Abstiegsgespenst – das Porträt des Tages
Das Hamburger Abendblatt hat eine der attraktivsten Titelseiten-Kolumnen: „Menschlich gesehen“, das tägliche Porträt links unten – mit Kopf-Zeichnung statt Foto. Heute steht dort ein unheimliches Wesen: das „Abstiegsgespenst“. Hamburg und seine Zeitung leiden mit dem HSV – das ist echte Leser-Blatt-Bindung direkt überm Barcode.
Der Text allerdings ist mäßig. Flapsig-schreiben ist eben eine hohe Kunst.
Wir brauchen eine neue Journalisten-Ausbildung!
„Die gängige Rekrutierungs-Praxis ist Geldvernichtung!“, sagte Jens Schröter, Leiter der Burda-Journalistenschule, als sich im vergangenen Jahr Journalisten-Ausbilder mit Wissenschaftlern in der Leipziger „School of Media“ trafen. Was hat sich in den Regionalzeitungs-Verlagen getan? Am Freitag (30. März 2012) diskutieren beim „Forum Lokaljournalisten“ in Bremerhaven vier Journalisten über neue Formen der Ausbildung, moderiert von Sylvia Egli von Matt, der Direktorin der Schweizer Journalistenschule – zu verfolgen ab 9 Uhr morgens als Livestream bei www.drehscheibe.org
Warum bringt die gängige Rekrutierung unserer Volontäre wenig für die Zukunft der Redaktionen?
Die Volontäre werden meist durch die Ausbildung unterfordert. Sie waren freie Mitarbeiter, kennen den Alltag der Redaktionen; so bringt es wenig, sie im Volontariat dieselben Routinen noch einmal durchlaufen zu lassen.
Was sollte im Volontariat der Zukunft geschehen?
1. Die Volontäre sollen systematisch und fundiert die journalistischen Grundlagen so lernen, dass sie diese am Ende der Ausbildung im Schlaf beherrschen.
2. Die Ausbilder erkennen, entwickeln und fördern schon in der Ausbildung die individuellen Stärken (wie Führung, Lust am Management, Organisations-Talent, Online-Stärken, Recherche-Hartnäckigkeit, Leser-Marketing usw.) – um so auch die Führungskräfte für die Redaktion der Zukunft zu erkennen.
3. Der Nachwuchs arbeitet überwiegend in Projekten, aber immer wieder auch in den Lokalredaktionen, um den Respekt vor den Lesern nicht zu verlieren und keinen Dünkel zu entwickeln. Solche Projekte könnten sein: Entwicklungs-Redaktion für eine Zweit- oder Kompakt- oder Online-Zeitung oder ein Magazin; eine große Serie; Muster-Berichterstattung etwa für Haushaltsplan, Wahlen usw.; eine tiefe Recherche; eine Marketing-Kampagne; Online-Entwicklungen jeder Art; Datenjournalismus u.ä.
4. Volontäre werden eingeführt in unternehmerisches Denken und vertraut mit der Vermarktung von journalistischen Produkten; sie lernen, dabei unbedingt den Marken-Kern der Zeitung – Qualität und Glaubwürdigkeit – zu bewahren. Beim „Forum Lokaljournalismus“ 2011 formulierte Bart Brouwers, Online-Chef der niederländischen Zeitung „Telegraaf“ die These:
„Wir Journalisten müssen auch geschäftlich denken. Es gibt nicht mehr das eine große Geschäftsmodell wie bei der Tageszeitung. Ein Mix aus vielen Geschäftsmodellen muss den Umsatz bringen.“ (Handbuch: Seite 39)
Beim Symposium in Leipzig sagte es Wolfgang Blau, Online-Chef der „Zeit“, ähnlich: Wir brauchen Journalisten mit unternehmerischer Ader! Dünkelhaft ist die alte Denkart: Wir haben nichts mit Umsätzen zu tun!
Wie ist die neue Ausbildung geordnet?
Am Beginn jeder Phase steht ein drei- bis fünftägiges Camp, zum Beispiel ein „Boot-Camp“, von dem Jens Schröter in Leipzig berichtete – auch auf die Frage eingehend, wie Personalentwicklung messbar sein könnte. In einer Woche dringen die Volontäre tief in die Online-Welt tief ein (Facebook, Twitter, Blog, Online-Technik, Community-Management u.ä.). Nach einem Jahr gibt’s eine Inventur: Welche Erfolge können sie verzeichnen? Wie viele Follower? Vielleicht ein eigener Blog? Ihre Fortschritte, Erkenntnisse und Fragen tragen die Volontäre in ein Wiki ein, das für jeden Burda-Mitarbeiter einzusehen ist.
Ich könnte mir noch folgende Camps vorstellen: Recherche-Camp; Datenjournalismus; Sprach-Camp, Management-Camp; Leser- und Markenforschung usw.
Wir sollten uns bei der neuen Volontärs-Ausbildung von Online-Entwicklern leiten lassen, die nicht lange Konzepte schreiben: Einfach beginnen, einfach experimentieren – dem Grundsatz folgend: Wir erlauben uns Fehler; aber wir verbieten, daraus nicht zu lernen.
(zu: Handbuch-Kapitel 58 „Die Ausbildung zum Redakteur“)
Aktualisiert: Die Diskussion moderierte Barbara Stöckli (MAZ) für die erkrankte Egli von Matt
Neue Domain: www.journalismus-handbuch.de
Dieser Blog läuft nun auch unter der Domain „journalismus-handbuch.de“ und nicht mehr nur unter „journalisten-handbuch.de“. Die Domain, die zum Handbuch am besten passte (eben „journalismus-handbuch“), gehörte dem Freundeskreis der Dr.-Gregorius-Mättig-Stiftung Bautzen e.V.. Er hat uns die Domain unkompliziert abgegeben.
Ulli Schönbach, Vorsitzender des Freundeskreises, ist Redaktionsleiter der Sächsischen Zeitung in Bautzen; er hatte sich die Domain gesichert. Er schrieb mir zu seinem Motiv:
„Das Projekt, das ich damals im Sinn hatte, war ein Newsletter, der Journalisten über neue praxisnahe Fachbücher informiert. Ich arbeite seit fast zehn Jahren als Redaktionsleiter für die Sächsische Zeitung in Bautzen. Dabei habe ich immer wieder eines festgestellt: Viele Kollegen fordern lautstark Training und Seminare, lassen aber die einfachste Möglichkeit der Weiterbildung ungenutzt. Ein Buch zu lesen, das empfiehlt man höchstens den Volontären.
Dies liegt nach meiner Erfahrung auch daran, dass es zwar viele Neuerscheinungen zu unserem Berufsfeld gibt , aber kaum Orientierungshilfen. Auch die Fachzeitschriften helfen oft nicht weiter. Wem nützen Aussagen wie „richtet sich ebenso an Berufsanfänger wie an erfahrene Redakteure“? Ich habe dieses Projekt leider nicht weiterverfolgen können.“
Es gibt eine ausführliche Literaturliste im Anhang unseres Handbuchs. So greifen wir diese Anregung von Ulli Schönbach gerne auf und freuen uns auf Buch-Hinweise von Leserinnen und Lesern unseres Blogs. Ein neues Buch haben wir schon ausführlich vorgestellt: Henning Noskes „Journalismus“. Erwünscht sind auch Hinweise auf ältere Bücher
Einige Infos zum „Freundeskreis“, dessen Vorsitzender Ulli Schönbach ist:
In Bautzen lebte Gregorius Mättig zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges als Ratsherr und Mediziner. Geprägt durch diese Erfahrung gründete er eine Stiftung zur Förderung von Bildung und Wissenschaft. Von seinem Tod im Jahr 1650 an bestand diese fast 300 Jahre.
Aufgelöst wurde sie erst 1949 durch Befehl der Sowjetischen Militäradministration. Bis zu diesem Zeitpunkt ermöglichte Mättigs Erbe mehr als tausend jungen Menschen aus Sachsen und Schlesien ein Studium oder den Schulbesuch.
Seit 2007 knüpft eine neue Dr.-Gregorius-Mättig-Stiftung an diese herausragende Tradition an. Ins Leben gerufen wurde sie von Nachfahren des einstigen Stiftungsgründers. Seit dem vergangenen Jahr wird die Stiftung durch den Freundeskreis unterstützt.
Wichtigste Projekte von Stiftung und Verein sind die jährliche Vergabe eines Stipendiums für einen jungen Wissenschaftler sowie die Förderung von Projekten an Bautzener Schulen. So wurden bereits der Aufbau einer Schulbibliothek an einer Grundschule und ein umfassendes Bewerbungstraining für die Schüler einer Abendmittelschule finanziert.
Wer den Freundeskreis der Dr.-Gregorius-Mättig-Stiftung e.V. unterstützen möchte:
Konto 100 000 4941
BLZ 855 500 00 (Kreissparkasse Bautzen)
Web- und Mailadresse:
www.freundeskreis-maettigstiftung.de
buero-schoenbach@online.de
(zu: Handbuch-Kapitel Service A „Literatur“)
Wie bekommen Abgeordnete Stoff für ihre PR-Meldungen?
Bundesarbeits-Ministerin von der Leyen (CDU) informiert Abgeordnete der Regierungs-Fraktionen exklusiv mit Meldungen über Projekt in ihrem Wahlkreis. Thomas Öchsner berichtet darüber in der Samstagausgabe der Süddeutschen Zeitung (Wirtschaft, Seite 23).
Lokalredaktionen kennen die Mails oder Faxe: Der Abgeordnete teilt mit, dass er sich besonders eingesetzt habe für die Förderung einer Arbeitslosen-Initiative; wie er vertraulich erfahren habe, werde sein Einsatz belohnt und der Bescheid in den nächsten Wochen versandt. Die Redaktionen drucken es ab, meist ohne weiter zu recherchieren – oder geraten in den Zorn des Abgeordneten, wenn sie die Pressemitteilung nicht bringen.
Wie die Informationen in Berlin laufen, ahnen die Redakteure; die SZ zitiert ein internes Schreiben, das zeigt, wie es wirklich läuft:
- Steht eine Förderung kurz vor der Bewilligung, sucht die Fachabteilung heraus, ob das Projekt im Wahlkreis eines CDU-, CSU- oder FDP-Abgeordneten liegt.
- Für die Informationen gibt es zwei Muster-Schreiben.
- Die Fachabteilung informiert den zuständigen parlamentarischen Staatssekretär unmittelbar per Mail, „d.h. nicht auf dem Dienstweg“.
- Der Staatssekretär informiert den Abgeordneten möglichst schnell, damit der Abgeordnete vor der Projekt-Bewilligung Bescheid weiß.
(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“ + 57 „Wie können Zeitungen überleben“)
„Die Journalisten bekommen ihr Gehalt eigentlich vom Leser“
„Ein Problem in der Summe der im Internet kursierenden Informationen ist ja, das vieles nicht stimmt. Es gibt moderne Märchen, die sich imInternet schnell verbreiten“, sagt WAZ-Geschäftsführer Christian Nienhaus (52) im Interview mit BZ-Chefredakteur Armin Maus. „Der Nutzer muss sich genau ansehen, aus welcher Quelle die Informationen stammen, und er braucht die Sicherheit, dass Informationen aus unseren Medien verlässlich sind.“
Zu lesen ist das auführliche Interview in der Beilage „65 Jahre Innovation“, in dem die Braunschweiger Zeitung ihren neuen Internetauftritt vorstellt.
Nienhaus plädiert, besonders auf die Glaubwürdigkeit im Journalismus zu achten:
„Was als journalistischer Beitrag gekennzeichnet ist, darf niemals parteiisch und gefärbt oder den wirtschaftlichen Interessen anderer untergeordnet sein… Die Pflicht zur guten Recherche, zu ordentlicher, sauberer Arbeit und vor allen Dingen zur Bekämpfung der eigenen Vorurteile gehören zum freien Journalismus.
Aber der Verlag muss eine Brandmauer errichten, um die Interessen der von uns ebenfalls geschätzten Anzeigenkunden deutlich abzutrennen.“
Die Kernleistung der Zeitungen ist für Nienhaus das Lokale und Regionale:
„Man kann Synergien auf allem möglichen Feldern schaffen, aber muss vor Ort aktiv mit eigenen Journalisten tätig sein. Wir brauchen in den Städten der Region Journalisten, die unabhängig sind, die unabhängig von Interessengruppen schreiben, ob die Haushaltsrede des Bürgermeisters im Stadtrat ordentlich war oder nicht, und ob der Sportverein gut gespielt hat, und ob die Sanierung der Fußgängerzone vernünftig von statten geht, oder wo zu viele Baustellen sind.
Das alles sind Dinge, die man nicht über Blogs im Internet, mit staatlichen Pressestellen und interessengesteuerten Einträgen organisieren kann. Da braucht man eine Instanz, von der man weiß, dass sie unabhängig ist. Die Journalisten bekommen ihr Gehalt eigentlich vom Leser, sind deswegen nur dem Leser verpflichtet. Guten kritischen Journalismus – den wird es auch in 35 Jahren geben.“
(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“ und Kapitel 49 „Wie Journalisten entscheiden sollten“ und Kapitel 3 „“Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht“)
Noske-Interview „Journalismus – Was man wissen muss“
Paul-Josef Raue sprach mit Henning Noske über ein „Lehr- und Lernbuch“, das er gerade herausgegeben hat: „Journalismus. Was man wissen und können muss“ (Klartext Verlag, Essen, 234 Seiten, 17.95 Euro). Noske, Jahrgang 1959, ist Lokalchef Braunschweig der „Braunschweiger Zeitung“ und Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Braunschweig.
Raue: Es gibt zwei große Bücher über den Journalismus in unserer Zeit, die sich auch in Ihrer Handbibliothek finden: Den La-Roche und, ohne Bescheidenheit, „Das neue Handbuch des Journalismus“. Was treibt den Redakteur einer Regionalzeitung an, noch ein Journalismus-Buch zu schreiben – statt an einer Serie, die den nächsten Preis holt?
Noske: Ich würde noch „Die Reportage“ von Michael Haller hinzufügen. Mein Buch setzt setzt aber ganz anders an als diese „Klassiker“. Und zwar bei vielen Fragen, die nicht nur ganz am Anfang stehen, sondern noch vor dem Anfang:
– Welche Haltung müssen Journalisten haben?
– Wie engagiert müssen sie sein?
– Welche Tugenden braucht man denn eigentlich, um Themen zu finden, gründlich zu recherchieren – und möglichst wenige Fehler zu machen?
– Warum will ich das eigentlich machen?
Entstanden ist mein Projekt aus Seminaren mit unzähligen Studenten, bei dem ich mich selbst immer gefragt habe: Warum ist Journalist bloß ein Traumberuf für die? Umgekehrt kam nach meinem aufrüttelnden Tugend- und-Themen-Tremolo oft die Frage auf: Kann man das so eindrucksvoll nicht mal nachlesen?
Raue: Sie arbeiten bei einer großen Zeitung, die das Lokale schätzt. Nicht wenige sagen: Der arbeitet in der Provinz – und lächeln leicht. Kränkt Sie das?
Noske: So wenig wie Sie. Daraus erwächst gerade mein Selbstbewusstsein. Es ist – mit Verlaub – nicht der leichteste Job, den wir in der „Provinz“ tun. Aber im Journalismus der wichtigste. Schon der Begriff Provinz ist seit jeher blödsinnig, denn er qualifiziert die normalen Leute ab. Es ist ein Begriff, mit dem schon immer das Entrücktsein einer Kaste von Eingebildeten verknüpft war. Hoffentlich sind nicht so viele Journalisten dabei. Denn sie sollen direkt neben den Leuten sitzen und das echte Leben aufspüren. Davon handelt mein Buch.
Raue: Was haben Sie in Ihr Buch genommen, was in den anderen Büchern fehlt?
Noske: Die Kapitel über das Schreiben und die Präsentation sind zentral und dann eben sehr praxisorientiert.
Wie anfangen? Mit konkreten Beispielen. Dranbleiben, Übergänge, Tricks für einen eigenen Stil. Mit konkreten Beispielen. Wie versetzt man sich in den Leser hinein? Wie packt man ihn. Zum Beispiel mit einer ganz einfachen Dreifingerregel: Reizen – Informieren – Unterhalten.
Wie bastelt man wirklich eine gute Überschrift? Hier findet man mal einen richtigen Baukasten.
Und was heißt eigentlich „Augenhöhe“ wirklich, von der immer die Rede ist? Da war mal eine kleine Psychologie unseres Lesers fällig.
Und ein eigenes großes Kapitel nur über Fehler und Fehler-Vermeidung? Dazu gehört das Eingeständnis, dass wir täglich regelmäßig Fehler produzieren. Ich zeige: So kriegen wir sie weg.
Raue: Legen Sie Ihre mal Ihre Bescheidenheit beiseite: Warum sollen junge Leute Ihr Buch lesen?
Noske: Wenn es um den Berufswunsch geht, hören wir doch immer wieder: Irgendwas mit Journalismus! Unser Beruf hat immer noch eine magische Anziehungskraft. Und das ist auch gut so. Doch in der Praxis sehen wir ja doch oft auch, wie sehr Vorstellung, Anspruch und Wirklichkeit immer mehr auseinanderklaffen. Dazu gehören ja immer zwei. Da ist die Zeitung beziehungsweise der Verlag, der einen Rund-um-die-Uhr-Job mit viel Stress, Routine und ungesunder Lebensweise zu bieten hat. Und da sind junge Leute, die eben zunehmend auch manches an Einstellung und Qualitäten mitbringen müssen.
Wer rauskriegen will, ob das also wirklich etwas für ihn ist, der sollte mein Buch lesen. In aller Bescheidenheit: Das konnte man bislang noch nirgendwo so gut lesen.
Raue: Sie haben seit Jahren einen Lehrauftrag an der Braunschweiger Universität. Sie entdecken immer wieder Talente, fördern sie. Welche Erfahrungen mit den Studenten sind in Ihr Buch geflossen?
Noske: Das knüpft an das eben Gesagte an. Mir geht es darum, die Leute auch wirklich zu finden, die wir meinen und die wir brauchen. Es gibt sie nicht wie Sand am Meer. Am Ende sind es tatsächlich Talente, die wir entdecken müssen. Wie sie dazu geworden sind, wissen wir nicht wirklich. Sie lesen viel, schreiben tatsächlich zum Spaß, pflegen vielfältige Kontakte, haben was zu sagen, eigene Hobbys, Projekte, eine eigene Haltung.
Ich habe immer gedacht: Das kann ich doch keinem jungen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren mehr beibringen. Ich habe mich geirrt. Ein schöner kleiner Werkzeugkasten mit dem nötigen Handwerkszeug und den richtigen Tipps kann zumindest manchmal Wunder wirken. Die Studenten haben sich im Zuge von Bachelor und Master stark verändert: Sie wollen an die Hand genommen werden, warten ab, was ihnen geboten wird. Das nervt, aber es lehrt auch, die Flinte nicht zu früh ins Korn zu werfen.
Raue: Und warum sollten Ihre Kollegen und andere Journalisten Ihr Buch lesen?
Noske: Weil wir uns immer an den Zauber des Anfangs erinnern müssen! Weil wir uns vergewissern müssen, wie weit wir uns möglicherweise von unserem Ideal entfernt haben. Eine Kollegin in der Redaktion hat mir nach der Lektüre meines Buches gesagt: Schön und gut, ich habe es gern gelesen – aber ich komme nicht dazu, so zu arbeiten. Dieser Satz ist wahr, er ist ehrlich. Und er ist Sprengstoff für Redaktionen.
Warum schaffen wir es oft nicht, unsere Träume vom Journalismus im täglichen Redaktionsalltag zu verwirklichen. Und warum tun wir es nicht endlich, verdammt nochmal? Darum habe ich das Buch auch für meine Kollegen geschrieben. Es können nicht nur Anfänger lesen, sondern auch gestandene Redakteure. Mit einer Bedingung: Ich bin scharf auf ihre Reaktionen. Ich will die Diskussion.
Der zweite und dritte Teil des Interviews folgt: Teil 2 – Teil 3.
Eine Liebeserklärung an die Lokalzeitung
Wolfgang Gropper war eine halbe Ewigkeit Intendant des Staatstheaters in Braunschweig. Im Ruhestand zieht es ihn nach Bayern, wo ihn morgens beim Brötchenholen die grantige Resi erwartet – „an den groben Ton und den derben Humor muss auch ich mich erst wieder gewöhnen“.
Eine Liebeserklärung an die Lokalzeitungen folgt, gerade an die in Braunschweig, die ihm sein Theaterleben nicht immer leicht gemacht hat. Der Kolumnist Biegel und der Kulturredakteur Berger kommen sogar in den Genuss, in Tätigkeitswörter verwandelt zu werden:
„Das intellektuelle Niveau der Chiemgau-Zeitung wäre allerdings – natürlich ganz im Gegensatz zur Braunschweiger Zeitung – noch ausbaufähig, aber der Unterhaltungswert, zumindest zwischen den Zeilen, bietet schon oft feinste bayerische Satire.
Natürlich vermissen wir hier das Biegeln und Bergern… ebenso vermissen wir die kundenfreundliche Leserbrief- und Ratgeberseite, weil wir nun nicht mehr wissen, was wir vom Borkenkäfer lernen können, wie man sein Kaninchen beim Abnehmen unterstützt und ob man Heimweh schneller und nachhaltiger mit Ohrenschützern oder mit rosa Kontaktlinsen bekämpft.“
aus: „Vier-Viertel-Kult“, Zeitschrift der Stiftung Braunschweiger Kulturbesitz, Winter 2011
(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)
Aktion zur Leser-Blatt-Bindung: 500 Funklöcher und mehr
Die Redaktion der „Thüringer Allgemeine“ hatte die Idee: Leser, meldet die Orte, an denen Eure Handys keinen Empfang haben! 500 Leser meldeten die Funklöcher, die Zeitung brachte auf einer Panoramaseite eine Thüringen-Karte mit allen Löchern in allen Netzen. Und die Netzbetreiber kamen ins Schwitzen und kündigten an: Bald wird es keine Funklöcher mehr geben.
Einsam schrieb ein Leser; „Danke für diese detaillierte Karte der Funklöcher Thüringens. Jetzt weiß ich wenigstens, wo ich dem ununterbrochenen Gesabbel entkommen kann, das allerorts über mich hereinbricht. Ein bissel neugierig bin ich ja auch, aber über Hautkrankheit fremder Personen, über Eheprobleme junger Frauen, über Rheuma-Attacken anderer, über Seitensprünge von Ehemännern oder über die Ereignisse und Folgen nächtlicher Orgien möchte ich doch nicht unbedingt informiert werden…“
(zu: Handbuch-Kapitel 56 „Service und Aktionen“)
Wie eine Lokalzeitung diskutiert, was ins Blatt kommt
„Warum am Samstag kein Platz für den Terror in Nigeria war“, überschreibt Nachrichtenredakteur Henning Wandel einen Blog-Eintrag des Mindener Tageblatts. Er erläutert, wie in einer Redaktion Entscheidungen fallen:
„Sieben Tote, viele Verletzte – diese Zahlen meldete die Nachrichtenagentur DPA noch am späten Freitagabend nach Anschlägen auf mehrere Polizeistationen in Nigeria. Gegen die Themen, die zu diesem Zeitpunkt auf der außenpolitischen Seite des MT für Samstag vorgesehen waren, konnte sich der wiederholte Terror in Westafrika nicht durchsetzen.
Nicht einmal 17 Stunden später war bereits von 120 Toten die Rede, bis Samstagabend stieg die Zahl auf 165, letztlich verloren an diesem Wochenende wohl fast 200 Menschen in Nigeria bei den Anschlägen ihr Leben. War die Entscheidung am Freitagabend also eine Fehleinschätzung?
Jede dieser Entscheidungen fällt schwer, doch sie sind trauriger Alltag in der Nachrichtenredaktion, die sich unter anderem um die politischen Themen kümmert.
- – Wann wird ein Anschlag zur Meldung?
- – Ist es nur die Zahl der Toten?
- – Ist es die Nähe zu Deutschland? Oder zu Europa? Bei Angriffen auf deutsche Soldaten gibt es ausführliche Berichte – auch wenn es keine Verletzten gibt. Aber Bomben in Nigeria?
- – Sind Attacken auf Polizeistationen weniger schlimm als Anschläge gegen Christen, mit denen wir uns kulturell eher verbunden fühlen?
- – Und die wiederum sind nicht zu vergleichen mit Horrormeldungen aus Ägypten, wo viele Deutsche schon einmal Urlaub gemacht haben?
Die Entscheidung von Freitag war in erster Linie nüchtern abgewogen und damit wohl weder falsch noch richtig. Allenfalls unglücklich.
Unglücklich ist in diesem Zusammenhang zudem, dass auch in Zukunft immer wieder ähnliche Entscheidungen getroffen werden müssen und damit so mancher Krisenherd an den Rand gedrängt wird, der eigentlich laut aufschreien lassen müsste. Vor allem, da ein umstrittener Bundespräsident und eine (wohl vorübergehende) Finanzkrise im Angesicht von Terror, Krieg und Hunger bemerkenswert klein erscheinen.“
(zu: Handbuch Kapitel 23 „Was ist eine Nachricht?“ und Kapitel 22 „Warum alles Informieren so schwierig ist“)
Wolf Schneider: Journalistische Texte werden schludriger
Die „Drehscheibe“, das Lokaljournalisten-Magazin, veröffentlicht auf ihrer Webseite Interviews mit den Autoren des Handbuchs. Stefan Wirner sprach mit Wolf Schneider. Auszüge aus dem Interview:
Die Entwicklung im Online-Bereich ist rasant. Finden Sie, dass deutsche Zeitungen damit geschickt umgehen?
Nein. Eine alte Krankheit großer Blätter – an zwei von drei Tagen ist ihr Aufmacher identisch mit der ersten Nachricht der „Tagesschau“ – ist im Online-Zeitalter geradezu grotesk geworden. Die Sportjournalisten liefern schon seit 50 Jahren keine Überschrift mehr von der Art „Bayern siegt 3 : 1“, sie haben aus dem Fernsehen beizeiten gelernt. Die nackte Nachricht gibt keinen Aufmacher mehr her.
Glauben Sie, die Verlage sollten ihre Präsenz in sozialen Foren wie Facebook, Google oder Twitter intensivieren? Muss man alles mitmachen?
Intensivieren müssen sie wohl. Alles mitmachen müssen sie nicht.
Raufen Sie sich eigentlich zuweilen die Haare, wenn Sie den flapsigen Umgang mit Sprache in sozialen Foren beobachten?
Ja.
Wie hat sich die sprachliche Qualität von journalistischen Texten in den vergangenen Jahren entwickelt?
Sie werden schludriger.
(zu: Handbuch-Kapitel 54 „Die neue Seite 1“ + Kapitel 5 „Die Internet-Revolution“ + Kapitel 11ff „Verständliche Wörter“
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