. Die Partnerin des Co-Piloten durfte nicht erkennbar sein.
Eine Zeitung hatte zwar nicht den vollständigen Namen genannt, jedoch waren in dem Text so viele persönliche Details enthalten, dass die Partnerin des Co-Piloten identifizierbar war. Das verstößt gegen den Pressekodex und ist zu rügen, entschied der Presserat.
Auch die Berufe der Eltern des Co-Piloten zu erwähnen und ihr Wohnhaus nebst Umgebung zu zeigen, verletzt den Persönlichkeitsschutz.
Thüringer Allgemeine, 13. Juni 2015, Kolumne „Leser fragen“
Ethik nach dem Absturz (4): Es gibt respektable Gründe, den Namen des Kopiloten zu nennen
„Absurd“ nennt FAZ-Onlinechef Mathias Müller von Blumencron die Diskussion über die Namens-Nennung des Kopiloten des German-Wings-Flugs 4U9525. „Die ganze Diskussion darüber ist merkwürdig und wird außer in Deutschland auch nirgendwo geführt“, sagt er in einem W&V-Interview.
Absurd war die Diskussion, weil viele Medien wortreich begründeten, warum der Name genannt oder eben nicht genannt wurde. War dies quasi das Gegenstück zum Eskalationsjournalismus? Statt lautstarker Versuche, mit mehr oder weniger wichtigen Informationen große Resonanz zu erzeugen, die anbiedernde, fast peinliche Erklärung, warum man etwas so oder so sieht?
Auf die Frage von Volker Schütz: „Gehört zu dem von Ihnen beschworenen Qualitätsjournalismus auch die volle Namensnennung?“ antwortet Blumencron:
Selbstverständlich. Der Mann hat 149 Menschen in den Tod gerissen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer dieser Mann war. Denn nur seine Biografie kann uns helfen, diesen Irrsinn zu verstehen. Und dabei helfen, dass wir die Mechanismen verbessern, um eine Wiederholung zu verhindern.
Blumencron geht auf den Vorwurf ein, Medien bauschen auf, suhlen sich in der Sensation, eskalieren:
Bei der Berichterstattung über dieses Ereignis gab es nichts zum Eskalieren. Diese Tat selbst ist eine der größten vorstellbaren Eskalationen. Selbst wenn ich mich dem Ereignis ganz nüchtern nähere, und nichts anderes ist angemessen, entfalten die Berichte eine ungeheuerliche Wucht. Und das ist für viele Leser verstörend: Die Wirklichkeit ist kaum auszuhalten.
Aber wie sollen wir umgehen mit den Lesern, die sich einmischen in unsere Debatten, die Medien beobachten wie nie zuvor, die kritisieren und verstören:
Das bedeutet: Journalisten müssen manchmal erklären, warum sie wie berichten. Das ist gut so, das ist nicht anbiedernd. Man darf allerdings keinesfalls das Gefühl erzeugen, permanent über sich selbst zu philosophieren. Unser Geschäft ist die Aufklärung über den Gang der Welt, nicht über den Gang einer Redaktion.
(W&V 16.4.)
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Das Dart-Center: Wachsendes Bewusstsein für Ethik
Es lohnt für uns Journalisten ein Blick ins „Dart-Center“, in dem sich Psychologen und Journalisten um traumatische Erfahrungen kümmern: Wie gehen Journalisten mit traumatisierten Menschen nach einer Katastrophe um? Wie erkennen sie Traumata? Wie gehen Journalisten mit ihren eigenen Traumata um?
Auf ihrer Homepage stellen die Dart-Center-Experten das neue Phänomen fest:
Die Berichterstattung der Tage direkt nach dem Unglück zeichnet sich auch dadurch aus, dass Medienkritiker fast zeitgleich mit der akuten Berichterstattung schon zu Achtsamkeit und zum differenzierten Umgang mit den Informationen und Angehörigen mahnten. In den sozialen Medien wurde der Absturz selbst fast genauso leidenschaftlich besprochen, wie die Berichterstattung über den selben.
Das „Dart Center für Journalismus und Trauma“ kommt zu dem Ergebnis: „Der Germanwings-Absturz war nicht unbedingt “ein Absturz des Journalismus” war, sondern auch ein Zeichen für ein wachsendes Bewusstsein für Ethik in der Berichterstattung.“
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Hatte der Co-Pilot gute Absichten?
Ein ungewöhnliches Argument finde ich in einem Kommentare auf persoenlich.com: War der Copilot „vielleicht war er sogar in der Meinung ,gut‘ zu handeln?“ Deshalb könne man den Co-Piloten ein Opfer nennen.
Ein Kommentator entgegnete: „‚Gut‘ zu handeln“ – wie krank ist das? Damit kann man alles entschuldigen. Hitler war dieser Meinung, Stalin, Breivik. Alle meinten es nur gut.“
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Beim 11. September nannten wir die Namen der (muslimischen) Attentäter
Warum haben wir bei dem Absturz ein Problem, den Namen zu nennen? fragt Wolfgang Kretschmer auf Facebook:
Erinnert sich noch jemand an die Terroranschläge auf das World Trade Center? Damals hatte niemand in keiner Redaktion ein Problem damit, die bald darauf bekannten Klarnamen der Attentäter abzudrucken, deren Hauptakteure Studierende in Deutschland waren.
Warum handeln wir bei vergleichbaren Katastrophen unterschiedlich?
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BILD und der Absturz
Zum Abschluß sei Bild-Chefredakteur Kai Dieckmann zitiert, der mit Julian Reichelt die Berichterstattung von Bild rechtfertigt, sie „für völlig selbstverständlich und absolut zwingend hält“. Auch wenn wir anderer Meinung sind als Dieckmann, finde ich es respektabel, dass sich Dieckmann äußert und seine Gründe ausführlich darlegt. Man muss schon sehr überzeugt von der eigenen Rechtschaffenheit sein, um sie nicht wahrnehmen und diskutieren zu wollen:
Argument 1: Es war ein Ritualmord von historischem Ausmaß
Nach Erkenntnissen der ermittelnden Staatsanwaltschaft hat Andreas Lubitz „die Zerstörung des Flugzeugs bewusst eingeleitet“ und somit 149 mit in den Tod gerissen – ermordet. Er hat selbst gewählt, ein Verbrechen von historischen Ausmaßen zu begehen. Er ist ein Amokläufer, der mehr Menschen auf dem Gewissen hat als jeder Einzeltäter der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Seine Waffe war keine Pistole, kein Gewehr, sondern – wie bei den Terroristen des 11. September – ein Passagierflugzeug. Er hat seinen Opfern nicht mal die „Gnade“ eines schnellen Todes gewährt, sondern sie qualvollen acht Minuten Sinkflug in den Tod ausgesetzt. Wenn man versucht zu erahnen, was diese acht Minuten für die Menschen an Bord bedeutet haben müssen, kann man das durchaus als grausam, als Folter, als Ritualmord bezeichnen.
Argument 2: Der größte Verbrecher des Jahrhunderts
Wir haben es mit einem Mann aus der Mitte unserer Gesellschaft zu tun, der als Figur des Grauens, als bisher größter deutscher Verbrecher des (jungen) 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird. Die Aufgabe von Journalismus ist es, Geschichte zu erkennen, zu dokumentieren, zu erzählen, während sie entsteht. Das ist zwar deutlich schwieriger als der Rückblick, wenn alle historischen Fakten bekannt sind, aber es ist der Kern unseres Berufs.
Argument 3: Menschen, auch Amokläufer , haben Namen und machen Geschichte
Wir halten es für legitim, die Hauptbeteiligten von historischen Ereignissen beim Namen zu nennen. Der Amokläufer von Erfurt hieß Robert Steinhäuser, der Amokläufer von Winnenden hieß Tim Kretschmer. Die Geiselgangster von Gladbeck hießen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski. Geschichte wird von Menschen gemacht. Menschen haben Namen. Namen sind Geschichte.
Argument 4: Personen der Zeitgeschichte haben ein Gesicht
Wir glauben auch, dass es richtig ist, den Täter Andreas Lubitz zu zeigen. Als Person der Zeitgeschichte muss er – auch im Tod – hinnehmen, dass er mit seiner vollen Identität, seinem Namen und auch seinem Gesicht für seine Tat steht.
Wir machen Andreas Baader, Mohammed Atta und Anders Behring Breivik nicht unkenntlich. Und genau so wenig tun wir es mit Andreas Lubitz, dessen Name der französische Staatsanwalt in einer dramatischen und historischen Pressekonferenz vor der Weltpresse buchstabierte.
Argument 5: Psychische Krankheit macht einen nicht weniger historisch
Natürlich war Andreas Lubitz psychisch krank. Wer nicht psychisch krank ist, entschließt sich nicht zu einer solchen Tat, aber das macht Andreas Lubitz nicht weniger historisch.
Argument 6: Fast alle großen Medien nennen den Namen
Der überwältigende Anteil traditioneller Medien auf der ganzen Welt hat dieselbe Entscheidung getroffen wie wir. Darunter ausnahmslos alle Medien, die den journalistisch-ethischen Standard unseres Berufes seit Jahrzehnten prägen: Der Guardian, die BBC, die New York Times, die Washington Post, CNN, die Nachrichtenagentur Reuters, das Wall Street Journal, der Stern in Deutschland. Wir sagen damit nicht, dass wir so handeln, weil andere so handeln. Wir kommen nach langen inner-redaktionellen Debatten nur zu derselben Entscheidung wie unsere Kollegen weltweit.
Argument 7: Social Media nennt millionenfach den Namen
Sowieso ist es abwegig zu glauben, dass die traditionellen Medien in Zeiten von Social Media Informationen kontrollieren, zurückhalten könnten. Der vollständige Name Andreas Lubitz wurde seit gestern über 120.000 Mal getwittert und ist ein weltweiter Trend. Auf Google gab es gestern allein in Deutschland eine Million Suchanfragen zu „Andreas Lubitz“. Die Vorstellung, wir könnten auch nur ansatzweise Einfluss darauf nehmen, ob der Täter idenifizierbar ist oder nicht, ist schlicht absurd.
Resumee: Es war richtig, den Namen zu nennen
Nach unserem journalistischen Selbstverständnis kann es nur eine Antwort auf die Frage geben, ob Menschen, die historisch Großes leisten und historisch Schreckliches anrichten, mit ihrer vollen Identität dafür stehen und einstehen sollten: Ja.
Fakten gegen Lügenpresse (4): Wie ein Chefredakteur Haltung zeigt
Die Ruhr-Nachrichten bringt auf einer Zeitungsseite die Fakten zur Flüchtlings-Debatte in Dortmund, zusammengetragen von Tobias Großekemper (Freitag, 10. April). Eine Leserin schickte die Seite an die Chefredaktion zurück mit zwei „Ergänzungen“:
1. „Lügenpresse“,
2. Zeitungsausschnitt einer Boulevard-Zeitung mit der Überschrift „Illegale Einreisen auf dem Höchststand“.
Wolfram Kiwit, Chefredakteur der Ruhr-Nachrichten, berichtet darüber in seinem Blog und fasst die Grundhaltung seiner Zeitung knapp und eindeutig zusammen:
Versachlichen, gründlich recherchieren, Fakten sprechen lassen und nicht auf den Zug eines meist parteilichen Empörungs-Journalismus springen.
Kiwit in seinem Blog: „Wir machen einfach weiter.“
Absturz von 4U9525 und der Leser Fragen: Was ist Boulevard?
Eine Leserin der Thüringer Allgemeine (TA) schreibt im Internet zur Berichterstattung über den Absturz der German-Wings-Maschine in den französischen Alpen:
Die TA bewegt sich immer mehr zum Bild-Zeitungs-Niveau.
Ein weiterer Leser findet – ebenfalls auf unseren Internet-Seiten – die Berichterstattung zu dem Fall unmöglich:
Der volle Name wird mit Bild veröffentlicht. Am besten gleich noch die volle Anschrift.
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Was ist Boulevard-Niveau? Der Bestseller-Autor Martin Suter lässt in seinem aktuellen Roman „Montecristo“ einen Redakteur den „Boulevard“ charakterisieren:
„Straßenjournalismus sollte es heißen. Gossenjournalismus! Er zielt auf die niedrigen Instinkte der Leser.“
In der Tat neigt der Boulevard dazu, mit der Wahrheit ebenso zu spielen wie mit der Menschenwürde; er schätzt die Sensation, auch wenn er eine Sache aufbauschen muss, und er mag keine langen Erklärungen, sondern schnelle Urteile. Vor allem zielt er auf die Gefühle der Menschen.
Das unterscheidet den Boulevard von seriösen Zeitungen. Doch der offenbar mutwillig provozierte Absturz eines Flugzeugs und der Tod von 150 Menschen wühlt jeden auf – selbst wenn eine Zeitung noch so distanziert berichtet.
Auch unsere Zeitung konnte über den Absturz nicht berichten wie über eine normale Landtags-Sitzung. Aber wir haben nicht mit der Würde der Opfer und ihrer Angehörigen gespielt, wir haben keine Angehörigen belästigt oder belagert, auch nichts aufgebauscht – es sei denn man wolle uns vorwerfen, überhaupt so ausführlich über den Absturz berichtet zu haben.
In der TA haben wir weder den vollen Namen noch das Porträt des Co-Piloten veröffentlicht.
Viele seriöse Zeitungen wie die „Süddeutsche“ oder die FAZ, aber auch unser Online-Auftritt, haben den Namen ausgeschrieben, nachdem ihn der französische Staatsanwalt in einer Pressekonferenz genannt hatte.
Unter Journalisten ist zur Namens-Frage eine heftige Debatte ausgebrochen:
Muss man die Angehörigen des Co-Piloten schützen? Dann darf man weder den Namen noch sein Gesicht zeigen.
Oder ist der Co-Pilot als ein Massenmörder zu einer Person der Zeitgeschichte geworden? Dann könnte man Namen wie Gesicht zeigen.Wie würden Sie entscheiden?
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THÜRINGER ALLGEMEINE, 4. April 2015, Leser fragen
Wie soll eine Zeitung über die Beschwerde beim Presserat berichten? (Leser fragen)
Ein Leser der Thüringer Allgemeine hatte sich beim Presserat über den Bericht in einer Lokalausgabe beschwert; darin hatte ein freier Mitarbeiter in einer Serie über ein griechisches Restaurant und seinen Inhaber berichtet und den Inhaber mit Namen und Foto vorgestellt.
Ein Leser beschwerte sich beim Presserat über die fehlerhafte Recherche: Der Name des abgebildeten Mannes sei falsch; zudem sei der Wirt kein Grieche, sondern komme aus dem Kaukasus.
Der TA-Chefredakteur Paul-Josef Raue berichtete in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Warum soll ein Journalist einem Menschen, der als Wirt öffentlich bekannt ist, misstrauen, wenn er seinen Namen nennt? In einer harmlosen Recherche können und dürfen wir nicht die Vorlage eines Ausweises verlangen.
Als der Artikel erschienen war, rief eine Frau anonym an und wies auf den angeblich falschen Namen hin. Wir recherchierten und konnten die Behauptung nicht bestätigt finden. Uns drängte sich der Verdacht auf, ein missliebiger Konkurrent solle denunziert werden.
So sah es auch der Presserat, der die Beschwerde für unbegründet erklärte:
„Der Autor des Beitrages konnte dem Wirt des Restaurants Glauben schenken. Es bestand keinerlei Anlass, daran zu zweifeln bzw. die Identität zu hinterfragen. Eine Verletzung der Sorgfaltspflicht seitens der Redaktion kann daher nicht festgestellt werden.
Woher der Wirt komme, ist zudem für die Berichterstattung nicht so entscheidend, dass die Redaktion allein auf einen anonymen Hinweis hin im Nachhinein eine aufwendige Recherche zur Herkunft des Wirts hätte anstellen müssen.
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Thüringer Allgemeine 21. März 2015
Ist Klatsch wichtiger als politische Information? (Leser fragen)
Nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl der Informationen, die Platzierung auf den Seiten und die Größe der Artikel?
So fragt ein Leser der Thüringer Allgemeine (TA) Als Beispiel nennt der Leser aus Weimar den einspaltigen Artikel „AfD klagt gegen Abschiebestopp“ am 5. März; über das Thema hatte die nationale Zeitung „Die Welt“ ausführlicher berichtet. Dagegen berichtete die TA groß über den Fehltritt von Altkanzler Helmut Schmidt: „Liebe, Macht und Seitensprünge“. Der Leser stellt fest: „Auf einer Seite eine auf das Nötigste reduzierte Information und auf der anderen Seite eine übergewichtige Boulevardglosse. Ändert sich das Genre von Information auf Klatsch?“
Und der Leser fragt abschließend: „Warum erläutern sie nicht genau so wortreich den Hintergrund der Verfassungsklage? Und warum lesen wir darüber keinen Kommentar?“
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Wir wählen die Informationen aus, die wichtig sind für die Wähler in Thüringen, die das Leben und den Alltag unserer Leser in Thüringen beeinflussen und die zum Gespräch zu Hause oder bei der Arbeit taugen. Wir erklären das, was schwer zu verstehen ist, und wir kommentieren es, um unsere Leser zu Widerspruch oder Zustimmung zu reizen.
Über das Gutachten von Professor Schachtschneider, das die AfD zum Abschiebestopp bestellt hatte, berichteten wir ausführlich schon am 24. Februar, also zwei Wochen vor der „Welt“. Dass die AfD mit dem Gutachten vors Verfassungsgericht ziehen will, war deshalb nur eine Meldung; den Hintergrund hatten wir schon ausgeleuchtet.
Unser Reporter Martin Debes kommentierte ausführlich das Gutachten, die Klage und die Position der Regierung in seinem „Zwischenruf: Auf der rhetorischen Wippe“.
Die Enthüllungen der Liebesaffäre von Helmut Schmidt ist nur vordergründig Klatsch. Es geht vor allem um die Inszenierung und die Doppelmoral von Politikern: Schmidt zeigte der Öffentlichkeit das Bild einer guten, gar vorbildlichen Ehe. Wenn sich herausstellt, dass er seine Wähler getäuscht hatte, sprechen wir schon über eine wichtige Information.
Der Journalist Klaus Harpprecht schrieb in seinen Memoiren, die Ende vergangenen Jahres erschienen sind, von Schmidts Doppelmoral, der stets „schrecklich moralisierend“ dem Parteifreund Willy Brandt dessen offenkundige Liebschaften vorwarf. So etwas muss der Bürger erfahren, es wäre fahrlässig, wenn wir diese Nachricht unterdrückt hätten – gleich ob wir Helmut Schmidt mögen oder nicht.
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Thüringer Allgemeine, 14. März 2015, Leser fragen
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Die Kolumne „Zwischenruf“ von Martin Debes zum Thema
Auf der rhetorischen Wippe
Der AfD in Thüringen hätte nichts Besseres passieren können als diese Koalition. Neulich zum Beispiel, bei der von der neuen Fraktion beantragten Landtagsdebatte zum Winterabschiebestopp, ließ sich dieses fast schon symbiotische Verhältnis gut beobachten.
Mit Lust hüpfte Rot-Rot-Grün auf die rhetorische Wippe, die von der AfD aufgebaut worden war. Hoch und runter ging es, immerzu. Vor allem Linke und Grüne waren sich einig: Die Gegnerschaft der AfD zum Abschiebestopp sei mindestens rassistisch, wenn nicht gar nazistisch.
Allerdings fiel bei all der Empörung den Beteiligten nicht auf, dass, wenn man dieser Logik bis zu ihrem überaus schlichten Ende folgt, auch der Bundesinnenminister, die Mehrheit des Bundestages und der Länder irgendwie rassistisch sein müssen. Schließlich finden auch die den Abschiebestopp falsch oder haben ihn zumindest nicht eingeführt.
Gewiss, man muss sich der von der AfD propagierten Meinung nicht anschließen: Aber man sollte sie ernst nehmen. Nicht nur, weil sich dies in einem demokratischen Land gehört, sondern auch, weil es klug wäre.
Es ist doch so: Rot-Rot-Grün hat mit dem Winterabschiebestopp, den sie als ihren ersten Regierungsakt geradezu zelebrierten, bewusst Symbolpolitik veranstaltet.
In der Realität handelt es sich nurmehr um einen temporären Erlass, der an dem Dasein der meisten Flüchtlinge nichts grundhaft ändert. Das Justizministerium, das jetzt vor allem Migrationsministerium heißen will, kann keine genauen Zahlen mitteilen. Aber es sind bislang wohl nur etwas mehr als 100 Menschen, die aufgrund des Abschiebestopps in Thüringen bleiben durften.
Doch die AfD kümmern die Fakten genauso wenig wie die Koalition. Sie bekämpft Symbolpolitik mit Symbolpolitik. Erst das Rechtsgutachten, dann die Debatte im Landtag, nun die Klage beim Verfassungsgericht: Die Partei reitet, so wie die Koalition, ein Prinzip – nur eben das gegenteilige.
Dass der Abschiebestopp so gut wie nichts damit zu tun hat, dass immer mehr Asylbewerber im Land unterkommen müssen, ja, dass die Maßnahme demnächst ausläuft – das interessiert weder die eine noch die andere Seite. Jeder bewegt sich ausschließlich in seinem politischen Universum und bedient jeweils die eigene Klientel.
Insgeheim beginnen die Koalitionsfraktionen zu ahnen, dass ihre Reflexe die AfD nur aufwerten. Tatsächlich hat sich die Partei in dem halben Jahr ihrer parlamentarischer Existenz durchaus professionalisiert. Die Mischung aus Provokation, Populismus und normalen Politikansätzen könnte funktionieren, vor allem dann, wenn den anderen nicht mehr einfällt, als wahlweise munter drauf zu hauen, auszugrenzen oder gar mal eben eine Veranstaltung zu zerstören. In all dem Getöse fällt es nicht weiter auf, dass die AfD zum großen Teil gar nicht weiß, was sie will, außer vielleicht ausrangierte Positionen von Union und FDP einzunehmen – zumal sie unterhalb der Fraktionsebene wenige arbeitsfähige Strukturen besitzt.
Das einzige echte eigene Thema, die Europapolitik, wird bei Landeswahlen kaum mehr ziehen – zumal keiner vorhersehen kann, was aus der Gesamtpartei wird. Eine neoliberal-konservative Lucke-Partei oder ein rechtsäußeres Ideologieprojekt? Wer weiß.
Natürlich, es stimmt ja: Dort, wo die Argumente fehlen, arbeitet die AfD mit Vorurteilen, schürt Ängste und bedient sich bei Sprüchen, die so auch bei der extremen Rechten Verwendung finden. Die Rhetorik des Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke grenzt oft genug ans Völkische. Er selbst besitzt dabei die unangenehme Anmutung eines Missionars, auf den Deutschland gerade noch gewartet hat, derweil sein Fraktionsvize Stephan Brandner den parlamentarischen Dauerrüpel gibt.
Doch wie Rot-Rot-Grün darauf reagiert, ist falsch. Wer meint, dass es ausreiche, die AfD pauschal in die Nazi-Ecke zu stellen, handelt intellektuell unredlich und politisch dumm. Man sollte wenigstens registrieren, dass die AfD schlau genug ist, Leute auszuschließen, die offen rassistisch argumentieren und zu versuchen, zwischen Asylrecht und Zuwanderung zu differenzieren.
Richtig, hierbei handelt es sich, genauso wie beim Angebot Höckes, seine Abgeordnetenwohnung an Flüchtlinge zu geben, insbesondere um Taktik. Aber wenigstens scheint die AfD so etwas zu besitzen.
Vom Leben und Leiden in einer DDR-Redaktion: Eine Redakteurin erinnert sich (25 Jahre Thüringer Allgemeine)
Am 15. Januar 1990 erschien die erste unabhängige Tageszeitung in der DDR: Die Redaktion der Bezirkszeitung Das Volk in Erfurt warf die SED raus, ließ die Freiheit rein und gab der unabhängigen Zeitung einen neuen Titel – Thüringer Allgemeine. Zum Jubiläum lud die TA zu einem ganztägigen Symposium: Zu Beginn erzählten vier Redakteure über die Unfreiheit vor der Revolution, von den Revolutionstagen und den Wochen danach.
Angelika Reiser-Fischer ist heute Redakteurin der Lokalausgabe „Erfurt Land“; sie erzählte (leicht gekürzt):
Am Morgen des 13. Januar 1990 fand in der Kantine der Druckerei Fortschritt Erfurt jene denkwürdige Versammlung statt, bei der sich die Redaktion der Zeitung Das Volk für parteiunabhängig erklärte. Hitzige Diskussionen hatten in den Wochen zuvor in der Redaktion stattgefunden.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich an jenem Morgen in das Zeitungshaus unterwegs war. Im Trabant, ohne Winterreifen, über von Reif glitzernden Straßen.
Ich war pünktlich. Und ich hatte keine Ahnung, wie die Sache ausgehen würde. Ich wusste aber: So ging es nicht weiter. Man überlegt in solchen Umbrüchen wohl immer: Wann hat es angefangen? Was waren die Zeichen? Was haben sie mit mir gemacht?Ja, ich war in der SED. Ohne Zwang bin ich als Volontärin eingetreten. Ich wollte Journalistin werden – weil ich neugierig war, weil mich das Bunte und Spannende interessierte; weil ich meinte, als Journalistin der Wahrheit zumindest nahe zu kommen; weil man da die Dinge selbst erleben, hinterfragen, begutachten, auch beurteilen könnte. Und das wollte ich bei einer großen Zeitung lernen. Die allerdings waren Mitte der 1970er Jahre alle in der Hand der SED. Meine Vorstellungen waren ziemlich naiv. Zunächst beim Journalistik-Studium in Leipzig: Schockiert erlebte ich ein Partei-Verfahren gegen einen Wissenschaftler. Er hatte aus einem Urlaub in Ungarn ein Buch mit in die DDR gebracht: „Die Revolution entlässt ihre Kinder“, von Wolfgang Leonhard. Ich konnte nicht fassen, was sich vor meinen Augen abspielte: demütigende Verhöre vor den Studenten im 2. Studienjahr, das Durchdrücken einer Abstimmung, Drohungen an uns junge Leute und anschließender Rauswurf des Wissenschaftlers.
Aber ich wollte Journalistin werden. Wenn ich nur erst in der Redaktion wäre, dachte ich, da würde bestimmt alles besser.
1978 begann ich in der Redaktion Das Volk, und lernte die Spielregeln, hatte bald die Schere im Kopf, fragte Dinge erst gar nicht, überhörte Bemerkungen.
Meine Gesprächspartner wussten meist auch selbst, dass ich manches gar nicht schreiben würde: fehlendes Gemüse, verbotene Bücher, nicht genehmigte Westreisen. In der sozialistischen Presse hatte so etwas nichts zu suchen. Es waren peinliche Momente. In der Redaktion drechselte ich an meinen Sätzen. Und glaube noch immer, dass jeder mitreden durfte, auch wenn es bald Ansagen gab, dass manche Wörter oder Formulierungen nicht verwendet werden durften; „Umgestaltung“ war ab Mitte der 1980er Jahre so ein verbotenes Wort.Wenn manche heute meinen, sie hätten Widerstand geleistet – ich nicht. Um anzuecken, war dies auch gar nötig. Eines Tages kam ein Leserbrief in die Redaktion über eine rollende Fleischerei, in der die Leute Schnitzel und Wurst kaufen konnten. Plötzlich blieb es weg. Warum?, wollte jemand wissen. Ich ging der Sache nach, fragte, und es hieß, da sei etwas kaputt, das Auto sei zur Reparatur, es fehle ein Ersatzteil. Das schrieb ich auf. Ich hielt das für einen völlig normalen journalistischen Vorgang. Der Beitrag wurde aus der Zeitung kurz vor dem Andruck entfernt. Ich bekam Ärger und eine Verwarnung.
Im Sommer 1983 erschien ein Artikel aus der Feder meines Kollegen Heinz aus dem Kulturressort. Es ging, eigentlich völlig harmlos, um ein Erfurter Ehepaar, das als Dauercamper am Stausee Hohenfelden lebte. Was weder in dem Artikel stand noch dem Autor bekannt war: das Ehepaar hatte einen Ausreiseantrag gestellt.Dem Kollegen wurde unterstellt, bewusst dem Klassenfeind Raum in der Parteizeitung gegeben zu haben. Zunächst wurden alle Redakteure angewiesen, niemanden in der Zeitung mit Namen zu nennen oder im Foto zu zeigen, von dem nicht klar war, dass er keinen Ausreiseantrag gestellt hatte. Ein Akt des Misstrauens gegen jedermann. Und für eine Tageszeitung ein unsägliches Verfahren.
Gegen Heinz wurde nun ein Parteiverfahren angestrengt. Artikel von ihm durften nicht mehr erscheinen. Wie sollte ich mich verhalten? Diskussionen unter den Kollegen waren schwierig. Mit wem konnte man offen reden? Wie würden sich die anderen in einer Abstimmung verhalten? Und wenn sie einer Bestrafung zustimmen würden, dann aus Überzeugung – oder um die eigene Haut zu retten? Angst und Zweifel bestimmten die Tage in der Redaktion. Die Parteileitung ließ keinen Zweifel: Wer dem Rauswurf von Heinz widerspricht, fliegt auch. Das Urteil gegen ihn stand eh fest. Klar war: Hier sollte ein Exempel statuiert werden.
Die außerordentliche Parteiversammlung im September 1983 war eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte dieser Zeitung. Mir völlig unbekannte Leute saßen in der Versammlung und zitierten plötzlich aus einem Brief, den Heinz an seine Schwester in den Westen geschrieben haben sollte. Ich war wie versteinert. Wie kamen sie überhaupt zu dieser Post? Eine einzige Kollegin hob nicht die Hand, als es um den Rauswurf von Heinz ging. Ich war das nicht, auch ich hob die Hand. Und auch diese Kollegin soll im Nachhinein ihre Gegenstimme, ihren Widerstand zurück genommen haben. Heinz musste die Redaktion danach sofort verlassen.
Es war nur ein paar Monate später. Eines Abends klingelte es an meiner Wohnungstür. Davor stand der stellvertretende Chefredakteur Heiner Oette. „Bis du allein in der Wohnung?“, fragte er mich. Ich nickte, bat ihn herein. Ich war in diesen Tagen allein in der Lokalredaktion gewesen und hatte über einen neuen Kosmetiksalon berichtet. Eine schöne lokale Geschichte, dachte ich, die ich sofort mit einem Foto einrückte. Was mir der Vize-Chef an jenem Abend mitzuteilen hatte: Auch jene Kosmetikerin hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Das hatte ich nicht gewusst, nicht vermutet und – nicht prüfen lassen. Ich wusste, was mir bevorstehen würde.
Als ich am nächsten Morgen die Redaktion betrat, kam ich nicht mal bis zu meinem Schreibtisch. Ich wurde auf der Treppe abgefangen und musste mit zur SED-Kreisleitung. Dort saß ich dann stundenlang auf dem Gang, wurde immer wieder verhört und befragt und zu Stellungnahmen aufgefordert: Warum habe ich diesen Beitrag geschrieben? Wer hat gesagt, dass ich diese Frau interviewen und fotografieren sollte? Wer wusste, dass ich darüber schreiben würde? Wer hat den Artikel vorher gelesen? Nach zwei Tagen durfte ich wieder in die Redaktion. Aber: Auch ich bekam ein Verfahren. Auch gegen mich waren sich alle einig. Dabei: Ich war kein Widerstandskämpfer. Es war einfach eine Panne, die offenbar auf einen schwachen Klassenstandpunkt schließen ließ.Ich kam mit einer Parteistrafe davon. Es wurde mir wohl zugute gehalten, dass zufälligerweise niemand im Umkreis dieser Frau von ihrem Ausreiseantrag wusste.
Am 23. Oktober 1989 wurde in der Redaktionskonferenz angekündigt, dass nun nach Leipzig, Dresden und anderen Orten auch in Erfurt demonstriert würde. Was macht die Redaktion? Schweigen am Tisch. „Ich gehe da hin“, habe ich heraus geplatzt. Das wollte ich sehen, hören. Und davon wollte ich etwas für die Zeitung schreiben, zusammen mit meiner Kollegin Esther Goldberg. Wir waren uns einig. Ich fuhr zunächst nach Hause (Telefon hatte ich nicht). Dort saß mein neunjähriger Sohn über den Hausaufgaben. Ich erklärte ihm, dass es heute später werden würde. Für den Fall, dass ich bis 21 Uhr nicht zu Hause wäre, sollte er zu seiner Oma gehen. Falls mir etwas zustoßen würde, ich vielleicht verhaftet oder verletzt wäre, wollte ich verhindern, dass er – allein zu Hause – ahnungslos die Tür aufmachte. Womöglich dem Jugendamt.
Nach den Friedensgebeten in den Kirchen der Stadt strömten die Massen zum Domplatz. Dort verabredete man sich für Samstag zum „Dialog“ in der Thüringenhalle. Anschließend führte der Zug durch die Innenstadt von Erfurt. Auch vor das Zeitungshochhaus. Das lag im Dunkeln. Alle Lichter waren gelöscht. Aufgeregte, hitzige junge Leute stürmten die Treppe hoch zur Eingangstür. Vertreter vom „Neuen Forum“ und den Kirchen griffen ein, beruhigten. „Schreibt die Wahrheit“, riefen die Demonstranten immer wieder. Das wollte ich gern tun. Als Esther und ich zur Redaktion kamen, riefen wir glücklich und aufgekratzt: „Wir sind das Volk“ und „Wir sind vom Volk“ – beides stimmte ja. Uns wurde ein Platz auf Seite 2 zugewiesen. Nicht sehr groß, aber immerhin. Wir wollten nun schreiben, was wirklich geschehen war. Und lieferten unser Manuskript ab. Warteten dann, wie das Urteil des Chefredakteurs ausfiel. Wir warteten. Und warteten. Irgendwann kam jemand an uns vorbei: Geht heim, sagte er, und dass Werner Hermann, der damalige Chefredakteur, seit Stunden mit der SED-Bezirksleitung telefoniere. Ausgang: unklar.
Am nächsten Morgen konnte ich es kaum erwarten, die Zeitung in der Hand zu halten. Ich schlug auf, Seite 2? Wo war unser Bericht? War er unverändert?
Er war – gar nicht. Er war nicht gedruckt worden. Dafür erschien an diesem Platz, der unserer sein sollte, ein Pamphlet mit der Überschrift: Offizielle Mitteilung. Da war die Rede von einer „propagierten Aktivität“, von „Losungen mit demagogischem Inhalt“, von einer „nicht genehmigten Demonstration“. Ich war fassungslos, wütend. Wollte den Hergang erfahren. Der Chefredakteur erklärte zerknirscht, dass die Überschrift „Offizielle Mitteilung“ das Äußerste war, wodurch sich die Redaktion von dem Text distanzieren konnte. Auch unter Lesern brach ein Sturm der Entrüstung los.Zwei Tage später fand in der Thüringenhalle der auf dem Domplatz verabredete „Dialog“ statt. Während sich vor der Halle Hunderte drängten, hieß es an den Türen: Alles besetzt. Die Hälfte der Halle war reserviert, für Funktionäre und Studenten der Parteischule. Die Debatte wurde mit Mikrofonen nach draußen übertragen.
Trotzdem drängten sich stundenlang die Leute an den Mikrofonen im Saal, verlangten von Partei und Regierung, teils aufgebracht, Rechenschaft. Und die Leute wollten auch wissen, wer für die „Offizielle Mitteilung“ in der Zeitung verantwortlich sei, sie verfasst hätte. Der stellvertretende Chefredakteur Hartmut Peters stand auf und sagte, dass die Redaktion diesen Text nicht geschrieben hatte und nur unter Zwang den Text eingerückt hätte. Damit war dann aber auch sein Abgang besiegelt.In den folgenden Tagen und Wochen brach in der Redaktion immer heftiger eine Debatte los, ob und wie der Schritt zur Unabhängigkeit gegangen werde sollte. Etwa ein Viertel der Kollegen sagten auch klar, dass sie diesen nicht mitgehen wollten und in solch einem Fall die Redaktion verlassen würden. Was dann auch geschah.
An jenem 13. Januar wurde der Schritt vollzogen. Mit allen Unwägbarkeiten. Unser Kapital waren allein die Leser der Zeitung und ihr Vertrauen und unsere Verwurzelung in Thüringen. Die Zeitung erhielt einen neuen Namen Thüringer Allgemeine. Ich habe in den darauf folgenden Monaten und Jahren endlich über vieles schreiben können, wovon ich zuvor nur hätte träumen können: Über die ersten freien Wahlen im Frühjahr 1990, die Öffnung des Rennsteiges nach Bayern, die Einführung der D-Mark, die Wiedergründung des Landes Thüringen und den ersten Thüringer Landtag und vieles mehr.
Es waren für mich gute Jahre.
Thüringer Allgemeine, 16. Januar 2014 (gekürzte Fassung in der Extra-Ausgabe).
Weitere Reden und Debatten aus dem Symposium folgen in diesem Blog.
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