Das „Blabla“ der Politiker: Von Vorratsdatenspeicherung und Infrastrukturabgabe (Friedhof der Wörter)
In guten Zeiten gehen die Menschen in den Supermarkt und bekommen alles, was sie brauchen. In schlechten Zeiten legen sich die Menschen einen Vorrat an: Das ist klug, sagen wir, und hören den Geschichten unserer Groß- und Urgroßeltern zu, wenn sie aus den Jahren nach dem Krieg erzählen.
Wenn Politiker von Vorrats-Daten sprechen, die sie speichern, meinen sie nichts Gutes: Sie greifen nach der Freiheit der Bürger und vermuten, dass alle irgendwann etwas Böses tun. Würden sie das Gesetz aber ein Anti-Freiheitsgesetz nennen, spürten die Bürger genau das Ungemach.
„Infrastrukturabgabe“ ist auch ein Nebelwort. Politiker nennen so die Maut, also eine Steuer, die wir – früher oder später – für die Benutzung der Straßen zahlen müssen, die schon mit unserem Geld gebaut worden sind.
Vorratsdatenspeicherung und Infrastrukturabgabe sind zwei Beispiele für die Flucht in politische Sprachspiele. Von dieser Flucht sprach schon Helmut Kohl, als er vor dreißig Jahren die Frankfurter Buchmesse eröffnete: „Da werden Begriffe besetzt, umgedeutet, konstruiert, aufgebläht, demontiert.“ Diese Einsicht hinderte weder ihn noch seine Nachfolger, diese Spiele zu spielen.
Heiner Geißler, kein Freund Kohls, sondern nur ein Parteifreund, sprach vom „Blabla“ mancher Politiker – und schloss uns Journalisten gleich mit ein; er forderte: „Die Wahrheit muss deutlich gesagt werden.“
Nun ist das Gegenteil der politischen Wahrheit nicht die Lüge, sie ist selten. Wer lügt, den erwischen die Kollegen, richten einen Untersuchungsausschuss ein oder verlangen den Rücktritt. Das Gegenteil der politischen Wahrheit ist der Nebel, der uns an der freien Sicht auf die Wirklichkeit hindert.
Fordern wir also: Politiker, sprecht die Wahrheit! Ja, hören wir das Echo. Aber wenn es darauf ankommt, also bei Wahlen, Parteitagen und ähnlichen Wahrheits-Kongressen, gewinnt meist der, der im Nebel die beste Sicht hat – und Helmut Kohl folgt: „Der Kampf um Worte gerät zum Machtkampf.“
Im vergangenen Bundes-Wahlkampf war es Peer Steinbrück, der den Nebel mied, klare Positionen bezog – aber sprach, als fühle er sich im Kühlschrank wohl. Der Dresdner Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth hat während des vergangenen Bundes-Wahlkampfs in einer detaillierten Analyse die Reden Merkels und Steinbrücks verglichen: Steinbrück verzichtete auf den Nebel, aber auch auf Emotionen; Merkel nutzte die Emotionen und den Nebel.
Wir schimpfen also auf den Nebel und lassen uns doch gern von ihm einlullen.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 22. Juni 2015; erweiterte Fassung
Ein Mord ist keine Hinrichtung – Der Kampf um Worte und der Terrorismus (Friedhof der Wörter)
Nach dem Airbus-Absturz: Sehnsucht nach Betroffenheit (Friedhof der Wörter)
Ein Flugzeug stürzt ab, dabei sind viele Opfer aus Deutschland. Wie reagiert der Bundespräsident: „Mit größter Bestürzung habe ich von dem schweren Flugzeugunglück erfahren. Meine Gedanken sind bei den Familienangehörigen und Freunden der vielen Opfer. Ihnen gilt meine tief empfundene Anteilnahme.“
Es sind Worte aus dem Floskel-Repertoire: Bestürzung und Anteilnahme, alles stets groß oder größer und tief empfunden; es fehlt nur das Allerweltswort „Betroffenheit“. So oder ähnlich reagieren fast alle Politiker: Unser Vorrat an Worten für Trauer und Tod ist endlich und mittlerweile aufgebraucht. Unsere Sprache hat auch ihre Grenzen.
Offenbar meinen Politiker und Funktionäre, dass die Öffentlichkeit von ihnen Bestürzung und Betroffenheit erwartet. Dank Facebook und Twitter ahmen Tausende mittlerweile die sprachliche Hilflosigkeit unserer Politiker nach:
Gabi schreibt in Großbuchstaben: „FASSUNGSLOSIGKEIT. TRAUER“. Matthias Opdenhövel ist auch „fassungslos“ und Andy wünscht „Good night. Unsere Gedanken sind bei den Betroffenen des Flugs“ und fügt an „traurig, nur traurig“.
Wer braucht diese tausendfache Betroffenheit? Wer die Fassung verloren hat, sollte besser schweigen und – so er es kann – beten.
Es melden sich allerdings auch die Zyniker der Betroffenheit. Ines Pohl, die Chefredakteurin der taz twittert:
fast scheint es, als könnte Deutschland endlich die dringende Sehnsucht erfüllen, auch mal eine Katastrophe für sich zu beanspruchen.
Und ein Verwirrter verschwört sich schon: „Warum gibt man nicht zu, dass es ein missglücktes Manöver der US-Streitkräfte war???“ Und ein Pegidianer, der gern über die Lügenpresse schimpft, weiß, dass der Kopilot vorher zum Islam konvertiert ist.
Da bleibe ich doch lieber bei unserem bestürzten Bundespräsidenten.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 7. April 2015
Mario Schattney per Facebook am 7. April um 16:04
Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen unserer Welt(erfahrung)? Ludwig Wittgensteins Postulat: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen!
Textbausteine, Satzbaukasten, Klischees: Wenn einer schreibt wie Tausende vor ihm
Als die Zeitung noch im Bleisatz hergestellt wurde, stellten Techniker aus Papier-Fotos Druckplatten her, die Klischees; ein Klischee konnte, auch im Buchdruck, tausendfach genutzt werden. Wer vor dreißig Jahren das Wort „Klischee“ nutzte, hatte also ein reales Bild im Kopf. Wer von den Jüngeren „Klischee“ gebraucht, kennt meist nur noch den übertragenen Sinn: Abgegriffene Wörter oder Wendungen, in der Regel im abwertenden Sinn.
Lorenz Maroldt, Chefredakteur des Tagesspiegel, nutzt in seinem formidablen Newsletter „Checkpoint“ den Begriff „Satzbaukasten“, auch ein Bild aus der alten Druckersprache des Bleisatzes. Als Beispiel nennt er den BZ-Kolumnisten Ulrich Nußbaum mit seiner Kolumne, aus der er zitiert:
> „Mächtig auf den Senkel“,
> es „tickt die Uhr“,
> der „Kapitän muss auf die Brücke“,
> da zittert die Politik (fragt sich nur, vor was, wirft Maroldt ein).
Und als Klimax: „Wer Schultoiletten zur Chefsache macht, der kann bei Olympia nicht kneifen“. Maroldt kommentiert: „Zum Start (der Olympia-Kolumne) ein Griff ins Klo.“
Klischee, Satzbaukasten – und noch ein dritter Begriff für abgegriffene und damit nichtssagende Wendungen: Textbaustein – der moderne Begriff aus der Word-Familie. Man legt in einen Speicher Wörter und Sätze ab, die man beliebig oft nutzen kann, ohne Aufwand und meist ohne Verstand.
Pegida und die Sprache der Politik: Redet so, dass wir euch verstehen! (Friedhof der Wörter)
Ob man die Demonstranten mag oder nicht: Pegida hat den Unmut in die öffentliche Debatte befördert. Wir sprechen wieder über Politik.
Aber hat der Unmut nur mit dem Inhalt von Politik zu tun, mit Fremden, dem Islam und anderen Themen? Oder auch mit der Sprache der Politiker?
Die Ebert-Stiftung hat über dreißigtausend Jugendliche befragt: Warum tut ihr euch so schwer mit der Politik? Warum gehen immer weniger zur Wahl?
Das Interesse an der Politik ist viel höher, als wir vermuten. Acht von zehn jungen Leuten stimmen dem Satz zu: „Ich finde es wichtig, dass sich Menschen mit Politik auseinander setzen“. Und woran scheitert das Interesse? An der Sprache der Politiker: Unverständlich, mit Fremd- und Kunstwörtern sowie Beschönigungen durchsetzt; so klagen fast achtzig Prozent der jungen Frauen und fast siebzig Prozent der Männer. Dies sind einige der Beispiele, die Berufsschüler wählten:
> Das heißt nicht Nullwachstum, das heißt Stagnation.
> Warum heißen Hausmeister Facility Manager?
> Früher hat man von einem Ausländeranteil gesprochen und jetzt spricht man von Migrationsanteil. Wofür jetzt diese Schönrednerei?
Spricht Pergida verständlicher? Schauen wir uns die Forderungen an:
> Was ist „christlich-jüdisch geprägte Abendlandkultur“?
> Was sind „Parallelgesellschaften“?
> Was bedeutet „Genderisierung“?
„Redet so, dass wir euch verstehen!“, fordern nicht nur junge Leute – auch von Zeitungen. Knapp die Hälfte hält die Sprache der Redakteure für zu kompliziert.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 16. März 2015
„Putin-Versteher“ , nicht „Lügenpresse“ war Unwort-Favorit des Publikums (Friedhof der Wörter)
„Lügenpresse“ ist das Unwort des Jahres. Es ist eine gute Wahl, denn ohne unabhängige Presse verwandelt sich eine Demokratie in eine feudale Herrschaft derjenigen, die mit Macht oder Geld dem Volk vorschreiben, was es wissen darf und denken soll.
Erfüllt die Presse ihre Aufgabe nicht oder nur teilweise, wird es in einer Demokratie immer ein Forum für Kritik, Widerspruch und Aufklärung geben – bei fast 17 Millionen Tageszeitungen, die täglich verkauft werden. Zu Recht begründet die Jury: „Eine pauschale Verurteilung verhindert fundierte Medienkritik und leistet somit einen Beitrag zur Gefährdung der Pressefreiheit.“
„Lügenpresse“ war aber nicht der Favorit der über tausend Bürger, die ihre Vorschläge eingereicht haben, ja stand noch nicht einmal auf den vorderen Rängen. Das Publikum stimmte so ab – und jeder kann so seinen eigenen Favoriten wählen:
1. Putin-Versteher / Russland-Versteher (dies Unwort kam bei der Jury immerhin in die engere Wahl wie auch „Erweiterte Verhörmethoden“ für Folter)
2. PEGIDA / Patriotische Europäer gegen Islamisierung des Abendlandes
3. Social Freezing
4. Tierische Veredelung / Veredelungsindustrie / Veredelungswirtschaft
5. Gutmensch / Gutmenschentum
Ob die Jury, mehrheitlich in Professoren-Hand, beim nächsten Mal auch einen Publikums-Favoriten auszeichnet?
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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 19. Januar 2015
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Die Jury:
Prof. Dr. Nina Janich/TU Darmstadt (Sprecherin), PD Dr. Kersten Sven Roth (Universität Düsseldorf), Prof. Dr. Jürgen Schiewe (Universität Greifswald) und Prof. Dr. Martin Wengeler (Universität Trier), Stephan Hebel (Journalist), Christine Westermann (Journalistin, als jährlich wechselnder Gast)
Die Begründungen der Jury:
„Lügenpresse“ war bereits im Ersten Weltkrieg ein zentraler Kampf-
begriff und diente auch den Nationalsozialisten zur pauschalen Diffamierung
unabhängiger Medien. Gerade die Tatsache, dass diese sprachgeschichtliche
Aufladung des Ausdrucks einem Großteil derjenigen, die ihn seit dem letzten
Jahr als „besorgte Bürger“ skandieren und auf Transparenten tragen, nicht
bewusst sein dürfte, macht ihn zu einem besonders perfiden Mittel derjenigen,
die ihn gezielt einsetzen. Dass Mediensprache eines kritischen Blicks bedarf und
nicht alles, was in der Presse steht, auch wahr ist, steht außer Zweifel. Mit dem
Ausdruck „Lügenpresse“ aber werden Medien pauschal diffamiert, weil sich die
große Mehrheit ihrer Vertreter bemüht, der gezielt geschürten Angst vor einer
vermeintlichen „Islamisierung des Abendlandes“ eine sachliche Darstellung
gesellschaftspolitischer Themen und differenzierte Sichtweisen entgegen-
zusetzen.„Erweiterte Verhörmethoden“
ist aktuell geworden durch den CIA Bericht 2014; der Begriff hat sich in der Berichterstattung zu einem dramatisch verharmlosenden Terminus Technicus entwickelt. Der Ausdruck ist ein Euphemismus, der unmenschliches Handeln, nämlich Folter, legitimieren soll. Auch wenn er in deutschen Medientexten in distanzierenden Anführungszeichen steht, dient er letztlich dazu, das in seiner Bedeutung sehr klare Wort „Folter“ zu umgehen. Dass man sich die Sprache der Täter mit dieser Übernahme zu eigen macht und damit akzeptiert, ist bedauerlich.„Russland-Versteher“
Zum Unwort wird dieser in der aktuellen außenpolitischen Debatte gebrauchte Ausdruck vor allem, weil er das positive Wort „verstehen“ diffamierend verwendet (und zwar ohne die Ironie, wie sie beispielsweise hinter der analogen Bildung des „Frauen-Verstehers“ steht). Wie Erhard Eppler im in seinem kritischen Essay „Wir reaktionären Versteher“ (Spiegel 18/2014 vom 28.04.2014) darlegt, sollte das Bemühen, fremde Gesellschaften und Kulturen zu verstehen, Grundlage einer jeden Außenpolitik sein, weil die Alternative nur Hass sein kann. Eine fremde Perspektive zu verstehen, bedeutet keinesfalls, damit zugleich Verständnis für daraus resultierende (politische) Handlungen zu haben. Andere polemisierend als „Versteher“ zu kritisieren, ist damit unsachlich und kann die inhaltliche Diskussion nicht ersetzen. Ein ganzes Volk zudem pauschal für eine politische Richtung haftbar zu machen und es mit dem Ausdruck „Putin-Versteher“ auf einen Autokraten zu reduzieren, zeugt von mangelnder Sprachreflexion oder aber gezielter Diffamierung.
Das Jugendwort 2014, endgültig: „Läuft bei Dir“ (Friedhof der Wörter)
Regen Sie sich gerne auf, wenn sich junge Leute „cool“ geben? Was man „kuhl“ ausspricht. Immer diese englischen Wörter! – regt sich auf, wer ein Liebhaber der deutschen Sprache ist.
Doch damit ist, zumindest in diesem Jahr, Schluss. Das Jugendwort des Jahres ist kein Anglizismus wie „Swag“ oder „Yolo“, die vor zwei und drei Jahren vorn lagen, auch kein türkisches Wort wie „Babo“, das im vergangenen Jahr gewann, sondern ein deutscher Satz: „Läuft bei Dir“.
Wer seine Jugend nur noch von vergilbten Fotos kennt, wird trotzdem den Kopf schütteln: „Die Jugend von heute!“ Der Satz ächzt unter der Last der Grammatik, aber so sind die jungen Leute: Sie erfinden neue Wörter und Wendungen, schräge und unkonventionelle – mit denen sich die Jungen gut verständigen. „Läuft bei Dir“ ist einfach die Jugend-Übersetzung von „cool“
Jugendsprache soll eben von der Sprachwelt der Erwachsenen abgrenzen, soll für die Alten unverständlich sein. Und wenn sie sich aufregen: Umso besser! Wer wollte es ihnen verbieten?
Jugendsprache ist oft auch böse, verletzend und politisch unkorrekt. Aber da passen schon die Erwachsenen auf, dass solch ein Wort nicht zum Jugendwort des Jahres gekürt wird. Der Langenscheidt-Verlag, der die Wahl organisiert, lässt erst Jugendliche im Internet abstimmen, ehe eine Jury aus Journalisten, Wissenschaftlern und ein paar Jugendlichen das letzte Wort hat.
Wie schon in diesem Blog berichtet: Nur 12 Prozent der Jugendlichen stimmte für „Läuft bei Dir“, aber 46 Prozent für „fappieren“ – ein Anglizismus: to fap bedeutet im Englischen onanieren. Da haben die Erwachsenen gut aufgepasst.
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Thüringer Allgemeine, 24. November 2014
Nachrichten-Quelle für das Jugendwort des Jahres: Focus-Online 23.11.2014
Chefredakteure, die ihre Redaktion führen wie eine Strafkompanie: Nachruf auf Spiegel-Chef Becker
Die harten Chefredakteure, die „Piss-Geschichte“ mit grüner Tinte auf ein Manuskript schreiben, die ein raues Klima schaffen, eben eine Galeeren-Atmosphäre erzeugen – die werden gerühmt, wenn sie in den Ruhestand gehen, erst in den vorläufigen, dann in den ewigen. Ob da bei den Nachruf-Schreibern auch ein wenig Stolz dabei ist: Ich habe ihn überlebt! Ich bin stark!?
Hans Leyendecker, Chefreporter der Süddeutschen Zeitung, ist einer der besten deutschen Journalisten, ein ruhiger Kollege, keiner aus der „Strafkompanie des deutschen Journalismus“ wie Hans Detlev Becker, auf den Leyendecker einen bewegenden Nachruf schreibt. Becker war lange beim Spiegel, fing 1947 an, in den Gründerjahren also, und schied 1983 aus, nachdem er sich mit Rudolf Augstein überworfen hatte; er war Redakteur, Chefredakteur und später Verlagsdirektor.
Selbst die ruhigen Journalisten schätzen offenbar die harten Chefs: Kann man von ihnen am meisten lernen? Es klingt wie eine Aufforderung, die Härte zu suchen, die Quäler im Volontariat, wenn Leyendecker seinen Nachruf beginnt:
Manchmal klagen junge Journalisten, der Ton sei so rau, das Klima. Sie hätten mal unter Hans Detlev Becker arbeiten sollen… Ein Orden. Eine Galeere.
Was zeichnet einen harten Chef aus? Er bringt „den richtigen Zug und den knappen Stil ins Blatt“; er sorgt dafür, „dass der Apparat immer funktioniert“. Das klingt bei Leyendecker, der selber lange beim Spiegel war, wie ein Hieb auf die, die heute das Sagen beim Spiegel haben.
Heinz Egleder war Dokumentarist beim Spiegel und hat Becker über Jahrzehnte erlebt. Er ernennt im Nachruf auf Spiegel Online Becker zum ersten deutschen Enthüllungsjournalisten, der in den „Ehrenkodex“ für seine „undisziplinierte Redakteursbande“ schrieb:
1. Die Berichte sind „mit Vergnügen und ohne Mühe lesbar“;
2. sie müssen unbedingt stimmen (so dass er die Dokumentation gründete, die heute noch jede Tatsachenbehauptung prüft);
3. sie dürfen keine Unwörter enthalten, so dass er einen Index schrieb mit der Liste aller Wörter, die nicht im Spiegel stehen durften.
Becker starb am 2. November 2014 mit 93 Jahren.
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Quelle: Süddeutsche Zeitung 15. November / Spiegel Online 15. November
Das Goethe-Institut und die deutsche Sprache – wie Feuer und Wasser (Friedhof der Wörter)
Welche Rolle spielt die deutsche Sprache in unserem Berufsleben? Diese Frage will das Goethe-Institut beantworten und lädt zu einer Tagung: „Sprache. Mobilität. Deutschland.“
Wer das Programm durchliest, wähnt sich in einem Test: Verstehen Sie deutsch? Zum Beispiel: Was bedeuten diese beiden Wörter:
> Zirkuläre Migration;
> dichotomische Wahrnehmung.
Ein türkischer Gastarbeiter arbeitet in Deutschland, kehrt in seine Heimat zurück und kommt wieder nach Deutschland: Er pendelt zwischen den Ländern ebenso wie ein polnischer Professor, der in jedem Jahr zur Spargel-Ernte nach Thüringen kommt: Beide sind zirkuläre Migranten, Pendler oder Wanderarbeiter.
Steffen Angenendt arbeitet für die Stiftung „Wissenschaft und Politik“ mag den Begriff „zirkuläre Migration“ nicht:
In der politischen Debatte ist weitgehend unklar, was unter zirkulärer Migration verstanden werden soll und dementsprechend unterschiedlich sind auch die Antworten.
Nur – warum bedient sich das Goethe-Instiutut eines Spezial-Begriffs, den selbst ein Experte als unklar bezeichnet?
Ähnlich fragen wir nach der Dichotomie, die nicht unklar, aber schwer verständlich ist, ein Spezialwort eben. Dichotomisch ist Yin und Yang, Mann und Frau, Feuer und Wasser, Erfurt und Jena, Gut und Böse, Schwarz und Weiß – also alles, was zusammengehört und doch unterschiedlich ist.
Wer, wenn nicht das Goethe-Institut, sollte verständlich sein? Sollte Gespräch oder Diskussion statt „Diskurs“ wagen, Forum oder Arbeitsgruppe statt „Panel“ sagen und nicht endlose Folgen von Hauptwörtern aneinanderreihen.
Es lohnt sich von Goethe zu lernen; er spricht von den Quellen der Sprache:
Sie sollten in ihrer Heftigkeit auch etwas Bergschutt mitführen – er setzt sich zu Boden und die reine Welle fließt darüber her.
Das wäre eine schöne Aufgabe für das Institut, das sich auf den Dichter aus Weimar beruft: Bergschutt zu Boden sinken lassen!
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Thüringer Allgemeine „Friedhof der Wörter“ 27. Oktober 2014
Wahlprogramme im Osten: Bürgerfern. Der Experte: „Wer nicht verstanden wird, kann nicht überzeugen“ (Friedhof der Wörter)
Was sind „revolvierende Fonds“? Wer sind „LSBTTIQ-Menschen“? Und was bedeuten „Trittsteinbiotope“, „Kaskadenmodelle“ und „Außenwirtschaftsgutscheine“? Genug! Genug!
Alle Jahre wieder schauen sich Wissenschaftler aus Hohenheim die Wahl-Programme an.
Und alle Jahre wieder, so auch bei den ostdeutschen Landtagswahlen, lautet ihr Fazit: Unverständliche Wörter, Fachbegriffe und Anglizismen und viel zu lange Sätze und Schachtelsätze. Kurzum: Die meisten Programme sind unverständlich, bürgerfern und nähren die Verdrossenheit der Wähler.
Offenbar können sich die Experten in den Parteien austoben und Sätze schreiben, die nur sie verstehen. Oder haben die Parteien den Wähler schon abgeschrieben? Denken sie: Programme liest doch keiner, allenfalls die Mitglieder?
Die Wissenschaftler um Professor Frank Brettschneider fanden in Thüringer Programmen Wörter wie
„Contractings“ (Linke), „Public-Private-Partnership-Verträge (PPP)“ (Piraten), Clustermanagement, Green-Tech, Spin-Offs oder Racial Profiling (alle SPD). Trotzdem kommt die SPD zusammen mit den Grünen auf dem zweiten Platz der Verständlichkeits-Parade.
Sieger im Verständlichkeits-Wettstreit ist die CDU, die von 20 möglichen Punkten immerhin 11 holte. Auf den letzten Platz mit knapp 4 Punkten kommt die Linke. „Ihre Wahlprogramme in Sachsen und in Thüringen sind noch unverständlicher als politikwissenschaftliche Doktorarbeiten“, sagt Professor Brettschneider.
„Wer nicht verstanden wird, kann auch nicht überzeugen“, fasst der Hohenheimer Professor zusammen. „Ohne ein hohes Bildungsniveau oder politisches Fachwissen sind einige Inhalte schwer verständlich. An den Bedürfnissen der Leser, die sich nicht tagtäglich mit diesen Themen beschäftigen, schreiben Parteien damit vorbei.“
Warum hat die ständige Kritik an den Programmen kaum eine Resonanz? Schon ein Deutsch-Leistungskurs wäre in der Lage, etwa einen 54 Wörter-Satz im Linken-Programm lesbarer und somit verständlicher zu machen; ein Doppelpunkt und die Auflösung des Endlos-Nebensatzes reichte:
Wir machen uns dafür stark, dass die Koordination von Kriegen der Bundeswehr in anderen Staaten so schwer wie möglich gemacht wird, offizielle Vertreterinnen und Vertreter des Landes sich der militärischen Traditionspflege und bei Gelöbnissen enthalten, internationale Friedensinitiativen auch von Thüringen aus gestartet werden und die Bundeswehr nicht in Schulen für ihre Rekrutierung werben darf.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter 8. September 2014
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