Alle Artikel der Rubrik "Lexikon unbrauchbarer Wörter"
Marietta Slomka ist Moderatorin des „Heute Journal“. Foto: ZDF
Marietta Slomka, Moderatorin des „Heute-Journal“, bewirbt die renovierte „ZDFheute-App“: Sie komme daher in Form einer „Timeline“; so wirbt der Sender auch auf seiner Internet-Seite. Der Anglizismus ist überflüssig: Es gibt ausreichend Wörter unserer Sprache, die auch junge Leute verstehen und mögen: Zeitleiste, Zeitstrahl oder Chronik.
Journalisten, die unsere Sprache prägen, nutzen gerne und vorschnell Begriffe aus dem amerikanischen Wörterbuch. Der Medien-Professor Stephan Ruß-Mohl moniert im „Tagesspiegel“ das „Wortungeheuer Paywall“ und stellt klar, dass sich Journalisten damit selber schaden:
Wer in einer offenen Gesellschaft Mauern baut, ist ein Finsterling. Das galt zumindest im Zeitalter vor Donald Trump. Nur ist halt bisher niemand auf die Idee gekommen, die Ladentheke beim Bäcker oder die Kasse im Supermarkt als Mauer oder Bezahlschranke zu beschreiben. Die Paywall diskreditiert als Wortschöpfung bereits das Anliegen, dass geistige, sprich: journalistische Leistung ihren Preis haben sollte.
Wörter fallen nicht vom Himmel. Selbst fromme Bürger, die eh einer aussterbenden Spezies angehören, glauben nicht mehr, dass Gott oder ein anderes höheres Wesen in unsere Sprache hineinfährt wie ein Blitz.
Wörter werden gemacht, zum Beispiel von Journalisten, zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung, unserer bedeutendsten nationalen Zeitung. Im Leitartikel der Samstag-Ausgabe erfindet Heribert Prantl gleich zwei neue Wörter und bietet dem staunenden Leser drei Spezialbegriffe an, die dort am besten aufgehoben sind, wo sie hingehören: In die Fachsprachen oder dem Reservat der Bildungshuberei.
Wissen Sie, was „Aberratio“ bedeutet? Oder „ „incidenter“, ohne in einem Lexikon nachzuschlagen? Die Fragen dürften in einem TV-Quiz zu den Millionen-Preisfragen zählen. Also –
Aberratio können zumindest humanistisch Gebildete enträtseln: Das lateinische Wort kreist um den Irrtum. Vor allem Menschen, die gerne ihre Bildung vorzeigen, nutzen die alten Vokabeln und zeigen ihre Überlegenheit, indem sie das Wort für die Ungebildeten gleich übersetzen: ein großer Bohei, ein großer Irrtum.
Heribert Prantl nutzt gleich drei Wörter für einen Irrtum in einem einzigen Satz seines Leitartikels!
- Bohei aus der Umgangssprache – ein Wort, das der Duden erst vor zwölf Jahren auflistete;
- Irrtum aus der Alltagssprache und
- Aberratio, das der Duden den Fachsprachen zuordnet.
Incidenter stammt auch aus dem Lateinischen, zählt zum Bestand der Bildungshuberei, hört sich bedeutend an, bedeutet aber nur „beiläufig“ – also etwas, was man am Rande erwähnt.
Rezivilisierende Wirkung ist eine klassische Neuschöpfung, die allerdings nur schwer zu enträtseln ist. „Zivilisieren“ ist eine Art Integration: Wie bringe ich Fremden unsere westliche Kultur bei? Das „Re“, das Zurück, wäre also die Umkehr der Zivilisation, die Rückkehr in den alten Zustand der Barbarei.
Wer will das? Was soll es bedeuten in dem Satz:
Ein NPD-Verbot schon im Jahr 2003 hätte vielleicht eine gewisse rezivilisierende Wirkung (auf die rechtsradikale Szene) gehabt.
Aber wahrscheinlich ist nur die Wortschöpfung missglückt: Streichen wir das Wort, damit es nicht eines Tages im Duden auftaucht.
Dresdner Republik ist eine neue, eine polemische Schöpfung: So würde die Bundesrepublik sein, wenn Pegida herrschte oder die AfD. Es ist ein fieses Wort: Es suggeriert, dass die Mehrheit der Dresdner und der Ostdeutschen so denken wie eine Pegida-Anführerin, die auf einer Kundgebung zur Gewalt rief:
Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, würden sie diese volksverratenen Eliten aus den Parlamenten, den Gerichten, den Kirchen und den Pressehäusern prügeln.
„Dresdner Republik“ erinnert an „Weimarer Republik“, die zu schwach war und Hitler an die Macht brachte. Wir sollten die „Dresdner Republik“ schnell wieder vergessen.
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Thüringer Allgemeine, erweiterte Fassung der Kolumne „Friedhof der Wörter“ vom 7. März 2016 (geplant)
Quellen:
Die deutsche Sprache gehört nicht den Deutschen allein. So wählen nicht nur die Österreicher ihr eigenes Wort des Jahres, auch die Schweizer. Zu Recht, denn der „Einkaufstourist“ hätte in Deutschland keine Chance – es sei denn am östlichen Rand unserer Republik, von dem die Einkaufstouristen aus Sachsen, Brandenburg und Vorpommern nach Polen fahren, um billige Zigaretten zu kaufen und billig zu tanken. Auch aus Berlin fahren sie schon zum Haareschneiden oder preiswerten Beerdigen ins Nachbarland.
Nur – wie kommen die reichen Schweizer auf den „Einkaufstouristen“? Die Deutschen in der südwestlichen Ecke schreckten auf, als plötzlich Tausende von Schweizern im „Aldi“ die Regale leer räumten. Weil der Schweizer Franken nicht mehr an den Euro-Kurs gekoppelt war, konnten die Schweizer viel billiger einkaufen.
So begründet die Schweizer Jury ihr Wort des Jahres: „Die Aufnahmezentren für die Wirtschaftsflüchtlinge aus der Schweiz sind die Einkaufszentren von Konstanz bis Lörrach. Das Wort des Jahres 2015 ist Einkaufstourist.“
Die Schweizer leben in einem kleinen bergigen Land und bleiben gerne unter sich, aber im vergangenen Jahr drehte sich ihre Sprache um den Rest der Welt. „Asylchaos“ ist das Schweizer Unwort des Jahres. Die Schweizer sind von deutschen Verhältnissen weit entfernt, so dass die Jury auch begründete: „Dass wir in der Schweiz ein Asylchaos hätten, ist eine Behauptung, mit der im Wahljahr Ängste geschürt wurden. Denn die sogenannte Flüchtlingswelle ist ja weitgehend an der Schweiz vorbeigegangen.“
Den Satz des Jahres könnten wir uns im Weltmeister-Land Deutschland von den Schweizern borgen: „Eine WM kann man nicht kaufen“, sprach der Schweizer Sepp Blatter, als er noch Fifa-Präsident war. Die Jury konnte sich Ironie nicht verkneifen: „Beeindruckt hat uns, mit welchem Trotz Sepp Blatter allen Enthüllungen im Jahr 2015 widerspricht.“
Weil Schweiz und Geld meist in einem genannt werden, wählen die Schweizer auch ein Finanzwort des Jahres: „Frankenschock“ – womit der Schock gemeint ist, der die Schweizer als „Einkaufstouristen“ nach Deutschland trieb.
Und das deutsche Finanzwort des Jahres? Es sollte auch gewählt werden! Mein Vorschlag fürs vergangene Jahr: „VW-Abgas-Manipulation“; wahlweise kann Manipulation ausgetauscht werden mit „Abgas-Affäre“ oder „-Skandal“. „Dieselgate“ wäre kurz und heftig, aber recht unverständlich für die meisten Diesel-Fahrer.
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Thüringer Allgemeine, 25. Januar 2016, Friedhof der Wörter, Seite 12 – erweiterte und redigierte Fassung
Die Österreicher sprechen deutsch, aber sie trauen den Deutschen nicht mehr, wenn es um das „Wort des Jahres“ geht. Sie wählen ein eigenes und haben 2015 die bessere Wahl getroffen: „Begrüßungskultur“. Man mag „Seid nett zu den Fremden!“ gut oder schlecht finden, aber das Wort beherrschte die Debatte des Jahres, drang erst in die Schlagzeilen der Zeitungen vor, dann in den Wortschatz der Politiker und schließlich in unsere Alltagssprache.
Schwer zu entdecken ist, wer das Wort erfunden hat, zumal es aus zwei lange gebräuchlichen Wörtern zusammengesetzt ist. Seitdem die Kultur schon mit dem Beutel vermählt wurde, muss sie für alles Mögliche ihren Namen hingeben. Hundert und mehr Zusammensetzungen sind bekannt von der Pop-Kultur über die Mono-, Nackt-, Primitiv- bis zur Urnenfelder-Kultur.
Zu Flüchtlingen, dem Thema des Jahres auch in Österreich, passt dort auch das Unwort des Jahres: „Besondere bauliche Maßnahmen“, von denen die Innenministerin sprach, um nicht vom Grenz-Zaun sprechen zu müssen an der Grenze zu Slowenien.
Warum sind die Österreicher klüger bei der Wahl zu den Wörtern des Jahres? Nicht ausschließlich Wissenschaftler und Experten, die dem Alltag vielleicht schon entrückt sind, wählen wie in Deutschland, sondern die Bürger selber. 34.000 gaben ihre Stimme ab: Das ist zwar keine Massenbewegung, ist ein halbes Prozent der Bevölkerung, aber entspräche gut 350.000 in Deutschland – die wohl kaum für „Flüchtling“ gestimmt hätten.
Die „Lügenpresse“ ist von Dresden auch nach Wien geschwappt, so dass die Österreicher dem Wort die Silbermedaille umhängen im Wettstreit um das Unwort des Jahres. Bronze gibt es für ein besonders perfides Wort, das Manager erfunden haben, um nicht mehr von massenhaften Kündigungen sprechen zu müssen oder der Schließung von Unternehmen: „Kostendämpfungspfad“.
Das Wort führt in die Irre, meint die Jury der „Forschungsstelle Österreichisches Deutsch“. Sprache allerdings soll die Menschen verbinden, statt in die Irre zu führen.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 4. Januar 2016
Der „Fallstrick“ steht im Duden, aber kaum einer weiß noch, was ein „Fallstrick“ war: Mehrere Stricke flocht man zu einer Falle, um Ratten und Füchse zu fangen. Wenn ich heute einen Fallstrick lege, will ich einen Menschen täuschen, ihn in eine Falle locken: Die Bedeutung ist geblieben, aber es ist eines der Sprachbilder, das wir noch nutzen, ohne das Bild vor Augen zu haben.
Martin Luther kannte noch den Fallstrick und nutzte das Bild, als er die Bibel übersetzte: „Der Jüngste Tag wird wie ein Fallstrick kommen über alle auf Erden.“ Luther konnte sich darauf verlassen, dass seine Zuhörer ihn verstanden: So wie die Stricke über den Fuchs fallen, so werden sie über Dich fallen, wenn die Welt untergeht.
Journalisten und Politiker nutzen gerne Sprachbilder, um Kompliziertes verständlich zu machen.
„Lawinen kann man auslösen, wenn ein etwas unvorsichtiger Skifahrer an den Hang geht und ein bisschen Schnee bewegt. Nur wo sich die Lawine befindet, ob im Tal oder noch am Hang, das weiß ich nicht.“
Die „Berliner Zeitung“ fand die Sprachbild „schief“. Der Korrespondent des Südwestrundfunks meinte, der „Vergleich von Flüchtlingen mit einer Lawine ist daneben“ und fügte den „unpassendsten Vergleich“ hinzu: Jörg Meuthen, Co-Vorsitzender der AfD, verglich Flüchtlinge mit einem Tsunami.
Die meisten Sprachbilder aus der Natur scheitern: Lawine oder Tsunami – wie jede Naturkatastrophe – können wir nicht stoppen, ihr sind wir schutzlos ausgeliefert. Das Sprachbild suggeriert Ohnmacht. Im Gegensatz dazu steht alles, was Menschen anrichten, verändern oder dulden, in ihrer Macht: Sie müssen nur handeln wollen.
Ein Politiker, der für sein Handeln und Durchgreifen bekannt ist, sollte seinen Redenschreibern die Sprachbilder aus der Natur verbieten – und sich selbst erst recht.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 23. November 2015
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Kommentare zu Schäubles Lawinen-Vergleich:
> Neue Osnabrücker Zeitung: Bild unpassend, Sache richtig
Wolfgang Schäuble hat den Flüchtlingszustrom mit einer Lawine verglichen. Das ist zwar im Ton unpassend, in der Sache aber richtig.
> Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), Tweet: „Menschen in Not sind keine Naturkatastrophe.“
> Roland Nelles in Spiegel Online: Gefährliches Bild
Wie bitte? Wolfgang Schäuble vergleicht die Zuwanderung von Flüchtlingen mit einer Lawine? Das sind fiese Worte – aus mehreren Gründen.Wer schon einmal in den Alpen eine Lawine gesehen hat, weiß um deren zerstörerische Kraft. Lawinen wälzen alles nieder, Bäume, Häuser. Sie begraben Menschen unter sich, sie töten.
Das ist ein falsches, ein gefährliches Bild – und das sollte er als langjähriger Minister wissen. Das ist die Sprache der Aufwiegler und Fremdenfeinde. Das ist schlicht: eine Entgleisung.
> Melanie Reinisch im Kölner Stadtanzeiger: Bilder mächtiger als Wörter
Wieder einmal hat ein Politiker eine Naturkatastrophe mit Flüchtlingen verglichen. Das ist nicht neu. Oft bedienen sich Politiker – und auch Medien – bei Sprachbildern, um Themen greifbarer zu machen. Und das macht es nicht besser.
In der aktuellen Flüchtlingsdebatte spricht man häufig von Flüchtlingsflut, -strömen oder -wellen. Doch was vermittelt man mit solchen Sprachbildern? Angst. Schäuble provoziert mit solchen polemischen Äußerungen nicht nur, sondern er zeigt damit auch, dass er selbst Angst vor der Entwicklung hat. Ein Politiker sollte Menschen selbige jedoch nehmen und Ängste und Ressentiments nicht noch schüren. Bilder können eine stärkere Macht als Wörter besitzen, sie setzen sich fest in den Köpfen. Mehr Sensibilität für Sprache und Wirkung sollte nicht nur möglich, sondern zwingend sein.
> Uwe Lueb, SWR-Hauptstadt-Korrespondent: Daneben
Schäubles (CDU) Vergleich von Flüchtlingen mit einer Lawine ist daneben. Sicher, bildhafte Sprache ist gut. Aber man sollte darauf achten, was man wie sagt. An den Flüchtlingsstrom oder gar -ströme hat man sich fast schon gewöhnt. Gut ist die Wortwahl deswegen aber nicht.
Den unpassendsten Vergleich hat der Co-Vorsitzende der AfD, Jörg Meuthen, beim Landesparteitag Baden-Württemberg gewählt. Die deutsche Flüchtlingspolitik sei ungefähr so, als wolle man mit Eimern einen „Tsunami“ stoppen. Schäubles „Lawine“ kommt gleich dahinter. Sein Vergleich bestärkt nur Vorurteile von Rechtspopulisten.
Bei einer Lawine haben die Schneeflocken und Eiskristalle nämlich keine Wahl. Sie müssen mit ins Tal. Eine Lawine reißt alles mit und verschüttet, was sich nicht in Sicherheit bringt. Das tun Flüchtlinge nicht. Und sie entscheiden selbst, ob sie sich auf den gefährlichen Weg nach Europa machen. Und sie sind es, die fliehen und nicht diejenigen, die andere in die Flucht schlagen.
> Badische Neueste Nachrichten: Nicht so dramatisch
Schäubles Lawinenvergleich ist sprachlich schlecht gewählt. Falsch ist er aus seiner persönlichen Sicht aber nicht und verboten schon gar nicht… Der eigentliche Aufreger ist also nicht, dass Schäuble Flüchtlinge mit einer Lawine vergleicht, sondern dass sich Teile der Regierung so fühlen, als stünden sie vor einer.“
Der „Dreckarsch“ steht nicht im Duden, dafür die „Drecksau“, der „Drecksack“ und das „Drecknest“. Der Duden notiert, was die Deutschen so sprechen und schreiben, und distanziert sich auf seine Weise: „derb abwertend“ schreibt er in Klammern hinter solche Dreckswörter.
Im Wörterbuch der deutschen Umgangssprache hat der „Dreckarsch“, der männlichen Geschlechts ist, schon seinen Platz gefunden: „niederträchtiger Mensch“. Im Rheinischen Wörterbuch wird der „Dreckarsch“ als „schwere ehrenrührige Beleidung“ eingestuft.
Dennoch hat der „Dreckarsch“ eine Chance, in die nächste Ausgabe des Dudens aufgenommen zu werden. Immerhin hat der thüringische Ministerpräsident das Wort zwar nicht in den Mund genommen, aber per Twitter in die Welt gesandt: Berlusconi sei „ein Oberrassist und Dreckarsch“.
Berlusconi war etwas, was der Thüringer Bodo Ramelow gerne noch werden möchte: Viermal Ministerpräsident. Noch berühmter wurde Italiens Regierungschef jedoch durch seine „Bunga Bunga Partys“, auf denen auch Minderjährige mit den Herren gespielt haben sollen.
Reicht das, um ihn einen „Dreckarsch“ zu nennen? Die Bildzeitung ist nicht gerade das Zentralorgan der feinen deutschen Sprache, aber sie griff das derbe Ramelow-Wort auf und fragte: „Darf sich ein Regierungschef so äußern?“
Fragen wir Martin Luther um Rat, immerhin eine moralische Instanz seit einem halben Jahrtausend. Luther mochte es gerne derb und schätzte das, was wir streng wissenschaftlich „Fäkalsprache“ nennen: „Ich kann dem Teufel den Hintern zeigen und ihn mit einem einzigen Furz vertreiben.“
Über den Berlusconi seiner Zeit, den mächtigen Herzog Heinrich von Braunschweig, schrieb er: „Unsinniger, wütender Tyrann, der sich voll Teufel gefressen und gesoffen hat und stinkt wie ein Teufelsdreck.“
Als ich 2012 in der Festrede beim Neujahrs-Empfang der Stadt Eisenach das Zitat vorlas, erschrak das vornehme Publikum, so dass ich schnell anfügte: „Schreibt so heute ein Journalist über einen Oberbürgermeister, Minister oder Präsidenten, ruft der den Chefredakteur oder Verleger an, droht mit dem Presserat.“
So viel Scheiß war allerdings auch den Zeitgenossen Luthers schon zuwider. Johann Pistorius schrieb 1595 in den „Anatomia Lutheri“ nach der Lektüre einer Luther-Schrift: „Wie oft Luther das Wort Dreck braucht, ist nicht vonnöten nachzulesen.“ Doch ein halbes Jahrhundert später kann sich jeder Redakteur nicht nur auf Luther, sondern auch auf einen leibhaftigen Ministerpräsidenten berufen.
Noch mehr Dreck? Das Rheinische Wörterbuch listet allein 167 Drecks-Wörter auf. Eine Auswahl?
Dreckfresse, Dreckkriecher, Drecklümmel, Dreckmaul, Dreckwühler, Dreckwutz – und sogar Dreckmike, wobei die Westerwälder dabei bestimmt nicht an den Thüringer Oppositionsführer Mike Mohring gedacht haben.
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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 16. November 2015 (erweiterte Fassung)
Wer über die Einwanderung von amerikanischen Wörtern stöhnt, sucht gerne Trost bei unseren Klassikern. Goethe kam zwar nur bis Italien, aber er schwärmte von der neuen Welt:
Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.
Doch war die Sprache in Goethes Zeit nicht geprägt von Anglizismen, sondern von französischen Wörtern. Goethe kommt selten ohne ein französisches Wort daher. Am 14. November 1776 lästert er über das „Flick- und Lappenwerk“ eines Autors, möchte diesem einen Streich spielen und schreibt an Schiller:
Wenn der Spaß Ihren Beifall hat, so führe ich ihn aus; er ist, wie mich dünkt, sans replique.
Wie leicht hätte Goethe einen deutschen Begriff finden können: Ohne Widerrede! In Goethes Brief taucht auch das französische Wort „formidabel“ auf, mit dem sich ein Leser in Erfurt beschäftigt. Er las in seiner Zeitung vom Lutherjahr 2017 als „formidablem Jubiläum“ und fragt:
Hat der Autor den aus „dem Lateinischen entlehnten Begriff, der ,schrecklich‘ bedeutet, vielleicht im falschen Sinnzusammenhang oder als Beispiel ,klassischer Wortwahl‘ verwendet“?
Wörter verwandeln sich gerne, wenn sie nur weit genug von der Quelle entfernt sind. Dem Lateinischen, der Priester- und Fürstensprache des Mittelalters, verdanken wir viele Wörter, einige kamen aber erst über die französische in die deutsche Sprache.
„Formidare“ nutzte Caesar, der Feldherr, wenn er von besonders großem Schrecken berichtete. Die lateinische Bedeutung hielten die Franzosen und nutzen „formidable“ für alles, was grausig und schrecklich ist. Wir übernehmen in die deutsche Sprache fremde Wörter in ihrem ursprünglichen Sinn – um sie dann gerne zu verwandeln.Erst im späten 17. Jahrhundert wanderte „formidabel“ in unsere Sprache ein. In der „Herrschaft der Männer“, einem Buch von 1705, lesen wir:
In den Moluccischen Inseln haben sich die Weiber so formidabel gemacht, dass sie das recht absolut im Hause zu befehlen haben.
Moluccische Inseln sind offenbar die Falkland-Inseln vor Argentinien.
In Carl Lucaes „Europäischen Helicon“ von 1711 ist von einem Lehrer zu lesen:
Ehemals docierte ein solcher Schmeisser in einer Schule von mönströser Gestalt und war den Knaben höchst formidabel.
„Formidabel“ gebrauchte der preußische Generalfeldmarschall Blücher 1813 noch im alten lateinischen Sinne: „Die Armee war sehr formidabel“, als Goethe schon den Sinn in „beeindruckend“ verwandelt hatte. Der Autor eines Buchs will sich „seinem eigenem Helden formidabel machen“, schreibt er Schiller im Weimarer Herbst 1776.
Preußens berühmtester Gärtner war der Weltreisende Hermann Ludwig Heinrich von Pückler-Muskau; er schrieb 1834 in seiner „Landschaftsgärtnerei“:
Man baut in formidablem Bogen über das bescheidene Wässerchen eine Riesenbrücke.
Da hatte sich formidabel als „beeindruckend“ durchgesetzt. Im Goetheschen Sinn nutzen wir „formidabel“ noch heute; wer es im alten lateinischen Sinne verwendete, würde missverstanden.. Der Schrecken ist längst verschwunden.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. September 2015 (hier in erweiterter Fassung)
Es gibt Wörter, die sind offenbar ein Tabu: „Neger“ zum Beispiel. Als der bayerische Innenminister Joachim Herrmann den Sänger Roberto Blanco einen „wunderbaren Neger“ nannte, empörten sich viele: Er hat ein Tabu verletzt! Nur – wer verurteilt ein Wort zum Tabu?
Roberto Blanco fühlt sich nicht beleidigt: Das Wort war nicht böse gemeint. Trotzdem entschuldigte sich der Minister.
Die Linken-Abgeordnete Katharina König sprach in der Debatte um den 8. Mai als Feiertag: „Die CDU leidet offenbar an politischem Autismus“. Die CDU fühlte sich nicht beleidigt, aber Autisten empörten sich. Die Abgeordnete entschuldigte sich: „Ein unsäglicher Fehler“.
Wer verurteilt zum Tabu? Einen offiziellen Tabu-Beauftragten gibt es nicht. Meist sind es Kommentatoren in Zeitungen und im Fernsehen, die sich empören. „Rassistisch“ nannte die „Zeit“ des Innenministers „Neger“-Äußerung und Hunderte schlossen sich in Internet-Kommentaren an.
Mitunter sind auch Gruppen, wie die Autisten verletzt, wenn sie sich ausgegrenzt fühlen – auch wenn nicht sie, sondern eine politische Partei diskriminiert werden sollte. Der Tabu-Bruch der Abgeordneten fand kaum Beachtung, weil keine Zeitung darüber berichtete: Die Pressemitteilung löschte der Pressesprecher im Internet, das war’s. Herrmanns „Neger“ dagegen wuchs zur Affäre aus, weil alle Zeitungen berichteten und den Tabu-Bruch beklagten.
Die Schar der Kritiker wächst, die zwar nicht in der Regierung, aber in den „Medien“ einen Tabu-Beauftragten vermuten, der bestimmt, welche Wörter gesagt werden dürfen. Auffällig ist: Die Erregung über eine vermutete „Meinungsdiktatur“ oder „Sprach- und Gedankenpolizei“ wächst in einer Zeit, in der jeder im Internet schreiben kann, was er will.
Der Artikel 5 des Grundgesetzes kennt keine Tabus, sondern garantiert die Freiheit der Meinung. Noch nie konnten so viele öffentlich ihre Meinung äußern und über Tabus diskutieren.
Nur – ist ein Tabu noch ein Tabu, wenn jeder darüber spricht?
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 21. September 2015
Das Wort sollten Sie sich merken, auch wenn es ein englisches ist: Bullshit. Das Wort zählt nicht zur Hochsprache und bedeutet wörtlich: Bullenscheiße. Weil Bullenscheiße einfach zu vulgär ist, bleiben wir beim Bullshit.
Die meisten Kandidaten für unseren „Friedhof der Wörter“ sind Bullshit:
- Wenn die Kanzlerin „alternativlos“ sagt: Bullshit!
- Wenn ein Verkäufer den Geländewagen als „umweltfreundlich“ anpreist: Bullshit!
- Wenn „natürliches Aroma“ aus Kräuter, Blüten und Dill erzeugt wird: Bullshit!
- Wenn ein Biomarkt „anthroposophisches Gemüse, geerntet bei Vollmond“ verkauft: Bullshit!
Es gibt sogar einen Bullshit-Philosophen: Der Amerikaner Harry Frankfurt. Er warnt: Bullshit richtet mehr Schaden an als Lügen. Er schaut sich vor allem bei Politikern und Werbetextern um, in Behörden, bei Esoterikern – und bei Journalisten.
Schon Rudolf Augstein, der Gründer des Magazins „Spiegel“, war sicher: Mindestens ein Artikel jeder Ausgabe ist unverständlich. Ob unsere Zeitung eine Ausnahme macht?
In Konferenzen versuchen Redakteure, die Augstein-Regel zu durchbrechen. Aber es ist ein schier aussichtsloser Kampf: In jeder Konferenz gibt es einen, der Unsinn geschrieben hat, aber all seine Intelligenz einsetzt, ihn zu rechtfertigen. Ich bin sicher, dass dies in Unternehms-, Gewerkschafts- und Schulkonferenzen ähnlich ist, in Kabinetts-Sitzungen erst recht.
„Wir können wirklich nicht ohne Wahrheit leben“, schreibt der Bullshit-Philosoph Frankfurt. Aber ohne Bullshit werden wir nicht auskommen, meinen Tobias Hürter und Max Rauner, die Journalisten, die ein schönes Buch geschrieben haben: „Schluss mit dem Bullshit. Auf der Suche nach dem verlorenen Verstand“.
Sie raten: Lacht über den Bullshit! Stellt die Bullshitter bloß! Nehmt sie nicht ernst! Aber auch die Gegner des Bullshits kommen nicht ohne ihn aus – etwa bei einem netten Gespräch, einem Smalltalk. Dafür gibt es übrigens schon Computer-Programme, die automatisch Bullshit erfinden und Tiefgang vortäuschen.
In einem eigenen Kapitel gehen Hürter und Rauner auch auf Medien und Bullshit ein: Da gibt es den Boulevard, ohne den viele Menschen nicht auskommen – auch wenn sie das, was dort geschrieben steht, nicht glauben, erst recht ihm nicht vertrauen. Im Gegensatz zu bunten Blättern halten Hürter und Rauner die Bildzeitung für gefährlich:
Im Kern ist zumeist was Wahres dran, aber es ist bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Die Bild-Macher haben die Kunst perfektioniert, haarscharf an der Grenze vom Bullshit zur Lüge zu bleiben.
Selbst seriöse Medien geraten schnell in ein bullshitträchtiges Milieu, weil sie Nachrichten immer weiterdrehen müssen, „notfalls mit Gewalt“, weil nichts Neues zu berichten ist. Sie bedienen Sterotypen, bieten Schnipsel an statt der „ganzen Wahrheit“, befriedigen ein „tiefes menschliches Bedürfnis“: „Die Neugier. Nach der Lektüre hat man das beruhigende Gefühl, Bescheid zu wissen.“
Sie heben Rolf Dobelli hervor, den Schweizer-Bestseller-Autor, der keine Zeitungen mehr liest, diese „billigen Zuckerbonbons für den Geist“, sondern nur noch Bücher.
Man kann die Medien durchaus als Bullshit-Fabriken bezeichnen, schließen die Journalisten – und drehen sich noch einmal um die eigene Achse und zitieren den Philosophen Alain de Botton, der Bullshit preist, weil er Geschichten erzählt, „die uns mitfühlen lassen“, eben die berühmten Geschichten, die man sich seit altersher am Lagerfeuer erzählt.“Glamour ist nicht bloß lustig und albern,er ist eine wichtige Kraft des gesellschaftlichen Wandels“, sagt de Botton.
Wem dieser Medien-Bullshit zu dünn erscheint, wandere aus auf eine intellektuelle Spielwiese, die Hürter und Rauner erwähnen: Die Philosophen Mail (Philosophers‘ Mail), ein Blog, in dem Philosophen ein Jahr lang Nachrichten philosophisch erzählten (auf englisch). Den Blog haben sie beendet und beginnen einen noch aufregenderen: Das Buch des Lebens (www.thebookoflife.org) mit den sechs Kapiteln Kapitalismus, Arbeit (darin zum Beispiel: Die Leiden der Führung), Beziehungen („How to start having sex again„), Ich, Kultur und Curriculum. Lesen!
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Das Bullshit-Buch erscheint im Piper-Verlag: 304 Seiten, 16.99 Euro
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 3. August 2015 (hier erweiterte Fassung)
Der Innenminister in Baden-Württemberg ist SPD-Mitglied und Anhänger der Vorratsdaten-Speicherung. Als seine Partei auf einem Konvent über die Vorratsdaten diskutierte, schrieb er einen Tweet:
Ich verzichte gerne auf vermeintliche Freiheitsrechte wenn wir einen Kinderschänder überführen.“ (Das Komma fehlt im Original)
Immer wieder gehe ich an einem parkenden Auto vorbei, das auf der Heckscheibe propagiert:
Todesstrafe für Kinderschänder
„Kinderschänder“ ist ein Wort, das Neonazis und die NPD gerne gebrauchen; sie fangen damit auch Bürger, die weder braun sind noch NPD-Wähler, aber Gewalt gegen Kinder verurteilen (und wer tut das nicht?). Was bedeutet aber der Begriff „Kinderschänder“?
Er erinnert an einen Begriff wie „Rassenschande“ aus dem Wörterbuch der Nationalsozialisten. Der „Rassenschänder“ wie der „Kinderschänder“ sind zwiespältige Begriffe: Beide bringen Schande über den Schänder – und über den Geschändeten. Wer ein Kind „schändet“, liefert es der Schande aus; es ist befleckt – womöglich gemeinsam mit der Familie. Neben dem Leid steht auch noch der Verlust des Ansehens, der soziale Abstieg.
Zudem suggeriert der Begriff: Das Opfer der Vergewaltigung hat sich nicht gewehrt, es vielleicht sogar provoziert, es ließ sich schänden und gehört somit nicht mehr zum ehrenwerten Teil der Gesellschaft. Das Opfer wird zum zweifachen, zum ewigen Opfer
Der Blogger Sascha Lobo meint: Wer den menschenfeindlichen Begriff „Kinderschänder“ benutzt, nimmt „ein Sitzbad im braunen Schlammwasser hinter dem rechten Rand“. Ein Innenminister, der den NPD-Begriff nutzt, sei „unwürdig in einer Demokratie“.
„Um wie Könige zu prahlen, schänden kleine Wütriche ihr armes Land“, schrieb der Dichter Hölderlin in einem Gedicht. Wir brauchen „schänden“ nicht, wir können von „vergewaltigen“ oder „misshandeln“ sprechen. „Kinderschänder“ sollten wir schnell und geräuschlos auf dem Friedhof der Wörter beerdigen.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 29. Juni 2015 (geplant)