Wenn Politiker ausrasten: Wahlkampf und die Nerven von Redakteuren wie Kämpfern
Der Wahlkampf in Thüringen war ein heftiger. Es deutet sich ein Wechsel an, und ein Novum in der deutschen Geschichte: Der erste deutsche Ministerpräsident von den Linken, der Nachfolge-Partei der SED – im 25. Jahr nach dem Fall der Mauer.
Selten thematisieren Redakteure, was sich alles zwischen Politikern und Redaktionen abspielt. Mirko Krüger, Desk-Chef der Thüringer Allgemeine, hat in einem Leitartikel auf der Titelseite die „Misstöne im Thüringer Wahlkampf“ erklärt:
Je näher die Entscheidung rückt, umso mehr liegen die Nerven vieler Kandidaten blank. Das bekommen auch Journalisten zu spüren. Seit Tagen häufen sich Anrufe von Politikern in der Redaktion; wohlgemerkt: von Politikern aus nahezu jedem politischen Lager.
Der eine fühlt sich beleidigt, wenn wir über ihn berichten. Ein anderer flippt regelrecht aus, dass über ihn angeblich zu wenig berichtet würde. Ein dritter droht mit Abbestellung seines Zeitungsabos. Ihm passt nicht, dass sein parteiinterner Konkurrent in einem Artikel erwähnt worden ist.
In solchen Momenten macht unter Journalisten gern mal eine ketzerische Bemerkung die Runde. Zeitung machen könnte so schön sein, wenn es keine Politiker gäbe. . .
Wirklich? Natürlich ist das Gegenteil der Fall. Die letzten Tage vor einer Wahl offenbaren nicht selten auf besondere Weise den wahren Charakter mancher Kandidaten.
In den USA lauern deshalb vor allem politische Gegner auf verbale Entgleisungen und Wutausbrüche ihrer Gegner. Wenn etwa ein Funktionär, der ach so gern ein Staatsmann wäre, ab und an ausrastet, lässt sich das herrlich ausschlachten.
Solche Videos zeigt man gern im eigenen Wahlkampf – und fragt dabei die Bürger: Möchten Sie wirklich die Zukunft unseres Landes in die Hände dieses Politikers legen?
Gut möglich, dass noch heute mein Telefon klingelt. Gut möglich, dass schon wieder ein Kandidat meint, ich könne ja nur ihn allein gemeint haben. Das wäre sogar gut: Jede Besserung beginnt mit Einsicht.
Was sich detailliert in der Redaktion an Druck und Drohung durch Politiker abspielt, können andere besser beschreiben. Claus Peter Müller hat in der FAZ den Linken-Kandidaten Bodo Ramelow beobachtet:
Ob alles stimmt, was über Ramelow geschrieben wird, sei dahingestellt. Aber er hält das Stöckchen, über das die anderen springen. Er macht sich interessant, um dann aber auch die Grenzen der Berichterstattung mit aller juristischen Entschlossenheit aufzuzeigen. In der „Tageszeitung“ steht, seine Mutter habe ihn wegen seiner schulischen Leistungen mit der Peitsche geschlagen. Von „Gewaltorgien“ soll er gesprochen haben.
Kaum eine Reflexion über Ramelow versäumt, seine Legasthenie zu thematisieren. Als aber jüngst ein Autor der Zeitung „Thüringer Allgemeine“ zu dem Schluss kam, Ramelow sei ein Narzisst, wurde er ungehalten und forderte von der Chefredaktion die Unterzeichnung einer Unterlassungserklärung.
Die Korrespondenz versandte er im ganzen Land. Nun haben es alle schriftlich: „Lesen konnte und kann ich und zwar sehr gut“, steht dort als einer von vielen Punkten. Auch dass Ramelow nie Lehrling in Marburg gewesen sei, sondern dort Lehrlinge ausgebildet habe. Ferner habe er nicht an der Beerdigung von Professor Wolfgang Abendroth teilgenommen, und der „Abbruch des Interviews“ mit dem „Spiegel“ sei aufgrund von Beleidigungen durch den fragenden Journalisten „notwendig“ gewesen.
Das ist eben auch ein Wesenszug des Kandidaten Ramelow. Er gilt als dünnhäutig und empfindsam.
Die Thüringer Allgemeine hat keine Unterlassungserklärung abgegeben. Im Klartext-Verlag hat sie ein E-Book herausgegeben: Frank Schauka – Bodo Ramelow. Eine biographische Skizze
Im Frühjahr gab ebenfalls der Klartext-Verlag die Biografie der Ministerpräsidentin heraus, geschrieben vom TA-Redakteur Martin Debes: Christine Lieberknecht – Von der Mitläuferin zur Ministerpräsidentin (Besprechung in der WAZ und im MDR).
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Quellen:
FAZ-Online vom 11. September „Ramelow im Präsidenten-Modus“
TA vom 6. September
Kann man sich hinter der „Floskel der Objektivität“ verschanzen?
Thomas Scheen schreibt in der FAZ ein Porträt der südafrikanischen Richterin Masipa, die das Urteil im Prozess gegen Oscar Pistorius spricht. Sie war Journalistin bei der Post in Johannesburg, kämpfte gegen die Apartheid und galt „als zäher Brocken“:
Das war in den siebziger Jahren, als das Apartheidsregime mit roher Gewalt gegen seine Gegner vorging und ein Reporter sich nicht hinter der Floskel der Objektivität verschanzen konnte, sondern Farbe bekennen musste.
Gelten die journalistischen Regeln der Objektivität nur in friedlichen und demokratischen Zeiten? Darf ein Journalist ansonsten Nachricht und Meinung vermischen? Und wenn ja: Warum? Darf auch ein Richter die Objektivität als Floskel sehen?
Quelle: FAZ 12. September 2014
„Die Medienbranche hat ihre eigene Revolution verschlafen“ – NZZ-Chef über guten Journalismus und Geldverdienen
Diversifizierung des Kerngeschäfts, also Verkauf von Konzertkarten und Handel mit Gebrauchtwagen, contra Fokussierung auf das Kerngeschäft, also erstklassiger Journalismus? Welches Geschäftsmodell wählen Zeitungsverlage? „Fokussierung auf hochwertige Publizistik“ antwortet Etienne Jornod von der NZZ und überschreibt so auch seinen Beitrag zur Krise der Medienindustrie; er ist Präsident des Verwaltungsrats der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Im letzten Satz seines Beitrags, der eine Seite der NZZ füllt, dankt er seinen Aktionären, dass sie den Kurs unterstützen, hochwertige journalistische Angebote anzubieten.
Statt immer neuer Spar-Runden auf Kosten der journalistischen Qualität wählt die NZZ den Weg der Fokussierung. „Wir sind überzeugt, dass hochwertiger Journalismus auch im digitalen Zeitalter unerlässlich ist. Seit spätestens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besitzt der Journalismus neben der Nachrichtenhoheit auch eine Deutungshoheit.“ Er nennt als Beispiel Kurt Tucholsky, der mit seinen scharfen Worten auch eine öffentliche Auseinandersetzung bewirkte. „Der Journalismus war eine gestaltende gesellschaftliche Kraft.“
Das soll so bleiben, gerade „in einer endlos ausufernden Informationswelt gewinnen Relevanz, profilierte Meinungen und Recherche neue Bedeutung“. Die NZZ sei überzeugt, dass man mit hochwertigem Journalismus auch weiter Geld verdienen könne. Als Beispiel dient die französischen Online-Zeitung Mediapart mit ihrem kostenpflichtigen Journalismus.
Der NZZ-Verwaltungsrats-Chef kritisiert: Wir haben zu viel Zeit verloren. „Ich kenne keine andere Industrie, die so wenig in Forschung und Entwicklung investiert wie die der Medien. Die Medienbranche hat ihre eigene Revolution verschlafen.“
Wie sieht der neue Journalismus aus, für den die Leser gern bezahlen, und der neue Verlag, der das Geld dafür beschafft:
1. Eine einfache Website reicht nicht, also das Befüllen allein durch Redakteure. Vielmehr müssen über soziale Medien die Kunden eingebunden werden – „als Verstärker und Transmissionsriemen zugleich. Sie helfen den Journalisten, Nachrichten zu sammeln, zu bewerten und zu teilen.“
2. „Soziale Medien ermöglichen eine rasche und kritische Auseinandersetzung mit journalistischer Arbeit.“ Es sei klug, auch nicht immer angenehm, „sich dieser neuen Konkurrenz zu stellen und sich ihrer positiven Seiten zu bedienen“.
3. „Nichtstun bedeutet Misserfolg“, also: Investieren in redaktionelle Projekte, die den Erfordernissen der digitalen Welt gerecht werden (zum Beispiel ein innovatives Produkt in Österreich) sowie Investieren in verwandte Gebiete mit Bezug zum Kerngeschäft (zum Beispiel in Konferenzen).
4. Es gibt zwei sehr unterschiedliche Gruppen von Kunden, die wir bedienen müssen: Die Leser der gedruckten Zeitung, so wie sie schon immer war, und die Menschen, die weder heute noch morgen eine Zeitung lesen. „Wir müssen Vorstellungen und Erwartungen von Qualität auch in den digitalen Medien gerecht werden.“
5. Im Vordergrund steht: Unser hochwertige Inhalt kann mehrfach verwertet werden, einfach und kostengünstig verkauft werden. „Wir überlassen die Wahl der Nutzung unseren Kunden.“
6. Digitale Medien erreichen nicht nur die Jungen. Das Wachstum bei Twitter und Facebook in der Schweiz generieren hauptsächlich die über Fünfzigjährigen.
7. Trotzdem muss die Sicherung einer angemessenen Rendite das oberste wirtschaftliche Ziel bleiben. „Nur diese bildet eine nachhaltig solide Basis für unabhängigen und seriösen Journalismus.“
8. Journalisten können durch ihre Einstellung den Wandel beschleunigen und fördern.
9. Der Journalismus muss unabhängig bleiben.
FACEBOOK-Kommentare
Joachim Dege
Das Rennen ist noch nicht gelaufen. Wie zum Beispiel AmAbend aus Aachen zeigt. Im Gegenteil. Das Beste kommt noch. Und damit meine ich nicht nur die Krautreporter. Aber auch die. Und andere, die längst in den Startlöchern sitzen. Der wirtschaftliche Druck macht’s möglich. Und siehe da: Am Ende wird sich die Qualität durchsetzen.
Antisemitismus und Rechtsextremes im Leserbrief: Wie der Chefredakteur in der Zeitung antwortet
Wie können Sie behaupten, dass bei bis zu 100.000 Thüringern mit nationaler Gesinnung die NPD keine Chance hat?
So fragt ein Leser, nachdem er die Chefredakteurs-Kolumne „Leser fragen“ gelesen hatte, in der ein Offener Brief der NPD zu Wahlkampf in Thüringen und Pressefreiheit eine Antwort fand. Der Leser fährt fort:
Sie zeigen uns, dass Sie voll auf politisch gewollter Linie liegen und es eine Pressefreiheit in Deutschland zur Zeit nicht gibt!
Ich kann den Zweck Ihrer offensichtlichen Manipulationen schon verstehen. Die Thüringer gehören mehrheitlich der christlichen Religion an bzw. sind Atheisten! In Ihrer Zeitung ist seit Ihrem Amtsantritt eine andere Religionsgemeinschaft überproportional vertreten.
Glauben Sie nicht, dass die Leser das nicht bemerkt haben? Hinter vorgehaltener Hand wird schon nicht mehr von der Thüringer Allgemeinen sondern von der „Jüdischen Allgemeinen“ gesprochen!
Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortet:
Sehr geehrter Herr S.,
Sie haben recht: Sie zählen zu den rund 250.000 Thüringern – also deutlich mehr als Ihre vermuteten 100.000 – mit rechtsextremer Einstellung. Das fand der „Thüringer Monitor“ heraus, über den wir kurz vor Weihnachten berichtet hatten.
Offenbar wählen die Rechtsextremen aber nur zum geringen Teil die NPD, wie die Umfragen und die Wahlen der vergangenen Jahre zeigen. Thüringen ist das ostdeutsche Bundesland, in dem noch nie ein Rechtsradikaler in den Landtag gewählt worden ist.
Eine Redaktion, die Freiheit und Demokratie schätzt, wird sich bemühen, dass dies so bleibt. Lenin wird der Satz zugeschrieben: „Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen.“ Die Rechtsextremen mögen ähnlich denken, wenn sie von den Demokraten und der Pressefreiheit sprechen – und sie werden sich ebenso irren, wie es Lenin tat.
Wir schätzen keine Diktaturen, wir verachten den Faschismus. Damit wir nie wieder erleben, wie Deutsche ein Volk ermorden, darum erinnern wir immer wieder an den braunen Terror – aber debattieren auch über die Irrtümer in der Geschichte der Christen, wenn wir beispielsweise Luthers Judenhass zum Thema machen.
Wir wollen erreichen, dass der Antisemitismus in Thüringen keine Zukunft hat. Und Sie haben wieder Recht: Die Zahl der Rechtsextremen hat sich in den vergangenen Jahren halbiert – und das können sie bitte verbreiten ohne vorgehaltene Hand.
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Thüringer Allgemeine, 16. August 2014
Antwortet eine Redaktion auf den offenen Brief der NPD zur Pressefreiheit? Und wenn ja: Wie?
NPD-Landesvorsitzender Patrick Wieschke schreibt als „Leser und Demokrat“ einen offenen Brief an den Chefredakteur der Thüringer Allgemeine über die Pressefreiheit. Unter anderem ist zu lesen:
Mit Sorge beobachte ich, daß die Pressefreiheit zunehmend mißbräuchlich verwendet wird. Durch das Grundgesetz ist nicht nur die Freiheit der Presse garantiert, sondern eben auch das Grundrecht auf Information (Art. 5) für alle Staatsbürger und das Recht auf freie Wahlen (Artikel 28 Abs. 1 Satz 2 sowie Artikel 38 Abs. 1).
Dieses wird meines Erachtens dadurch unterlaufen, indem Journalisten nach rein subjektiven Einschätzungen und vielleicht auch privaten politischen Meinungen ihre Berichterstattung vornehmen.
Im laufenden Landtagswahlkampf gipfelt die Beeinträchtigung oben genannter Grundrechte darin, daß die von Ihnen verantwortete Thüringer Allgemeine eine eigene Einschätzung dergestalt vornimmt, welche Parteien „wichtig“ sind und folglich welche nicht.
Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortet in seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“:
Sehr geehrter Herr Wieschke,
unsere Zeitung stellt alle Parteien vor. Ausführlich werden Parteien mit ihren Programmen verglichen nach folgenden Kriterien:
> Mitglieder des aktuellen Landtags (CDU, Linke, SPD, FDP und Grüne)
> und die AfD als Partei, die nach den Umfragen gute Chancen hat, in den Landtag einzuziehen. Die anderen sechs Parteien, darunter die NPD, haben offensichtlich kaum Chancen.Gleichwohl können sich unsere Leser auch ausführlich in allen Partei-Programmen informieren. Der Wahl-O-Mat wird bald auf unserer Internet-Seite wieder Tausenden von Lesern die Chance geben, ihre eigenen politischen Anschauungen mit denen der Parteien in Thüringen – also auch der NPD – zu vergleichen.
Mit Verwunderung habe ich Ihre Belehrung zu Pressefreiheit gelesen. Pressefreiheit in einer Demokratie erlaubt, ja fordert und fördert sogar subjektive Einschätzungen.
Wenn Sie subjektive und private politische Meinungen als „Beeinträchtigung“ ansehen, wollen Sie faktisch die Pressefreiheit abschaffen. So verfahren Sie auch: Die NPD verhindert immer wieder Berichterstattung von ihren Parteitagen.
Sie bemühen als Feind unserer Verfassung die Pressefreiheit, um sie abzuschaffen – so wie sie es mit den meisten unserer Grundrechten tun wollen. Jeder Redakteur der TA dagegen schätzt und schützt unsere Verfassung. Wir werden nicht untätig zusehen, dass Sie dies verhindern wollen.
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Thüringer Allgemeine 9. August 2014
Wenn Dämme brechen und Leute ihr Haustier heiraten (Friedhof der Wörter)
In Deutschland gibt es vergleichsweise wenige Dämme. Sie schützen Mensch und Schaf gerade mal an großen Flüssen und am Meer. Dennoch ist ein Sprachbild, besonders bei Politikern, sehr beliebt: Der Dammbruch. „Wir sind ein Volk von Deichbeauftragten“, macht sich der Mainzer Verfassungsrichter Friedhelm Hufen über den Deich in der öffentlichen Diskussion lustig.
Aber das Bild ärgert ihn auch, zu Recht. Wer vor dem Dammbruch warnt, will nicht mehr diskutieren und begründen: Er malt den Weltuntergang an die Wand, wenn es um Designer-Babys, Einwanderung oder Homo-Ehe geht – und unterstellt, dass der Mensch nicht mehr eingreifen kann wie bei einer unbeherrschbaren Sturmflut.
„Der drohende Dammbruch gehört zum Lieblingsritual pseudointellektueller Gruselrunden“, urteilt der Jura-Professor und argwöhnt, dass Risiken dramatisch überzeichnet und Chancen von vornherein negiert würden. Diese „Pseudo-Intellektuellen“ seien selbsternannten Vormünder, die die Vernunft des Einzelnen durch ihre eigene Entscheidung ersetzen wollen: „Gegenüber Dammbruch und Katastrophe wird dann der vorsichtige Hinweis auf individuelle Freiheiten und die Begründungsbedürftigkeit von Freiheitseinschränkungen zum Verstummen gebracht.“
Der Blogger Michael Hohner zitiert in Ratio Blog ein blödes, aber offenbar verbreitetes Dammbruch-Argument: „Wenn Schwule heiraten dürfen, dann müssen wir auch Leute ihre Haustiere heiraten lassen oder ihr Auto, und dann bricht die Gesellschaft zusammen.“ Für ihn sind Dammbruch-Argumente ein „Fehlschluss“, von denen er 32 aufzählt.
In der englischen Sprache spricht man von der schiefen Ebene, dem „Slippery Slope“; andere deutsche Bilder sind der Domino- und Lawinen-Effekt und die „Spirale der Gewalt“.
Beerdigen wir also die „schiefen Ebenen“ und zuerst den „Dammbruch“ und lassen Immanuel Kant zu Wort kommen, den Philosophen des mündigen Bürgers – den auch der Verfassungsrichter zitiert:
Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, so brauche ich mich ja selbst nicht zu bemühen.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. Juli 2014 (hier erweiterte Fassung)
Erdbeeren! Diffamierung! Rufmord! Was ist eine gute Recherche?
Was ist das für eine Zeitung? Was ist die Autorin für eine Journalistin, dass sie nicht mitbekommt, dass sich die Zeitung auf das Niveau einer offensichtlichen Fehde herablässt. Hier soll gezielt durch eine Person und aus privaten Gründen ein Betrieb diskreditiert und Rufmord über die Medien versendet werden… Wir machen schnell erst einmal eine Diffamierung – das kommt beim Leser gut an – um dann zu schreiben: Das war aber eine Luftnummer!
So empört sich eine Leserin der Thüringer Allgemeine über eine Berichterstattung über einen Erdbeerhof: „Abgekippte Erdbeeren und eine Anzeige gegen Unbekannt“. Weiter schreibt die Leserin:
Wenn Ihre redaktionelle Mitarbeiterin einen guten und damit auch wertneutralen Journalismus betreiben würde, hätte sie längst mitbekommen, dass sie zum Spielball einer Person instrumentalisiert wurde… Zur Auflagensteigerung rate ich Ihnen zu 2 x wöchentlich barbusigen Damen auf der vorletzten Seite, das macht die ,große Schwester‘ auch.
Der Chefredakteur antwortet der Leserin in seiner Samstag-Kolumne auf der Leser-Seite:
Es gibt Regeln für einen guten Journalismus oder, um in Ihren Worten zu bleiben, für eine wertneutrale Recherche:
1. Frage alle, die zum Thema etwas Wesentliches zu sagen haben!
Unsere Redakteurin fragte:
> Einen zweiten Ostbau-Betrieb: Wie gehen Sie mit Früchten um, die Sie nicht verkaufen können?
> Das Landratsamt, bei dem die Anzeige eingegangen ist.
> Den Landesverband Gartenbau.2. Frage vor allem den, der angegriffen wird!
Schon in der Unterzeile der Überschrift steht: „Geschäftsführung vermutet Kampagne gegen das Familienunternehmen.“ Gleich in den ersten Absätzen kommt der Geschäftsführer ausführlich zu Wort.3. Bleibe sachlich, vermische nicht Nachricht und Kommentar!
Im gesamten, etwa 120 Zeilen langen Artikel finden Sie nicht eine kommentierende Zeile, keine wertenden Adjektive. Die Redakteurin überlässt dem Leser das Urteil.4. Mach Dir selber ein Bild!
Unsere Redakteurin reagierte auf den Vorwurf eines Lesers, die Arbeiter verrichteten ihre Notdurft im Freien: Sie sah zwei Toilettenhäuschen direkt und in ausreichender Entfernung zum Feld.Die Recherche hält sich also vorbildlich an die Regeln: Es kommt jeder zu Wort!
Eine andere Frage ist: War die Kompostierung der Erdbeeren überhaupt ein Thema für die Zeitung? Darüber lässt sich stets streiten. Doch wenn mehr als ein Dutzend Anrufe und Mails zu einem Thema in der Redaktion eingeht, dürfen wir von einem allgemeinen Interesse ausgehen.
Ein Artikel ist dann auch im Interesse des Geschäftsführers, über dessen Arbeit Gerüchte wabern: Er kann für Klarstellung sorgen!
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Thüringer Allgemeine 5. Juli 2014
Was antwortet man einem Leser, der die Zeitung wegen „grottenschlechter Leserbriefe“ abbestellt
Mir gefallen die Leitartikel auf der Titelseite, aber ich möchte die Zeitung nicht länger lesen – weil mir die Kommentare anderer Leser ärgern: „Oft grottenschlecht unter dem Stammtischniveau.“ So schreibt ein Leser der Thüringer Allgemeine, und so antwortet der Chefredakteur:
Es wäre blamabel für uns Redakteure, wenn wir unsere Kommentare nicht gut formulieren, logisch begründen und pointiert zuspitzen könnten. Das ist unser Handwerk.
Die meisten Leser haben anderes zu tun, als sich den gesamten Tag über mit den kleinen Wirren im Thüringer Kabinett und den großen Wirren der Welt zu beschäftigen. Aber sie bilden sich eine Meinung dazu, und diese Meinung hat in einer Demokratie einen Wert – unabhängig ob einer Redakteur ist oder Professor, Angestellter oder Arbeitsloser.
In feudalen Zeiten, ob im Kaiserreich oder unter roten Zaren, haben die Mächtigen bestimmt, was das Volk zu denken hatte – und Journalisten, als Propagandisten der Macht, gaben das vorbestimmte Denken weiter. In einer Demokratie gibt es keinen, der das Denken vorschreiben kann.
Zu SED-Zeiten hieß unsere Zeitung „Das Volk“, aber das Volk kam nicht zu Wort. So haben wir vor fünf Jahren, zum 20. Jahrestag der neuen „Thüringer Allgemeine“, die Leser-Seite eingeführt. Denn eines der großen Anliegen der Revolution war: Wir lassen uns den Mund nicht verbieten! Wir wollen wissen, wie die anderen denken – auch wenn sie anders denken!
Aufgabe von Redakteuren ist auch, eine Auswahl zu treffen und das Gespräch der Leser zu moderieren. Deshalb prüfen wir schon, welche Briefe auf dieser Seite erscheinen – nach diesen Regeln:
> Wir wählen die Briefe nicht nach unseren Vorlieben aus, auch wenn es der Redaktion bisweilen schwer fällt. Vielmehr kommt jedes Thema, das unsere Leser offensichtlich bewegt, in die Zeitung.
> Wir manipulieren nicht: Kommen etwa zur „Ukraine“ zehn Briefe, die Putin verehren, und fünf Briefe, die ihn kritisieren, dann stehen Briefe im Verhältnis 2:1 in der Zeitung.
> Wir ignorieren Beleidigungen und falsche Behauptungen, Schmähungen und üble Nachrede – wohl wissend, wie schmal der Grat ist. Dies ist der entscheidende Unterschied zu den Internet-Kommentaren, die in der Tat meist schwer zu ertragen sind.
> Wer Kritik übt, darf allerdings scharf formulieren, darf übertreiben, darf sich der Mehrheit widersetzen, darf grottenschlecht formulieren. Die Meinung ist frei.Eine Meinung verschwindet übrigens nicht, wenn sie nicht öffentlich wird. Spätestens bei einer Wahl wird sie sichtbar, denn in einer Demokratie hat jeder Bürger eine Stimme.
Diese Seite der Leser hat zudem einen unschätzbaren Vorteil: Unsere Leser kommen untereinander ins Gespräch, sie sprechen und widersprechen, bisweilen gar nicht nett. Unlängst schrieb eine Frau einem Leser zu seinem Internet-Kommentar:
„Ich heiße Sie in meiner ehemaligen Heimat Kasachstan willkommen heißen, um Ihnen einen Einblick in die ausländische Willkommenskultur zu ermöglichen. Dort ist jeder willkommen, auch einer wie Sie mit verquerem Denken, unlogischen Argumenten und brauner Propaganda.“ Recht so.
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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“ 28. Juni 2014 (hier ausführlichere Fassung)
Ironie ist in der Zeitung (leider) nicht erlaubt (Zitat der Woche)
Ironie, die Geliebte der Melancholie, dient als Schutzschild gegen Floskeln und dünngehechelte Weissagungen.
Kerstin Hensel in einer Interpretation ihres Gedichts „Was sein oder wieder“ (FAZ, Frankfurter Anthologie, 28. Juni 2014).
„Statt Prophetie wähle ich Ironie“, schreibt sie noch. Trotz dieser herzerwärmenden Definition bleibt es dabei: In der Zeitung ist Ironie nicht erlaubt; die meisten Menschen haben zwar ein Herz, aber keine Ironie.
Was wären Zeitungen ohne den Verrat? (Zitat der Woche)
Ohne Verrat, ohne zum Verrat bereite Zeitungen taugt die beste Regierung nichts.
Willi Winkler in der SZ vom 31. Mai zu einem Kommentar der New York Times (Online): Michael Kinsley, „Die globale Überwachung“ von Glenn Greenwald besprechend, hatte sich gegen Snowden positioniert und der Regierung allein die Entscheidung zugewiesen, Geheimnisse bekannt zu machen. Das sei nicht Aufgabe und Recht der Presse. Kinsleys Begründung: Niemand hat die New York Times gewählt.
Margaret Sullivan ist Public Editor des NYT, eine Art Ombudsfrau („Mittler zwischen Zeitung und ihren Lesern“): Sie tadelte die Redaktion wegen der einseitigen Rezension des Buchs.
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