Alle Artikel der Rubrik "I. Die Meinung"

Ich bin eines Ihrer Opfer! – Wie Weimars Oberbürgermeister einen Chefredakteur verabschiedet

Geschrieben am 1. September 2013 von Paul-Josef Raue.

Beim Abschied keine tadelnden, gar bösen Worte? Weimars Oberbürgermeister begann seine Rede für den scheidenden TLZ-Chefredakteur Hans Hoffmeister so:

Fast ganz Thüringen ist hier heute zu Ihrem Abschied versammelt – ich vermisse nur eine Gruppe: Ihre Opfer – deshalb fühle ich mich hier heute auch ein wenig einsam.

Stefan Wolf, SPD, wurde 2006 zum Oberbürgermeister Weimar gewählt und 2012 in einer Stichwahl wiedergewählt; Hans Hoffmeister war 22 Jahre Chefredakteur der Thüringischen Landeszeitung, in Wolfs Worten „leidenschaftlich, cholerisch, erzählfreudig“ und oft Wolfs härtester Kritiker.

Der Oberbürgermeister lobte und tadelte in seiner Rede. Er lobte das gemeinsame leidenschaftliche Engagement gegen den Rechtsextremismus und manche Unterstützung etwa bei der Öffnung der Kulturstadt für die klassische Moderne, für das Bauhaus und die Weimarer Republik.

Der Oberbürgermeister erinnert an die „Theaterkämpfe“ – was für ein Wort! – und vor allem an den vierten:

Manche dieser Kämpfe schienen mir damals und scheinen mir auch heute noch in ihrer Vehemenz überzogen gewesen zu sein. In Ihrem vierten Theaterkampf stand ja nicht zuletzt ich in Ihrem Visier. Das waren Medien-Erfahrungen, die ich auch meinen politischen Gegnern nicht unbedingt wünsche. Vor allem aber hätte ich sie meinen Mitarbeitern damals gern erspart.

Mussten diese Verletzungen sein? Erst kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt: Ja, das muss so sein. Politiker, Verwaltungsmitarbeiter stehen als Inhaber der staatlichen Machtfülle in der Pflicht, sich ein dickes Fell anzulegen und auch unfaire öffentliche Kritik, persönliche Verletzungen zu ertragen.

Dann widmet sich der Oberbürgermeister den journalistischen Regeln:

Kampagnenjournalismus, lieber Hans Hoffmeister, ist nicht jedermanns Sache, denn er kann auch (sehr faustisch) Gutes wollen und Böses bewirken. Eine Zeitung soll und muss eine Meinung haben, deshalb gibt’s neben dem Bericht z.B. den Leitartikel (ein leider verschwindender Klassiker des Journalismus) oder den Kommentar.

Hans Hoffmeisters Schreibe kennt aber auch seine Mischformen ganz gut und weiß, wie man sie richtig platziert. Erst letztes Wochenende haben Sie noch einmal gezeigt, dass Sie – wenn’s um eine pointierte Meinungsäußerung geht – weder Freunde noch Verwandte kennen, von Bekannten, Politikern oder Kulturschaffenden ganz zu schweigen.

Dieses Kampfblatt TLZ wurde geliebt und geschmäht, und es war und ist ohne die Instanz des Chefredakteurs Hans Hoffmeister nicht wirklich vorstellbar…

Sie haben stets (oder doch fast immer?) geglaubt, was Sie geschrieben haben. Das hat nicht jedem gefallen, doch wenn es Gegenwind gab, z.B. aus der Politik, war Ihnen das – ich zitiere: „scheißegal“, wenn nicht gar das Salz in der Suppe. Das ehrt Sie außerordentlich! Sie haben kämpferisch, emotional, mit Herzblut geschrieben. Manchmal skurril, immer engagiert. Sie haben es sich und uns nicht einfach gemacht.

Der erste Band der „Bibliothek des Journalismus“: Hans Hoffmeister – Harmonie ist mir suspekt

Geschrieben am 31. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Er ist ein Getriebener, ein Schwarz-Weiß-Seher, ein Himmelhochjauchzendundzutodebetrübter, atemlos mit dem geschriebenen wie dem gesprochenen Wort.

So schreibt Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig über Hans Hoffmeister, 22 Jahre Chefredakteur der Thüringischen Landeszeitung; er wurde, der am Freitag in den Ruhestand verabschiedet wurde (30. August 2013). Machnig war einer der 250 Gäste, die zum Abschied in den Weimarer „Elephant“ gekommen waren. Machnig, auch ein Politiker starker Worte. schreibt weiter:

Das feine Florett war nicht Hoffmeisters Waffe, eher die schwere Nagelkeule.

Machnigs Einschätzung ist zu lesen in einem Interview-Buch, das Paul-Josef Raue, Autor dieses Blogs, über Hans Hoffmeister verfasst hat; es ist der erste Band der neu gegründeten „Bibliothek des Journalismus“, die im Klartext-Verlag erscheint mit Raue als Herausgeber:

Paul-Josef Raue: Hans Hoffmeister – Harmonie ist mir suspekt. Klartext-Verlag, 163 Seiten, 13,95 Euro

„Wir haben nicht über die Wende berichtet. Wir haben sie gemacht“, sagt Hans Hoffmeister in dem fünfstündigem Interview, in dem der scheidende Chefredakteur ausführlich seinen Anfang in Thüringen direkt nach der Wende erzählt. Die Kapitel-Überschriften führen durch das Buch wie durch das Hoffmeistersche Leben. In der ersten Hälfte sind die Wende und die folgenden Jahre das Thema:

> „Eine Affekthandlung“ – Hoffmeisters Aufbruch in den Osten
> „So war der wilde Osten“ – Der Start der „Tagespost“ in Eisenach
> „Wie sollten sie denn plötzlich Demokraten sein?“ – Die ersten Tage in der Weimarer Redaktion
> „Nicht nur nicken, auch handeln“ – Die ersten Jahre der TLZ
> „Harmonie ist mir suspekt“ – Wie es dem Westdeutschen im Osten erging.

Im zweiten Teil erzählt Hans Hoffmeister aus seinem Leben und von seinen Anfängen als Journalist im Westen: „Es wurde unfassbar viel gesoffen“. Immer wieder räsonieren die beiden Chefredakteure auch über den Journalismus, seine Werte und Regeln.

Zwei Auffassungen von Journalismus prallen in dem Interview aufeinander:

> Hoffmeister bekennt sich zur Einmischung der Redaktion in die Politik, er nimmt Partei, ist gegen die Trennung von Nachricht und Meinung und begründet dies so: „Ich will nicht, dass dieses Land, mein Land, Schaden nimmt“.

> Paul-Josef Raue, Chefredakteur der konkurrierenden Thüringer Allgemeine (TA), plädiert dagegen für eine Distanz, die dem Leser die Freiheit lässt, selber ein Urteil zu bilden, und zitiert den TV-Moderator Friedrich: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.“

Im Anhang antworten 21 Prominente auf die Frage „Hatten Sie Angst vor Hans Hoffmeister:

Erfurts MDR-Funkhaus-Chef Werner Dieste:

Viel spannender ist die Frage: Hat Hans Hoffmeister in den vielen Jahren in der Weimarer Marienstraße manchmal Angst gehabt – gar vor sich selbst?

TA-Redakteur Henryk Goldberg:

Ich habe ein wenig Angst vor einer Fähigkeit, die Hans Hoffmeister auszeichnet, und die mir seit 1990 abhandenkam: Sich so ganz, so rückhaltlos einer Sache hinzugeben.“
Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht: „Wir sind stolz darauf, dass er Bürger unseres Landes ist.

Ex-Jenoptik-Chef Lothar Späth:

Parlaments- und Regierungsvertreter hatten bei ihm kaum eine Chance, ihre Sicht der Dinge vorzutragen. Am liebsten hätte er das Ganze selbst übernommen.

Thüringens Vize-Ministerpräsident Christoph Matschie über Hoffmeisters Samstagkommentar, das „Schlüsselloch“:

Im Schlüsselloch ließ Hans Hoffmeister nicht selten das Fallbeil auf Politiker nieder. Mich traf es auch, aber ich lebe noch.

Wahlkampf: Wenn Parteien ihre Mitglieder zu Leserbriefen animieren

Geschrieben am 22. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser, der ungenannt bleiben will, schickt mir einen Brief und erzählt: Ein Verwandter hörte in einer internen Partei-Versammlung, dass die Mitglieder die Leserseite der TA zu Wahlkampf-Zwecken nutzen sollten. Auch die Themen gab man vor:

Altersarmut, Kinderarmut, korrupte Politiker, „Ossigkeit“ in allen Formen wie Hoffnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit.

Offenbar hat diese Partei ihr Ziel erreicht, ihre Anordnung geht voll auf, schreibt unser Leser. Genau die von der Partei befohlenen Themen füllen die Leser-Seite; er nennt zwei Beispiele:
+ Da berichtet ein fast 90-jähriger und schließt mit den Worten „armes Deutschland“. Wann in seinem Leben war es denn besser?

+ Da schreibt eine Mittfünfzigerin über ihre Arbeits- und Perspektivlosigkeit: „Ich wohne in einem 100-Seelendorf mit schlechter Verkehrsanbindung und habe keine Fahrerlaubnis und bekomme keine Arbeit.“ Tausende sind dahin gezogen, wo es Arbeit gibt; Tausende haben die Fahrerlaubnis gemacht und pendeln täglich mehrere Stunden…

Wie kommt es, fragt unser Leser, dass die Mehrheit der Thüringer für die Regierung votiert, aber auf der Leser-Seite sich zu 95 Prozent die Unzufriedenen einer Partei finden?

Schreiben die anderen nicht?, merkt unser Leser noch an. „Das sind aber die Leistungsträger, die mit Pendlerzeit 12 Stunden am Tag tätig sind und keine Zeit zum Schreiben haben.“

Wahl-Tagebuch in der Thüringer Allgemeine, 23. August 2013

Die @Spiegel-Zeitungsdebatte: Ohne gute Lokalzeitungen droht Schaden für die Demokratie – Was tun?

Geschrieben am 17. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Deutschland ist Provinz, und die bevorzugte Zeitung der Deutschen erscheint in der Provinz: 37 Millionen lesen regelmäßig ihre lokale Tageszeitung; nur 4 Millionen eine nationale. Auch wenn die Auflagen zurückgehen, so ist die Zahl der Leser schlicht beeindruckend.

Die Erfolgs-Geschichte der Bundesrepublik verläuft parallel zur Erfolgsgeschichte der Lokalzeitungen: Je mehr Menschen lesen konnten und wollten, was in ihrer Nachbarschaft passiert, umso dynamischer entwickelte sich unsere Demokratie: Was in den Rathäusern beschlossen wird, das können die Bürger aus eigener Erfahrung kontrollieren.

Wer kontrollieren, protestieren und mitwirken will, der muss wissen, was in seiner Stadt läuft. So entwickelten sich die Lokalzeitungen, zumindest die besten, in den 70er und 80er-Jahren von Honoratioren-Zeitungen zu Bürger-Zeitungen. Je umfangreicher und kritischer die Lokalteile wurden, umso höher stiegen die Auflagen: Von 10 Millionen Abonnenten kurz nach Gründung der Bundesrepublik auf 14 Millionen im Jahr der Einheit; das war der höchste Stand der alten Bundesrepublik. Auf einem ähnlich hohen Stand befinden wir uns heute.

Wer vom Sterben der Zeitung spricht, muss sich zuvor klar machen, wie sie der Demokratie nutzt:

1. Journalisten haben die Aufgabe, das Volk zu informieren und aufzuklären. Sie erfüllen eine lebenswichtige Aufgabe in der Demokratie: Der Bürger wählt, bildet Vereine und Initiativen, er demonstriert und klagt um sein gutes Recht, er redet mit und dagegen – kurzum: Er muss wissen, was im Staat und in der Gesellschaft läuft. So sieht unsere Verfassung die Journalisten als Treuhänder der Bürger, wenn es um die Kontrolle der Macht geht; das Verfassungsgericht hat dies immer wieder, erstmals im Spiegel-Urteil, eindrucksvoll bestätigt.

2. Zeitungen sind eine verlässliche und glaubwürdige Instanz, die auch Massen erreicht. Beides ist untrennbar wichtig: Vertrauen und Öffentlichkeit, Qualität und Quantität. Nur wenn viele Bürger über dieselben seriösen Informationen verfügen, können sie für stabile Regierungen in Berlin und den Städten sorgen, für Widerstand gegen Entscheidungen, die den Bürgern schaden, für Debatten, die nicht in kleinen Zirkeln verpufft. Die Freiheit des einzelnen hängt vom Wissen und Verständnis vieler ab.

3. Die Zeitung sortiert, macht die schiere Fülle der Informationen übersichtlich, reduziert sie auf ein menschliches Maß. Sie lässt nicht zu, dass ein Leser nur seine, vermeintlich nützlichen Nachrichten liest, ausgesucht von einer Maschine. Wir brauchen Bürger, die sich in Maßen verstören lassen, die andere Meinungen kennenlernen und aushalten. Das gehört zur Freiheit dazu.

4. Die Zeitung überfordert die Menschen nicht: Täglich reichen zwanzig bis dreißig Minuten Lektüre, um konzentriert das Wichtigste zu erfahren; die Lektüre ist eine Routine mit hohem Nutzen. Wer morgens liest, kann mitreden.

5. Nur wer informiert ist, wer viele Meinungen kennt und wer Debatten verfolgt, der engagiert sich. Eine Demokratie lebt von Menschen, die in einem Ratsausschuss mitwirken, die F-Jugend des Dorfvereins trainieren, krebskranken Kindern vorlesen, überhaupt ein Ehrenamt bekleiden.

6. Zeitung ist ein Jedermann-Medium; das ist jedenfalls das demokratische Ideal der Zeitung, dafür haben Generationen gekämpft von der Aufklärung bis zur friedlichen Revolution in der DDR. Jeder Bürger hat das Recht, alles zu wissen. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, formulierte Kant den Wahlspruch der Aufklärung. Der Verstand braucht aber seriöse Information. Kant würde heute für die Zeitung kämpfen. Wäre die Zeitung ein Medium der Wohlhabenden, der Mächtigen und der Beamten, verlöre sie ein Stück ihrer demokratischen Legitimation.

Die Demokratie braucht Zeitungen. Wenn wir ihr Ende prophezeien, müssen wir schon Antworten bereit halten:

 Wer gleicht aus, was die Zeitung an Nutzen stiftet?

 Wer kontrolliert unsere Demokratie, vor allem in der Städten und Kreisen? Wer sorgt dafür, dass wir keine demokratie-freien Zonen in Deutschland bekommen?

 Wer verhindert, dass Macht ohne Kontrolle despotisch wird?

 Wer finanziert ein anderes Modell? Das beste Modell, das wir kennen, ist die Finanzierung eines teuren und kostbaren Journalismus durch erstens: Verlage, zweitens: öffentlich-rechtliche Medien; die vom Staat finanzierten scheiden durch ihre Nähe und Abhängigkeit durch die Mächtigen aus (die noch größer würde, wenn es nur wenige starke Verlage als Wirtschaftsunternehmen gibt).

Zeitungen mögen nicht perfekt sein, aber sie sind näher an einer Sozialutopie, die das Internet versprochen, aber nicht gehalten hat: Alle Bürger haben Zugang zu jeder Information und Teilhabe am öffentlichen Leben. Wir wissen, dass im Internet Viele wenig lesen und Wenige viel. Ohne Zeitungen wird das Wissens-Fundament der Gesellschaft tiefe Risse bekommen. Besteht die Öffentlichkeit nur noch aus Minderheiten, bleiben die wichtigen Informationen für die meisten versteckt.

Im Spiegel-Blog ist oft ein zutreffender Einwand zu lesen: Redaktionen sind von dem Ideal, wie ich es formuliere, mehr oder weniger weit entfernt. Das ist richtig.

Versagen die Redakteure, droht der Demokratie ebenfalls großer Schaden. Lesen immer weniger eine Zeitung, droht ebenfalls Gefahr: Dann schlägt die große Stunde der Pädagogen, auch der Oberlehrer unter den Politikern.

Wir brauchen schnell eine Selbstbesinnung der Journalisten. Der klügste Satz von Cordt Schnibben – zu Beginn der Debatte – lautete: „Wir haben uns zu lange darauf verlassen, dass Verlage und Verleger die Konzepte entwickeln, die uns und unseren Journalismus sichern.“

Das lässt sich schnell ändern.

Wer hindert Redakteure, vor allem im Lokalen, daran, den besten Journalismus zu verwirklichen:

o Kontrolle der Mächtigen durch tiefe und umfassende Recherche (die noch stärker wird durch Nutzung der Daten-Fülle, die wir im Netz greifen können); Abschied von der Haus- und Hofberichterstattung, die „blackwildcat“ in einem Kommentar geißelt und mit DDR-Zeiten (unglücklich) vergleicht: Da „waren die Tageszeitungen das Sprachrohr der Partei“.

o verständliche Sprache und Erklärungen, die ohne den Oberlehrer im Journalisten auskommen;

o Mehr und tiefere Analysen, was die Welt zusammenhält; weniger Pressemitteilungen (und die mit einem Schuss Misstrauen redigiert); keine Manipulationen, etwa durch grobes Vermischen von Nachricht und Kommentar;

o Nähe zu den Menschen, die uns lesen und vertrauen: Was brauchen sie an Informationen und Meinungen? Was nützt ihnen? Aber auch: Was könnte sie interessieren und unterhalten? Das ist kein Plädoyer für Populismus (den die Leser gar nicht wollen), sondern für ein wenig Demut und für viel Respekt und Aufrichtigkeit.

o Erkenntnis, was Leser lesen wollen. Der zweitklügste Satz von Cordt Schnibben haut in diese Kerbe: „Zeitungen sind redakteursgesteuert, sie richten sich mehr danach, was die Leser lesen sollen.“ Wer glaubt, seine Leser seien identisch mit Rotwein-Freunden am Abend, der irrt fatal – vielleicht nicht beim Spiegel (und Cordt Schnibbens Bekanntenkreis), aber in einer Lokalzeitung. Da können wir von Bloggern lernen. Am besten wäre jeder Lokalredakteur auch ein Blogger, und er sähe seine Welt mit anderen Augen.

o Eine bessere Ausbildung, also mehr Ideen, mehr Mut und mehr Professionalität: Wer meint, fehlende Stellen durch Volontäre ersetzen zu müssen, der verspielt die Zukunft der Zeitung und die Zukunft der jungen Leute. Wir brauchen bessere Journalisten – und die bekommen wir nicht, wenn die Jungen ihre Ausbildung in den alten Strukturen, Klagen und Ausreden verbringen.

o Bessere Chefs, die Konzepte für die Zukunft entwickeln und sich nicht auf Manager verlassen, denen außer Kostensenkungen wenig einfällt. Journalisten sichern den Journalismus und, wenn er zu retten sein muss, retten nur sie ihn. Noch besser wäre eine gemeinsame Rettungstruppe von Managern und Journalisten; von beiden haben wir zu wenige.

Wer hindert uns daran, das sofort und umfassend zu realisieren?

Es geht um unsere Gesellschaft, um unsere Demokratie, um unsere Freiheit. Ob wir sie auf Papier oder auf dem Bildschirm oder sonstwie sichern, ist zweitrangig. Sichern werden wir sie nur mit Journalisten, die professionell arbeiten können und arbeiten dürfen.

Noch geht es den meisten Zeitungen passabel bis gut. Zu viele Redakteure haben sich jedoch darin eingerichtet, mit dem altvertrauten Journalismus die Zeit bis zum Ruhestand zu verbringen; die Stellenkürzungen und Sozialpläne treffen ja die Jungen, die noch nicht von der Rente träumen. Zu viele jammern über die schlechten Zeiten, über die undankbaren Aldis und sonstigen Werbekunden, die von uns gegangen sind, über die jungen Leute, die an nichts interessiert sein sollen: Was für ein Selbstbetrug, denn Journalismus spiegelt nicht nur die Zeit, sondern beeinflusst sie!

In einem irrt Cordt Schnibben, ist er der Spiegel-Mann, der den Reiz des Lokalen nicht spürt: Das Internet spinne eine Gegenöffentlichkeit zu den klassischen Medien.

Eine gute Lokalzeitung war schon immer Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit in einem. „Guter Lokaljournalismus lädt die Menschen ein, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Das ist eine anspruchsvolle Vermittlungsaufgabe, es ist ein Bildungsangebot, und je besser es gelingt, desto mehr wachsen die Ansprüche der Leser an ihr Blatt“. So sprach Bundespräsident Horst Köhler, als er 2009 im Braunschweiger Dom die „Bürgerzeitung“ pries. Also: Erst Öffentlichkeit herstellen, dann die Öffentlichkeit zu Wort kommen lassen – ein ebenso einfaches wie wirkungsvolles Prinzip, das nicht für das Internet reserviert ist.

Brauchen wir also Journalisten, „die anarchistisch wie das Netz denken und das konservativ umsetzen können“, wie „Ettina“ in einem Blog-Kommentar schreibt? Wenn es so einfach wäre; und es wäre schön, wäre es so einfach.

Zeitungmachen in diesen Umbruchzeiten ist, erst recht für Konzepte-Schmiede, nicht einfach aus diesen (und wohl einigen anderen) Gründen:

+ Jeder im Netz kann sich über Vereins- und Feste-Berichte in den Lokalteilen lustig machen. Aber viele Leser, nicht nur ältere, wollen über das einfache Leben in ihrer Nachbarschaft so viel wie möglich lesen: Das ist ihre Welt. Wer das als Provinz belächelt und ausblendet, verliert Leser, treue Leser zumal. Der Lokalteil war immer ein großes Familienalbum und wird es in Maßen auch bleiben. Lächelt noch einer über Facebook?

+ Zeitungen sind starke Marken, weil sie ein Teil der Familie sind wie Ehemann und Kanarienvogel (was für ein Trumpf – auch im Netz!); Zeitungen genießen Vertrauen – auch bei den Jüngeren, die zu oft erlebt haben, wie man im Netz über den Tisch gezogen wird, beleidigt und getäuscht.
Wer die Kreisliga-Tabelle im Tischtennis mit dem Hinweis verbannt, die stehe doch schon im Netz, der verliert Abonnenten – mit deren Geld die Investitionen in die Online-Auftritte subventioniert werden.

+ Wer einen guten Lokalteil macht, ob auf Papier oder auf dem Schirm, der muss eine kluge Mischung bringen: Familienalbum und Tiefen-Recherche, Freude am Leben und Ärger über das Rathaus. Wer nur eines bringt, bringt zu wenig.

+ Inhalt bleibt Inhalt, ob im Netz oder auf Papier: Also müssen Redaktionen das Netz bedienen, Facebook und Twitter und die bedruckten Seiten. Das fällt vielen schwer – und nicht wegen fehlender technischer Intelligenz. Offenbar ändern sich unsere Welt, unsere Gesellschaft und unsere Medien zu schnell für Redakteure, die Veränderung per se verachten. Aber wer sich nicht mit der Welt, für die schreibt, verändert, den wird die Welt verändern.

+ Die Zeitung ist eine Kommode mit vielen Schubladen, die wir mehr oder minder kostbar füllen. Wie verwirklichen wir dies Erfolgsmodell im Netz? Die Idee der Zeitung ist, von allem etwas zu bringen, solange es die Menschen interessiert und von Nutzen ist. Es gibt den Lokalsport und die Kultur und die Politik und anderes mehr, das keinen Werbekunden dazu verleitet, auf diesen Seiten zu inserieren.
Adaptieren wir das Modell des Anzeigenblatts oder der Anzeigen-Beilagen in den Zeitungen, wenn wir nur noch Artikel bringen, die einzeln bezahlt werden? Reüssiert eine Zeitung, die wie das Fernsehen auf Quoten schaut und davon abhängig wird?

Was bedeutet das für Zeitungsredakteure, die sich seriös im Netz bewegen wollen? Das ist ein Dreizehn-Punkte-Plan für Qualität:

1) Der Online-Auftritt eines Lokalteils oder einer Lokalzeitung ist durch die Marke der gedruckten Zeitung aufgeladen. Also müssen die Redakteure so arbeiten, dass die Inhalte und die Gestaltung die Marke nicht gefährden, sondern stärken.

2) Es gelten die professionellen Regeln wie in der gedruckten Zeitung. Sie sind noch strenger zu befolgen, weil der Online-Leser in der Regel schneller und weniger konzentriert liest.

3) Es gelten die ethischen und rechtlichen Regeln wie in der gedruckten Zeitung.

4) Online darf kein Spiegel der gedruckten Ausgabe sein, sondern muss mehr bieten: Archiv, Verlinkung, Ergänzungen durch Geotagging, Grafiken, Videos, Podcast, Kommentare usw

5) Es kommt auch online auf die Qualität an. Es kommt auf den Inhalt an.

6) Multimediales Erzählen krönt die Qualität. Wer Geschichten erzählt, bindet die Leser. Aber Geschichten allein bringen keinen Erfolg. Der schnelle Leser will zuerst schnelle, das heißt kurze und aktuelle Texte und Bilder.

7) Sicherheit der Recherche geht vor Schnelligkeit. Aktualität ist kein Wert an sich.

8) Auf den Blaulicht-Seiten sind die Texte seriös, vor allem aber befriedigen Qualität und Quantität der Bilder nicht die Sensationslust (auch wenn dadurch die Click-Zahlen steigen).

9) Der Online-Auftritt hat eine klare Ordnung, die wegen der unendlichen Weiten des Netzes noch wichtiger ist als in der Zeitung. Vor allem muss jeder schnell die Orte seiner Heimat finden (hyperlokal).

10) Der Leser wird zum Mitwirkenden, wenn er sich zu erkennen gibt (Registrierung) und die Regeln beachtet. Der Redakteur moderiert nicht nur, sondern diskutiert mit.

11) Der Redakteur moderiert den Marktplatz im Netz, er formuliert die Regeln, diskutiert sie mit den Usern, aber er achtet strikt auf die Einhaltung.

12) Das Internet suggeriert eine Nähe, die nur virtuell ist. Journalisten brauchen wirkliche Nähe, Vier-Augen-Nähe. Wer den Kontakt mit seinen Lesern nur noch im Netz sucht, entgleitet in eine Gespenster-Welt.

13) Das ist die Leerstelle für weitere Einträge.

Enden wir mit Sätzen aus dem Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1966, die kein bisschen alt sind:

Eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse ist für die moderne Demokratie unentbehrlich. Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang.

Wie lange darf man ein Thema zum Aufmacher treiben?

Geschrieben am 3. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Die Frage kennen Redaktionen: Können wir das Thema am dritten Tag immer noch als Aufmacher bringen?

In Thüringen wechselt der Regierungssprecher als Vorstand zu einer Internet-Firma. Er kündigt nicht seinen Job in der Regierung, sondern bekommt von der Ministerpräsidenten den goldenen Handschlag – also viel Geld bis ins hohe Alter.

Ein Leser aus Sondershausen schreibt an die Thüringer Allgemeine (TA):

Was ist mit der TA los? Zum dritten Mal in dieser Woche wird auf der Titelseite der TA die Provinzposse mit Herrn Zimmermann wiedergekäut.

Gibt es nichts Wichtigeres und/oder Besseres zu berichten? Dieser Gaul ist doch schon sowas von tot geritten, töter geht nicht (extra für Sie als Liebhaber der deutschen Sprache).

Es ist ja schön, wenn die Redakteure Luther beherzigen und „den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie (was) sie reden“, aber ich bezweifle, ob die Leser dies zu würdigen wissen. Mal abgesehen davon, dass diese Berichterstattung meiner Meinung nach die Politikverdrossenheit massiv fördert.

(Ironie ein) Wenn meine Frau nicht gern den Hägar läse, hätte ich womöglich die TA schon abbestellt (Ironie aus). Mir ist zwar klar, dass die vielen Seiten der TA täglich irgendwie „gefüllt“ werden müssen und Redakteure auch nur Menschen sind, aber die ständigen Wiederholungen sind eine Beleidigung jedes denkenden Menschen und nerven.

In seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:

Provinzposse? Provinz: Ja – wir leben in Thüringen, wir leben gerne hier, wir schämen uns nicht. Posse? Nein – wir haben die Arroganz der Macht an einem Beispiel offenbart; wir haben der Regierung klar gemacht, wie das Volk, das sie vertritt, denkt; wir haben den Mächtigen gezeigt, dass in einer Demokratie Kontrolle wichtig ist – und wir, die Journalisten, sie ernsthaft ausüben.

Die Aufmacher zur Zimmermann-Affäre waren auch keine Wiederholungen. Das Drama hatte, wie in der griechischen Tragödie, drei Akte:

> Der Jammer am ersten Tag: Was ist passiert?

>Der Schrecken am zweiten Tag: Droht eine Katastrophe?

> Am dritten Tag die Lösung, die „Katharsis“: die Reinigung.

Oder glauben Sie, Herr Schwartz, dass eine Regierung schwach wird – wenn wir einmal berichten und dann „Wichtigeres“ auf die erste Seite heben? Ermuntern sie die Mächtigen nicht, durch Schweigen, Halbwahrheiten und Aussitzen die Probleme in ihrem Sinne zu lösen?

„Provinzposse“ – so sähen es die Mächtigen gerne. Wir, die Redakteure, sehen es anders. Durch unsere Kontrolle der Macht fördern wir keine Politikverdrossenheit, sondern zeigen, wie stark eine Demokratie ist – in der Kontrolle funktioniert.

Thüringer Allgemeine 3. August 2013

Wenn Rezensenten metaphern: Lynchen und Demolieren in Bayreuth

Geschrieben am 31. Juli 2013 von Paul-Josef Raue.

Wie drastisch und menschenverachtend darf die Sprache sein? Die Sprache des Feuilletons? Ist „Lynchen“ ein Sprachbild, das angemessen ist in der Besprechung einer Opern-Inszenierung? In der Süddeutschen Zeitung schreibt Reinhard J. Brembeck über den „Siegfried“ in Bayreuth:

Als der Vorhang fällt, setzt ein Buhgeschrei ohnegleichen ein. Hätte sich Castorf gezeigt, er wäre gelyncht und das Festspielhaus demoliert worden.

Der Rezensent, so ihn einer fragte, rechtfertigte sich wohl: Ist doch Ironie! Ist doch nur ein „Spaß“! Ist doch Kunst!

Das ähnelte dem Verhalten von Hundebesitzern. Rast ihr Liebling auf einen Jogger zu und freut sich aufs Zupacken bereit, ruft der Besitzer: „Keine Angst, der will doch nur spielen.“

SZ, 31. Juli

Was ist das „Sommerloch“?

Geschrieben am 30. Juli 2013 von Paul-Josef Raue.

Das Sommerloch ist ein gemeinnütziges, von den Presseorganen getragenes Unternehmen. Verwaltung und Organisation liegen bei den Nachrichtenagenturen, die laut Stiftungsvertrag verpflichtet sind, das Loch Jahr für Jahr mit adäquatem Material zu füllen… Die dpa zum Beispiel ist unlängst der Frage nachgegangen, ob man am Flug der Schwalben das Wetter vorhersagen könne.

Streiflicht der Süddeutschen Zeitung, 30. Juli 2013

„Frau Zschäpe ist schwanger“ oder: Wie Leser auf den NSU-Prozess reagieren

Geschrieben am 29. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.

„NSU-Berichte provozieren Leser. Chefredakteur der Thüringer Allgemeine bringt Abonnenten gegen sein Blatt auf“, schreibt Jens Twiehaus im Kress-Report. Er folgt einer Podiumsdiskussion bei der Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche in Hamburg und einem Gespräch mit mir.

Die Überschrift ist zwar ein wenig reißerisch, denn es geht um 30 oder 40 Leserbriefe mit Reaktionen wie: „Wir wollen nicht jeden Tag das Gesicht von Beate Zschäpe sehen“ und „Wir haben doch nichts mit den Nazis zu tun.“ Dennoch haben einige Leser Schwierigkeiten mit dem NSU-Prozess. Ein typischer Leserbrief ist heute (29. Juni) in der Thüringer Allgemeine zu lesen:

Die Wahrheit fällt nicht vom Himmel

Dr. Hans Weigel aus Mühlhausen schreibt zum Artikel: „Post von Zschäpe an einen Dortmunder Häftling abgefangen“ (TA vom 14. Juni):

Ich hatte mir geschworen, keine Kommentare zu diesem unsäglichen Geheimdienst- und Prozess- Vor – (oder besser „Ver“) gehen abzugeben. Diese Meldung übersteigt jedoch alle Vorstellungen, die Frau Zschäpe bisher geliefert hat. Nicht nur, dass sie entsprechend der von ihr gelieferten Modenschau eine „Haft-Suite“ haben muss, nein, sie hat ausreichend Briefpapier (die Briefmarken stellte sicher die Haftanstalt zur Verfügung).

Man entschuldigt sich sozusagen noch, dass man einen 1 bis 1,5 cm dicken Brief an einen auswärts einsitzenden Verbrecher geöffnet hat. Wie nobel, wo doch die CIA alle unsere Telefongespräche ohne Entschuldigung abhören darf.

Jetzt warte ich jedenfalls nur noch auf die Zeitungsmeldung „Frau Zschäpe ist schwanger“, und keiner weiß, wie das geschehen konnte.

Der Brief steht in der Samstags-Kolumne „Leser fragen“, in der der Chefredakteur auf Leserbriefe antwortet:

Sehr geehrter Herr Weigel,

Sie sprechen wahrscheinlich für nicht wenige Leser. Ähnlich lautende Briefe stapeln sich auf meinem Schreibtisch.

Dennoch: In einem Rechtstaat gilt die Unschuldsvermutung. Bevor die Richter ihr Urteil nicht gesprochen haben, müssen alle, die Verantwortung tragen, von der Unschuld der Angeklagten ausgehen.

Das gilt auch für uns Journalisten: Es ist nicht Aufgabe von Zeitungen, Vorurteile zu bestätigen; wir haben zu zeigen und zu kontrollieren, wie ein Urteil entsteht. Nur so werden aus Vorurteilen, die von Gefühlen überwuchert sind, vernünftige Urteile.

Ein solch schwerer und komplizierter Prozess, in dem die Angeklagte schweigt – was ihr gutes Recht ist -, ein solcher Prozess, der ein Jahr dauern wird, ist zäh und ermüdend. Dennoch berichten wir ausführlich, um der Wahrheit nahe zu kommen. Wir brauchen Geduld, wir brauchen Zeit, weil die Wahrheit nicht vom Himmel fällt.

Über hundert Artikel sind in unserer Zeitung schon erschienen, noch viel mehr im Internet; die Zahl wird bis zur Verkündung des Urteils, wahrscheinlich im Sommer nächsten Jahres, erheblich wachsen.

In diesen Berichten erfahren wir auch viel über uns, über die Gesellschaft, in der das NSU-Trio aufgewachsen ist, und über das Milieu, in dem die braunen Gedanken, die Abneigung gegen Fremde wachsen konnten ebenso wie die Entscheidungen für den Terror. Darüber werden wir gemeinsam diskutieren müssen: Was hat die NSU, was hat der Prozess mit uns zu tun?

Verdrängen hilft nicht.

Und mit Verlaub, sehr geehrter Herr Weigel, eingesperrt zu sein, ist schlimm genug. Einem Menschen, der den Himmel nicht mehr sehen darf, keine Briefmarken mehr zu gönnen, ist – sagen wir: gar nicht nett.

Auf dem Podium Netzwerk Recherche wie im Kresshabe ich den Kommentar unseres Gerichtsreporters Martin Debes zitiert, der die heftigsten Reaktionen ausgelöst hatte:

Im Schwurgerichtssaal A101 sitzt auch Thüringen, auf der Anklagebank, weil dies nun einmal das Land ist, aus dem die Täter kommen.

Ein Thema ist auch der Hochmut einiger westdeutscher Beobachter, den ich auf dem Hamburger Podium angesprochen habe: „Wir sind bisweilen etwas verwundert, wie westdeutsche Zeitungen über den NSU schreiben und das Fernsehen berichtet. Es schwingt häufig im Unterton ein ,Das musste ja im Osten passieren‘ mit.“

NSU-Prozess: Wenn Zschäpe vom Teufel besessen ist, geht sie uns nichts mehr an (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 11. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

„Der Teufel hat sich schick gemacht“ – lautete am Dienstag die Schlagzeile der Bildzeitung. Beate Zschäpe wird als Teufel identifiziert, wobei die Boulevardzeitung die Geschlechtsumwandlung nicht stört: Der Teufel wird zur Frau.

Die Redaktion spielt auf einen erfolgreichen Film an: „Der Teufel trägt Prada“. Meryl Streep spielt die von Macht berauschte und schöne Chefredakteurin, die feine Sache trägt, nicht nur Prada. Der Film ist eine Satire.

Der NSU-Prozess ist Wirklichkeit. Erst Elitz, Kommentator der Bildzeitung, schreibt: „Das Böse hat ein Gesicht. Beate Zschäpe“; der Kommentator war immerhin Intendant von Deutschlandradio Kultur, einem angesehenen Sender in Deutschland.

Dürfen wir einen Menschen einen „Teufel“ nennen? Im Alltag denken wir uns wenig dabei. „Teufel“ ist leicht jeder, der seine Macht offen zeigt. Selbst Kinder, die ihren Willen testen, nennen wir „kleine Teufel“ – und nicht selten lächeln wir dabei.

Aber ein „Teufel“ auf der Anklagebank? Das ist nicht mehr zum Lachen, das ist Vorverurteilung, das ist Zerstörung, Dämonisierung eines Menschen, der nicht verurteilt ist. Das ist eines Rechtsstaates unwürdig.

In seinem Roman „Der Name der Rose“ lässt Umberto Eco seinen Helden, den Mönch William, mit einem Abt über das Wirken des Teufels diskutieren. Kann es sein, so William, dass die Richter und das ganze Volk sehnlichst eine Präsenz des Bösen wünschen? „Vielleicht ist das überhaupt der einzige wahre Grund für das Wirken des Teufels: die Intensität, mit welcher alle Beteiligten in einem bestimmten Augenblick danach verlangen, ihn am Werk zu sehen.“

Wer vom Teufel besessen ist, ist von einer fremden bösen Macht gesteuert. Dann können wir uns zurücklehnen und sagen: Sie ist keine von uns, das geht uns nichts an.

Thüringer Allgemeine, geplant für die Kolumne „Friedhof der Wörter“ am 13. Mai 2013

NSU-Prozess: Warum es eine ostdeutsche Sicht gibt – oder: Die Neonazis sind noch da!

Geschrieben am 8. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

Im Schwurgerichtssaal A101 sitzt auch Thüringen auf der Anklagebank, weil dies nun einmal das Land ist, aus dem die Täter kamen.

Das schrieb mein TA-Kollege Martin Debes vor einigen Wochen, kurz bevor der NSU-Prozess eigentlich beginnen sollte. Er erntete in unserer Thüringer Leserschaft einige empörte Reaktionen: Wir haben doch mit den Neonazis nichts zu tun; es ist eine Frechheit, uns mit denen in einen Topf zu werfen!

Auch in den Kommentaren nach meinem Offenen Brief an die FAZ klang Unverständnis bis Ärger durch: Was soll denn eine thüringische Sicht? Ist „Kollektivschuld“ nicht eine maßlose Übertreibung?

„Tingtong“ beispielsweise schrieb:

Allerdings finde ich befremdlich, dass Sie auf eine “ostdeutsche Sicht” hinweisen.
Was ist in diesem speziellen Fall (NSU-Morde) das Besondere an dieser “ostdeutschen Sicht”?

Martin Debes kommentierte parallel zu meinem „Offenen Brief“ seinen „Zwischenruf“ für die Zeitung, das ist der montägliche Wochenkommentar des TA-Reporters:

„Was der NSU-Prozess immer noch mit Thüringen zu tun hat und weshalb wir nicht verdrängen sollten, was offensichtlich ist“:

Es geht darum, dass wir nicht neuerlich verdrängen, was doch so offensichtlich ist. Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe wurden zu einer Zeit erwachsen, als nahezu wöchentlich Ausländer in Jenaer Straßenbahnen verprügelt wurden, als Neonazis in Süd- oder Ostthüringen national befreite Zonen ausriefen und CDs mit nationalsozialistischem Liedgut auf vielen thüringischen Schulhöfen zu bekommen waren.

Ich lebte damals, vor 15, 20 Jahren, in dieser Stadt, studierte vor mich hin und schrieb für Zeitungen. Einige Kommilitonen wohnten in Lobeda, da passte man bei Besuchen auf. Ansonsten ging man den Glatzen, die eher selten im Stadtzentrum auftauchten, einfach aus dem Weg.

Bis auf die langen Haare, die ich damals noch besaß, hatte ich wohl nichts an mir, was sie provozierte. Ich war ja Deutscher.

Für eine Weile wohnte ich zwei Häuser neben der Evangelischen Jugendgemeinde, die sich mit einem eisernen Tor gegen die Angriffe der Rechtsextremen schützte und die, zumindest zuweilen, auch nicht zimperlich gegen die Neonazis vorging. In manchen Nächten herrschte in manchen Gegenden Kriegszustand.

Doch die Lokalpolitik, vom Oberbürgermeister bis zum Stadtrat, ignorierte das alles, genauso wie der Rest der Welt. Als der Spiegel eine Geschichte über Jena schrieb, titelte er von der „Hauptstadt der Intelligenz“. Niemand wollte sich das von Lothar Späth und anderen gepflegte Image der Boomtown Jena kaputt machen lassen.

1998 flüchteten die Drei, um in Sachsen Terroristen zu werden. Das war auch ungefähr die Zeit, als die Neonazis ihre Strategie änderten. Ralf Wohlleben, dem auch in München der Prozess gemacht wird, ließ sich in den Ortschaftsrat in Winzerla wählen.

In Alt-Lobeda bezog er eine alte Kneipe und machte sie zum Braunen Haus. Die Gewalt nahm ab, die Präsenz zu. Die NPD etablierte sich.

Der Sohn meiner Schwester, er ist 18, geht ab und an in den „Hugo“ in Winzerla. Der Club wurde vor einigen Jahren neu gebaut, an Stelle der alten Baracke, in der Beate Zschäpe ihre Uwes kennenlernte.

Der Neffe sagt, selten, jedenfalls nicht oft, kämen einige, wenige Rechte vorbei. Sie fielen kaum auf, weder optisch noch sonstwie.

Aber sie sind noch da.

Thüringer Allgemeine vom 6. Mai 2013

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