Alle Artikel der Rubrik "Lokaljournalismus"

„Regionalzeitungen müssen die Hoheit über das Stadtwissen zurückbekommen“ (Zitat der Woche)

Geschrieben am 6. August 2014 von Paul-Josef Raue.

Die Redaktionen müssen wieder zum Kompetenzzentrum werden – Regionalzeitungen die Hoheit über das Stadtwissen zurückbekommen.

Professor Andreas Vogel in einem taz-Interview mit Anne Fromm. Vogel ist Leiter des Instituts für Presseforschung in Köln.

Vogel führt in dem Interview den Abo-Rückgang bei den Zeitungen nicht aufs Internet zurück, sondern auf die Qualität des Inhalts: „Befragt man die Zeitungsabbesteller, warum sie kündigen, nennt kaum jemand das Internet. Die meisten sagen, sie läsen keine Zeitung mehr, weil viele Inhalte sie nicht betreffen oder sie sei zu teuer geworden.“

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Facebook-Kommentare
Michael Geffken:

„Da diese Erkenntnis ja nicht so ganz neu ist, muss man doch fragen, warum so viele Zeitungen keine entsprechenden Reaktionen zeigen – sprich: immer schlechter werden.“

„… der Frust des enttäuschten Zeitungsliebhabers führt zu Übertreibungen. Ich korrigiere mich: Nur wenige Zeitungen sind in den vergangenen Jahren wirklich besser geworden, viele stagnieren und stecken den Kopf in den Sand, immer mehr werden kaputt gespart.“

Wolfgang Kretschmer

„Empfehle den Beitrag von Michael Haller „Chance auf Comeback“ in „Message“ 3/14. – Unterzeile: „Es gibt gute Gründe, an eine Rennaissance der Tageszeitung zu glauben…“ Haller schreibt teils polemisch gallig, teils um Fundierung seiner Sicht der deprimierenden Lage bemüht. Seine Vorschläge, jugendlichen Lesernachwuchs zu gewinnen, sind so neu nicht. Es sind in Hallers Ideen/-Umfragewelt aber m.E. ein paar gute Gedanken enthalten. Leider schließt sich der Kreis zum Beitrag von Michael Geffken. Redaktionen werden kaputtgespart. Andererseits sind aus Hallers Perspektive bei einigen Zeitungen der MGO zB bei der Saale-Zeitung Bad Kissingen gute Ansätze zu erkennen, jugendliche Leser ob per Print/online zu gewinnen.“

„Deutschlandradio Kultur“ hat das Mediengespräch am Morgen beerdigt

Geschrieben am 22. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

Journalisten sind eitle Menschen – auch nicht wenige leitende Redakteure von Regionalzeitungen, die selten eine Chance haben, im Fernsehen gesehen oder im Radio gehört zu werden. Kurzum: Sie freuen sich über jeden Auftritt!

Besonders beliebt war das Mediengespräch, einst das Zeitungsgespräch, in Deutschlandradio Kultur – jeden Morgen um 8.10 Uhr. Da stand der Redakteur gerne mal früh auf, um am Telefon zu erklären, warum es auch in der Provinz bisweilen hoch hergeht – oder auch: Warum eine Zeitung in der Provinz die Welt erklären kann. Da gab es legendäre Stimmen und Erklärer: Wolfgang Molitor von den Stuttgarter Nachrichten beispielsweise oder Alfons Pieper von der WAZ, als er stellvertretender Chefredakteur war.

Bisweilen ging es auch so daneben, dass einem der Moderator leid tat: Kein gerader Satz, kein Inhalt, Lampenfieber pur. Doch die fünf Minuten am frühen Morgen waren auch eine Verbeugung vor den Zeitungen in der Provinz, die massgeblich die öffentliche Meinung in Deutschland herstellen und nicht selten bestimmen. Gerade Deutschland-Radio Kultur legt, oder besser: legte großen Wert darauf, von den Eliten, Meinungsbildnern und Multiplikatoren gehört zu werden. Die Journalisten in der Provinz gehören nicht mehr dazu.

Das Zeitungsgespräch ist gerade wegreformiert worden. Auf die Frage, ob es einen neuen Sendeplatz gebe, antwortet der Sender:

Das Feuilletonpressegespräch wird es weiter geben – künftig in der Sendung „Kompressor“ (montags bis freitags von 14.00 bis 15.00 Uhr), allerdings nicht mehr täglich, sondern 2-3mal pro Woche in der Rubrik „Das Lesen der Anderen“.

Ruhe sanft!

Der Fall Mollath: Stilisierung eines Opfers statt sorgfältiger Recherche

Geschrieben am 6. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

So gut kann Lokaljournalismus sein: Die Redaktion des Nordbayerischen Kurier schwimmt gegen den Strom im „Fall Mollath“ und macht das, was guten Journalismus ausmacht: Sie geht zurück zu den Quellen – und stellt Fragen, die sich andere nicht stellen. Zu lesen sind sie in einer Online-Dokumentation des Kuriers „Der Fall Mollath“, erstellt nach dem Vorbild des „Snowfalls“-Features der New York Times (ein umfangreiches, gut gegliedertes Dossier mit Text, Video, Podcast und Foto).

Der Kurier erzählt die Geschichte einer Ehe, an deren Ende man oft nicht entscheiden kann: Wer hat Recht? Wer hat Schuld? Sicher ist nur: Die Frau erscheint in den meisten Medien als die Eiskalte, die Böse – dabei hat keiner mit ihr gesprochen. Sicher ist auch: Sie erzählt eine völlig andere Geschichte. Das beweist nicht, dass sie Recht hat; aber es beweist: Die Geschichte des Mannes ist nur ein Teil der Geschichte – und bringt den Opfer-Kult ins Wanken.

Der Kurier fragt auch: Warum hat der Mann die Deutungshoheit? Warum ist er unzweideutig das Opfer, zudem ein Opfer staatlicher Willkür? Was spricht dagegen:

> Sechs Gutachter aus verschiedenen Städten;
> Mollaths eigene schriftliche Äußerung von 2006 „Ich leide an einer schweren psychischen Krankheit“;
> die Weigerung Mollaths, mit seinem Pflichtverteidiger und dem vom Gericht bestellten Psychiater zu sprechen;
> die Anklage, er sei gemeingefährlich, weil er Freunden seiner Frau Reifen so zerstochen habe, dass sie erst während der Fahrt die Luft verlieren.

Das beweist nichts, aber lässt Raum für Zweifel an der Opfer-Rolle.

Was fehlt im Dossier des Kurier: Warum stilisieren fast alle Medien den Gustl Mollath als Opfer, die Frau und den Staat als die Bösen? Warum sind selbst investigative Journalisten so unkritisch – und stellen nicht die Fragen, die ein gut recherchierenden Journalist stellen muss?

Das medienkritische Kapitel sollte der Kurier unbedingt noch anfügen.

FACEBOOK:
Joachim Braun, 6. Juli 2014

Lieber Paul-Josef Raue,

der Hinweis auf die fehlende kritische Auseinandersetzung mit der Medienberichterstattung ist richtig. Das war aber nicht die Aufgabe der Kollegen.

Ich hatte mir das Thema Rudeljournalismus und einseitige Recherche im Fall Mollath selber vor einem Jahr mal angetan – wohl wissend um die Reaktionen: Nestbeschmutzer! Wichtigtuer! Wie kann man nur so negativ über die hochangesehene Süddeutsche Zeitung schreiben? Was bilden die in Bayreuth sich da ein?

Trotzdem würde ich es jederzeit wieder so machen: http://ankommen.nordbayerischer-kurier.de/2013/06/24/wie-die-mainstream-medien-im-fall-mollath-manipulieren/

Antwort Paul-Josef Raue, 6. Juli 2014

Lieber Joachim, auch wenn Du über den Rudeljournalismus schon mal geschrieben hast, so gehört das Thema in Euren Snowfall hinein. Das ist ja die Idee des Snowfall: Nicht nur alle Medienformen, sondern auch der komplette Inhalt. Gerade weil der Kurier so eindrucksvoll die Recherche-Fragen stellt, gehört als Abschluss dazu: Warum haben nicht alle die Fragen gestellt, auch die Hochangesehenen? Und die Reaktionen passen doch gut dazu: Nur Mut!

Erdbeeren! Diffamierung! Rufmord! Was ist eine gute Recherche?

Geschrieben am 5. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

Was ist das für eine Zeitung? Was ist die Autorin für eine Journalistin, dass sie nicht mitbekommt, dass sich die Zeitung auf das Niveau einer offensichtlichen Fehde herablässt. Hier soll gezielt durch eine Person und aus privaten Gründen ein Betrieb diskreditiert und Rufmord über die Medien versendet werden… Wir machen schnell erst einmal eine Diffamierung – das kommt beim Leser gut an – um dann zu schreiben: Das war aber eine Luftnummer!

So empört sich eine Leserin der Thüringer Allgemeine über eine Berichterstattung über einen Erdbeerhof: „Abgekippte Erdbeeren und eine Anzeige gegen Unbekannt“. Weiter schreibt die Leserin:

Wenn Ihre redaktionelle Mitarbeiterin einen guten und damit auch wertneutralen Journalismus betreiben würde, hätte sie längst mitbekommen, dass sie zum Spielball einer Person instrumentalisiert wurde… Zur Auflagensteigerung rate ich Ihnen zu 2 x wöchentlich barbusigen Damen auf der vorletzten Seite, das macht die ,große Schwester‘ auch.

Der Chefredakteur antwortet der Leserin in seiner Samstag-Kolumne auf der Leser-Seite:

Es gibt Regeln für einen guten Journalismus oder, um in Ihren Worten zu bleiben, für eine wertneutrale Recherche:

1. Frage alle, die zum Thema etwas Wesentliches zu sagen haben!
Unsere Redakteurin fragte:
> Einen zweiten Ostbau-Betrieb: Wie gehen Sie mit Früchten um, die Sie nicht verkaufen können?
> Das Landratsamt, bei dem die Anzeige eingegangen ist.
> Den Landesverband Gartenbau.

2. Frage vor allem den, der angegriffen wird!
Schon in der Unterzeile der Überschrift steht: „Geschäftsführung vermutet Kampagne gegen das Familienunternehmen.“ Gleich in den ersten Absätzen kommt der Geschäftsführer ausführlich zu Wort.

3. Bleibe sachlich, vermische nicht Nachricht und Kommentar!
Im gesamten, etwa 120 Zeilen langen Artikel finden Sie nicht eine kommentierende Zeile, keine wertenden Adjektive. Die Redakteurin überlässt dem Leser das Urteil.

4. Mach Dir selber ein Bild!
Unsere Redakteurin reagierte auf den Vorwurf eines Lesers, die Arbeiter verrichteten ihre Notdurft im Freien: Sie sah zwei Toilettenhäuschen direkt und in ausreichender Entfernung zum Feld.

Die Recherche hält sich also vorbildlich an die Regeln: Es kommt jeder zu Wort!

Eine andere Frage ist: War die Kompostierung der Erdbeeren überhaupt ein Thema für die Zeitung? Darüber lässt sich stets streiten. Doch wenn mehr als ein Dutzend Anrufe und Mails zu einem Thema in der Redaktion eingeht, dürfen wir von einem allgemeinen Interesse ausgehen.

Ein Artikel ist dann auch im Interesse des Geschäftsführers, über dessen Arbeit Gerüchte wabern: Er kann für Klarstellung sorgen!

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Thüringer Allgemeine 5. Juli 2014

Der kurze Frühling des Lokaljournalismus beim „Netzwerk Recherche“

Geschrieben am 21. Juni 2014 von Paul-Josef Raue.

Die Lokaljournalisten sind zahlenmäßig die wohl größte Gruppe unter den Zeitungs-Redakteuren. Beim 13. Jahrestreffen des „Netzwerk Recherche“ am 3. und 4. Juli in Hamburg spielen sie so gut wie keine Rolle. Wenn ich ausreichend recherchiert habe: Gerade mal eine der hundert Veranstaltungen dreht sich um den Lokaljournalisten, gerade mal zwei Referenten unter den zweihundert kommen aus dem Lokalen. Wenn ich richtig rechne: ein Prozent.

Die eine Veranstaltung ist „Lokaler Datenjournalismus“ und wird so angekündigt:

Im Lokalen liegen sie noch, die ungehobenen Datenschätze: Wo sind Polizei und Notärzte am häufigsten unterwegs? Wer zahlt den höchsten Preis fürs Trinkwasser? Und welches Wahllokal verzeichnet das kurioseste Wahlergebnis? Je kleinräumiger sich solche Phänomene zeigen lassen, desto besser können sich auch die Leser im Thema verorten. Zur Hyperlokalität kommt ein weiterer Pluspunkt: Im Regionalen benötigen Datenjournalisten keine bundesweite Datenbasis, um sich ein Thema zu erschließen. Drei von ihnen geben Einblicke in ihre Projekte, Tricks und Tools.

Moderator ist Marco Maas (Datenjournalist, Medienberater, Trainer, OpenDataCity)

Referenten sind Felix Ebert, Christina Norden (Volontärin, Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag) und Vanessa Wormer (Online-Redakteurin, Heilbronner Stimme)

Unter den 14 Kategorien der Veranstaltungen, von Auskunftsrecht über Recherche international bis Überwachung, kommt Lokaljournalismus erst gar nicht vor. Im November 2012 hatte das Netzwerk erstmals nicht nur die Nase gerümpft über Journalisten in der Provinz, sondern bei der Süddeutschen einen Kongress organisiert „Lokaljournalismus zwischen Recherche und Regionalstolz“. Das war er dann der kurze Frühling.

In Hamburg sind die Großen, die Berühmten wieder unter sich. Garniert wird die Riege der Stars von TV-Gesichtern wie etwa einer Moderatorin der „Tagesthemen“: Recherchiert eine Moderatorin, die täglich ein Dutzend Sätze brav aufsagt, mehr als 1500 Lokaljournalisten?

Lokaljournalisten: Spart Euch den Besuch in Hamburg und erspart Euch den Hochmut der Verächter der Provinz!

Journalisten schreiben Krimis, und Robert Domes rechnet mit dem Chefredakteur ab

Geschrieben am 31. Mai 2014 von Paul-Josef Raue.

„Voralpenphönix“ spielt im Allgäu, wo Robert Domes lange als Lokalredakteur gearbeitet hatte, bevor er aus Frust über die ständige Teilnahme an Sitzungen und Konferenzen ins schwere Dasein eines freien Autors wechselte. Er will, so sagt er, schreiben und nicht seine Zeit im Management vergeuden.

So rechnet er, nebenbei, mit dem real im Allgäu existierenden Lokaljournalismus ab, der „zwischen Anbiederung an die Honoratioren und blankem Populismus“ schwankt. Zur Karikatur gerät der Chefredakteur, der immer in der ersten Reihe bei den Graureihern sitzt und sich wichtig macht; Oli, die Lokalredakteurin, beschreibt ihn so:

Eine Basisnote aus vorgespielter Sicherheit, in der Herznote ein kräftiger Schuss Angst und Einsamkeit und darüber ein hohes Flirren aus Stolz und Arroganz, die Zwischentöne sind frauenfeindlich, altbacken, intolerant, unterwürfig, distanzlos und geltungssüchtig.

„Voralpenphönix“ ist einer dieser Heimat-Romane, wie sie derzeit zu Dutzenden verlegt werden und offenbar ihr Publikum finden. „Voralpenphönix“ ist allerdings ein besonderer Heimatroman, ein zweifacher Heimatroman:

> Er spielt im Allgäu, in einer der schönsten Landschaften Deutschlands, aber die Romantik der Natur spielt keine Rolle. Wer sich in Urlaubsstimmung lesen will, wird enttäuscht. Für die junge Lokalredakteurin Olivia, die im Fall eines Serienmörders recherchiert, ist das Allgäu Provinz, und Kaufbeuren, ein 40.000-Einwohner-Oberzentrum, ist ein Kaff:

Das Leben war so zugepflastert wie die Kaufbeurer Altstadt. Stein an Stein, überschaubar und sauber, popelig und eng. Bloß keine Überraschung, bloß keine Neuerungen.

> Doch auch die verlorene Heimat spielt eine entscheidende Rolle: Milowitz, ein Dorf in Böhmen. Nachdem die Sowjets, vom Autor auf „die Russen“ verkürzt, das Dorf im Mai 1945 eingenommen hatten, begann die große Vertreibung – und die lange Erinnerung an das beschauliche Leben im Dorf. Für einen, der sich erinnert, ist das Erzählen von der alten Heimat wie ein langer Tauchgang, bei dem er immer wieder Luft holen muss:

Probisch schwebte durch die staubigen Straßen von Milowitz, durch Glasdrückereien und Bauernhöfe, durch Ställe und Stuben, über Bäche und Felder, durch Generationen und Jahreszeiten. Oli konnte die Rapsfelder riechen und die Kartoffelsuppen, den Pferdemist und den Schweiß der Knechte.

Doch kurz vor Ende des Krieges streunten einige Dorfburschen durch die Wälder, sammelten Waffen ein und griffen einen sowjetischen Panzer ab. Die Reaktion folgte prompt: Die Rote Armee schoss den ersten Bauernhof an der Dorfstraße in Brand, in dem eine komplette Familie mit vier Kindern und den Großeltern umkam.

Ein Sohn war nicht zu Hause. Sein Schicksal wird zum Drehpunkt der Handlung, in die sich Schuld und Rache mischen, unbewältigte Geschichte und unterdrückte Geschichten.

Robert Domes bleibt bei seinem Thema: Das Trauma der deutschen Schuld. In seinem preisgekrönten Buch „Nebel im August“, das bald verfilmt wird, recherchierte er die Geschichte eines ganz normales Kindes: Ernst Lossa wird als Kind fahrender Eltern, von Jenischen, geboren, von den Nazis in ein Erziehungsheim gesteckt und als „asozialer Psychopath“ von einem Euthanasie-Arzt in Kaufbeuren ermordet, nicht einmal 15 Jahre jung. Der Arzt, der die Ermordung verfügt hatte, entschuldigte sich vor Gericht: „Wenn ich ihn nicht euthanasiert hätte, dann wäre er halt in eine andere Anstalt gekommen.“

Im „Voralpenphönix“ geht es auch ums Verdrängen, das eine ganze Generation pflegt. „Eine böse Zeit“, sagen sie, „eine schwere Zeit, eine dunkle Zeit“ – wenn sie dem Thema nicht mehr ausweichen können. „Immer wenn es um das Dritte Reich ging, benutzten Zeitzeugen diese Sätze und beendeten damit das Thema, bevor es richtig anfing.“

Sozialkritisch ist Domes‘ Krimi, aber niemals ist das Kritische aufgesetzt; vor allem aber ist der „Voralpenphönix“: spannend. Die Dialoge sind nicht papieren wie in vielen deutschen Regionalkrimis, die Typen stimmen und bieten sich für eine Verfilmung an. Auch wenn dem Autor gegen Ende die Luft ausgeht, ist Robert Domes ein Erstling gelungen, dem eine Fortsetzung unbedingt folgen sollte.

Robert Domes: Voralpenphönix. Allgäu-Krimi. Emons-Verlag, 192 Seiten, 9.90 Euro

LESEPROBE:

Unter den Erinnerungen stieß Oli endlich auf den erhofften Schatz. In einem Briefumschlag steckten die persönlichen Unterlagen des Verstorbenen, alte Ausweise, Rentenbescheide, Zeugnisse und Beurteilungen. Mit zitternden Händen las sie dort zum ersten Mal den Namen Horst Kittel.

Aus den Papieren ließ sich das Leben des Mannes in groben Zügen rekonstruieren. Er war offenbar wirklich den Russen in die Hände gefallen. Die hatten den Sechzehnjährigen jedoch nicht getötet, sondern in ein Lager nach Sibirien geschickt. Dort war er bis 1950, wurde am Ende ideologisch geschult und bekam eine Arbeitsstelle in der DDR. Von nun an trug Horst Kittel den Namen Heinz Krause. Aus den Unterlagen ging der Grund für den Namenswechsel nicht hervor. Oli überlegte, ob die Russen ihn umbenannt hatten. Aber warum sollten sie? Viel wahrscheinlicher war, dass Kittel sich selbst das Pseudonym zugelegt hatte. Hegte er damals bereits Rachepläne, denen er unerkannt nachgehen wollte?

Als Heinz Krause machte er rasch Karriere in der Verwaltung der Nationalen Volksarmee. Den Unterlagen zufolge schien sein Arbeitgeber stets zufrieden gewesen zu sein. Kittel alias Krause war für die Organisation und Verwaltung von zivilen Einsätzen der NVA-Soldaten zuständig, etwa wenn sie bei der Ernte oder in Großbetrieben aushalfen. Zwischen den offiziellen Papieren lagen Fotos von Betriebsfeiern und Ehrungen. Sie zeigten einen groß gewachsenen, etwas feisten Mann mit Stirnglatze, der freundlich in die Kamera lächelte.

Das biedere Dasein hatte mit dem Fall der Mauer ein Ende. Krause wurde zusammen mit der NVA abgewickelt, verlor seinen Arbeitsplatz und ging vorzeitig in Rente. Er zog in den Westen, mietete sich 1995 eine Wohnung in der Nähe von Kaufbeuren.

Drei Jahre später erlitt er einen Schlaganfall und kam ins Heim nach Füssen.

Ein komplettes Leben in einem einzigen Briefumschlag. Das ist also, was von einem übrig bleibt, dachte Oli. Sie wollte die Dokumente wieder zurückstecken, als ihr ein kleines Notizheft in die Hände fiel, auf das mit schwarzem Stift ein Kreuz gemalt worden war. Mit klopfendem Herzen schlug Oli die Seiten auf. Die mit Bleistift geschriebenen Notizen ließen ihr den Atem stocken. Vor ihr lagen die Mordpläne an den Menschen, die Kittels Familie auf dem Gewissen hatten. Kittel musste seine Opfer über längere Zeit beschattet haben. Er hatte alle ihre Eigenheiten und Vorlieben im Telegrammstil notiert.

Selbstverständnis eines Lokaljournalisten: Wie stellst Du Dich auf Deine Leser ein? Auf ihre Welt, ihre Bilder?

Geschrieben am 18. Mai 2014 von Paul-Josef Raue.

„Luther schaute dem Volk auf’s Maul, aber er redete ihm nicht nach dem Mund.“ Diese Einsicht des Braunschweiger Dompredigers ist auch eine sinnvolle für Journalisten, die ihre Leser ernst nehmen. Als Beispiel führt der Domprediger, mit dem ich ein langes Interview führte, ein Erlebnis aus Äthiopien an, wo er noch zu Kaisers Zeiten als Vikar ein Jahr gearbeitet hatte.

Er predigte an Heiligabend in einem deutschen Bau-Camp, fünfhundert Kilometer von Addis entfernt:

„Weihnachten ist nicht wetterabhängig“, so habe ich angefangen. Natürlich waren alle mit ihren Gedanken irgendwie im Harz oder im Schwarzwald, eben in ihrer Heimat. Kein „Kling Glöckchen kling“, predigte  ich, „aber wir wissen es besser: Weihnachten findet auch statt, wenn das übliche Ambiente nicht da ist.“ Ich habe die Leute daran erinnert, dass Weihnachten eigentlich aus solchen Verhältnissen wie in Äthiopien kommt.

Wie bekommst  du geografisch existentielle Situationen zusammen mit biblischen Texten? Diese Frage hat mich lange beschäftigt. Viele der orientalischen Bilder, die es in der Bibel gibt, sind in Äthiopien oder Arabien leichter verstehbar als bei uns in Deutschland. Dort muss ich doch nicht erklären, was eine Oase ist. Dort muss ich doch nicht erklären: Der Herr ist mein Hirte.

Wo Hirten und Herden zum täglichen Straßenbild gehören, da sind biblische Bilder unmittelbar vor Augen. Du brauchst nur einen, der darauf hinweist, zeigt, dolmetscht, Zusammenhänge herstellt. Daran hatte ich immer Freude!

Für uns in Deutschland ist diese orientalische Bilderwelt eine fremde. Für uns ist sie  kompliziert;  deswegen haben sich auch Generationen von Predigern geflüchtet in philosophische und pseudo-philosophische Gedankenwelten.

So geht es auch einem Lokaljournalisten: Wie stellst Du Dich auf Deine Leser ein? Auf ihre Welt, ihre Erfahrungen, ihre Bilder? Wie verbindest du deine Sicht der Welt, deinen journalistischen Anspruch, deine Erfahrungen mit denen deiner Leser? Der Lokaljournalist ist ein Dolmetscher, der Zusammenhänge herstellt, Welten verbindet.

Schaffst du diese Verbindung nicht, bleibst du abstrakt, blutleer – selbst wenn du ein Leben lang in einer Redaktion arbeitest. Mit dieser lutherischen Einsicht kann man auch achtmal in seinem Leben in eine andere Redaktion wechseln.

Noch einmal Luther: Schau dem Volk aufs Maul, aber rede ihm nicht nach dem Mund.

Eine Politikerin ärgert sich über eine Redaktion, schreibt eine Mail – und schickt sie an den falschen Absender

Geschrieben am 24. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Eine junge Bundestagsabgeordnete kommt mit einem Text, offenbar mit zu viel Partei-PR, nicht in die lokale Zeitung. Sie ärgert sich und schickt eine Mail an einen Genossen – und drückt auf die falsche Taste: Die Mail landet in der Redaktion der Fuldaer Zeitung:

Gesendet: Mittwoch, 16. April 2014 16:37
An: […]
Betreff: Re: Kolumne für Morgen

Wahrscheinlich finden die sich jetzt richtig toll… Das ist schon frech, was die sich so leisten. Wir müssen mal wirklich eine Strategie ausarbeiten, wie wir denen einen Strich durch die Rechnung machen können. Ich treffe mich Morgen zum Frühstück mit Hettler von Fuldainfo und wir schauen mal, ob wir Ideen haben.

Gruß

Birgit Kömpel MdB

Die Redaktion bringt die Mail in die Öffentlichkeit:

Fehlgeleitete Mail von Birgit Kömpel sorgt für Empörung
REGION
Liebe Leserinnen und Leser, diese Mail der Bundestagsabgeordneten Birgit Kömpel sollte unsere Redaktion nicht erreichen. Aber sie liegt uns vor, weil die SPD-Abgeordnete sich vertan und sie an uns geschickt hat. Schäbig finden wir den Inhalt. Unaufrichtig finden wir Kömpels Verhalten.

Zum Hintergrund: Seit einigen Jahren bietet unsere Zeitung heimischen Abgeordneten verschiedener Parlamente im Wechsel die Möglichkeit, sich zu vorgegebenen bzw. abgesprochenen Themen in einer Kolumne zu äußern. Damit wollen wir den Abgeordneten die Möglichkeit geben, ihre Sicht der Dinge zu aktuellen Themen darzulegen – und zwar jenseits von Parteipolitik.

Frau Kömpel schrieb vergangene Woche ohne jede Absprache und ohne sich an Vorgaben zu halten. Sie schrieb einen Lobgesang auf die Arbeit der SPD in 100 Tagen großer Koalition.

Aber: Spielregeln gelten für alle. Das haben wir ihr erläutert und diesen Beitrag abgelehnt. Für Sie, liebe Leser, zum Verständnis: In zwei Fällen mussten wir dies in den vier Jahren, die es diese Rubrik gibt, bereits tun. Einmal traf es einen CDU-Mann, einmal eine SPD-Vertreterin. Wie Frau Kömpel in einer offenbar für einen Mitarbeiter bestimmten Mail reagiert hat, lesen Sie oben.

Frau Kömpel soll(te) in Berlin Interessensverwalterin der Bürgerinnen und Bürger ihres Wahlkreises sein. Sie aber überlegt, wie sie einer unabhängigen Tageszeitung und damit auch einem Unternehmen ihres Wahlkreises Schaden zufügen kann – weil eine Redaktion nicht das tut, was sie möchte.

Die Mail der SPD-Bundestagsabgeordneten Birgit Kömpel offenbart uns ihr Medien- und Demokratieverständnis. Deshalb möchten wir sie transparent machen.

Einen Screenshot der Mail können Sie in der Printausgabe oder im E-Paper sehen.

Reicht die Verärgerung einer Politikerin über eine Redaktion, um sie vorzuführen? Trägt die Redaktion nicht ein wenig zu dick auf: Schäbig, unaufrichtig, Offenbarung eines falschen Medien-und Demokratieverständnisses?

Ist wirklich die Unabhängigkeit in Gefahr? Gewinnt am Ende nicht immer die Zeitung? Ist solch eine Dummheit einer offenbar recht unerfahrenen Politikerin nicht eher Stoff für eine Glosse als für eine große Abrechnung: Unsere Demokratie ist in Gefahr?

„Warum wird so wenig Kultur gelesen?“ – Thomas Bärsch im Gespräch mit Lesern der Thüringer Allgemeine (Teil 2)

Geschrieben am 13. April 2014 von Paul-Josef Raue.
    Fußball und Kultur, Kinder und Ältere – und die Interesse der Leser: Das waren die Themen der Leser im zweiten Teil des Gesprächs, das sie mit Thomas Bärsch führten, dem neuen Vize-Chefredakteur der Thüringer Allgemeine. Dabei steht „Lesewert“ im Vordergrund, eine Leserbefragung, die Bärsch zuerst in Dresden bei der Sächsischen Zeitung mit entwickelt hatte und dann in Thüringen erfolgreich einsetzte.

Leser Hans Joachim Kellner: Ich war als Polizist bei Heimspielen von Rot-Weiß Erfurt und habe mich jedes Mal geschämt, wie schäbig die Fans, aber auch der Stadionsprecher, über die Gäste hergezogen sind. Dieselben Fans beschweren sich bei Auswärtsspielen, wie sie dort – auch von der Polizei – behandelt werden. Kann die TA nicht einen stärkeren Druck auf die Vereinsführung ausüben, respektvoller mit den Gästen umzugehen?

Wir jammern in Erfurt auf hohem Niveau: In Dresden beispielsweise, das ich gut kenne, artet es oft sogar in Gewalt aus. Da sind wir uns einig in der Redaktion wie mit den meisten Fans: Begeisterung für Rot-Weiß: ja! Aber Gewalt: nein! Nun spielt ein Bundesliga-Verein eine herausragende Rolle in einer Stadt: Das muss eine Zeitung nicht nur respektieren, sondern auch zeigen.

Leser Dieter Sickel: Vor der Wende haben die jungen Leute ihren Frust im Stadion abgelassen, weil sie ihn sonst nirgends ablassen konnten. Das ist heute auch so. Aber die TA kann da gar nichts tun, das müssen die Fans selber regeln.

Ich kenne die Erfurter Fans noch nicht so gut, aber ich bin mir sicher, dass die meisten von ihnen nicht aus Frust ins Stadion gehen, sondern weil sie mit ihrem Verein mitfiebern, der ja auch der Stolz der Stadt ist.

Leser Andreas Rudolf: Beim Fußball geht es doch heute nur noch um Brot und Spiele! Rot-Weiß ist ein Riesen-Popanz, und die Spieler, die viel Geld verdienen, sind nur besser ausgestattete Hartz-Vierer.

Da widerspreche ich Ihnen. Einen prominenten Fußballverein zu haben, erzeugt schon ein gutes Stadtgefühl. Die meisten Bürger wünschen sich das, auch wenn sie nicht ins Stadion gehen. Diese besondere Rolle, die Rot-Weiß ja auch in der Berichterstattung der TA einnimmt, sollte sich im Verhalten des Vereins, der Spieler und der Fans gegenüber der Stadt und ihren Gästen widerspiegeln.

Leserin Ursula Müller: Früher dachte ich: Die meisten Männer lesen den Sportteil. Bei der Lese-Untersuchung kam heraus: Das stimmt gar nicht, unter den meistgelesenen Artikeln war keiner aus dem Sport.

Es gibt Themen, die gut gelesen werden: Rot-Weiß, Wintersport und die deutschen Handball-Meisterinnen aus Bad Langensalza – sind da immer eine sichere Bank. Der lokale Sport, auch der lokale Fußball, liegt deutlich unter dem gefühlten Interesse. Das bedeutet aber nicht, dass er aus der Zeitung herausfällt, aber wir müssen ihn interessanter machen.

Ursula Müller: Und warum wird so wenig Kultur gelesen?

Der Kultur geht es wie dem Sport: Für einige ist es das Wichtigste, aber viele kümmert es wenig. Auch bei der Kultur gibt es Themen, die viele Leser finden: der Tatort aus Erfurt und Weimar beispielsweise, das drohende Ende des Fernsehballetts, die Abschieds-Tournee der Puhdys – eben alles, worüber viele Menschen sprechen. Rezensionen, selbst aus dem Deutschen Nationaltheater, werden weniger gelesen. Gleichwohl erwarten viele Leser von einer seriösen Zeitung, dass sie über das kulturelle Leben berichtet. Es reicht ihnen offenbar, dass wir es machen – aber sie lesen nicht. Da fragen wir uns schon, wie wir mehr Leser in unsere Texte holen können.

Ursula Müller: Ich finde es toll, dass Sie täglich eine Kinderseite haben. Ich hebe sie auf, wenn meine Enkel aus Berlin und Ingolstadt kommen. Nur die Witze wiederholen sich oft.

Gerade die Witze kommen bei den Kindern am besten an, aber, da haben Sie recht, bei den Erwachsenen am wenigsten. Wir sind überrascht, wie die Kinderseite gerade von älteren Lesern gelesen wird.

Ursula Müller: Die Seite ist wirklich eine anspruchsvolle Seite mit einer Mischung aus lokalen Artikeln, also aus der Welt der Kinder, und kindgerechten Erklärungen zu Politik und Wissenschaft.

Viele Großeltern lesen ihren Enkeln aus der Zeitung vor, etwa wenn schwierige Fragen kommen wie „Warum sterben so viele Kinder in Syrien?“.

Leser Andreas Rudolf: Das Durchschnittsalter der TA-Leser ist hoch. Machen Sie eine Zeitung nur für ältere Leser?

Nein. Ich glaube, dass das Alter überbewertet wird. Bei den großen Themen – seien es nun die Rentenpolitik oder der „Tatort“ aus Erfurt und Weimar – treffen wir bei jüngeren wie älteren Lesern auf großes Interesse. Wir sollten auch nicht immer so tun, als sei man mit 66 schon halbtot. Viele Menschen sind heute bis ins hohe Alter aktiv, neugierig und wach. Wir dürfen uns nicht dem Jugendwahn ergeben, diesem unseligen Trend in unserer Gesellschaft.

Leser Dieter Sickel: Der Chefredakteur hat ein Spezialgebiet, die Sprache, und er schreibt die Sprach-Kolumne „Friedhof der Wörter“. Lesen Sie die?

Manchmal.

Dieter Sickel: Haben Sie auch so ein Spezialgebiet?

Ich schreibe für mein Leben gern satirische Kolumnen.

Dieter Sickel: Lesen wir die bald auch in der TA?

Das kann ich mir vorstellen. Ich hoffe nur, dass die Thüringer Satire mögen.

Dieter Sickel: Das sind dann aber bestimmt nicht nur harmlose Texte.

Ich bin ja prinzipiell gegen Texte, die Schaden anrichten. Aber ja: Satire wird halt von jedem anders verstanden. Viele Leute schmunzeln darüber; manchmal muss ich mich aber auch Lesern stellen, die das ernst nehmen. Als ich eine Satire über das Israel-Gedicht von Günter Grass geschrieben hatte, endete sie mit dem Satz: „Von deutschem Boden darf nie wieder ein Gedicht ausgehen.“ Da rief mich ein Leser an: „Meinen Sie das ernst?“ – „Nein“, sagte ich. – „Dann war das ein Spaß?“ – „Ja“ – Da legte er einfach auf.

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Thüringer Allgemeine, 12. April 2014 (Domplatz 1 – Interview-Reihe)

So stellt sich Thomas Bärsch als neuer Vize-Chefredakteur der TA vor – in einem Gespräch mit den Lesern (Teil 1)

Geschrieben am 12. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Thomas Bärsch verrät im Gespräch mit TA-Lesern, wie er die Zeitung stärken will, was er vom Fußball hält und warum er manchmal an der Politik zweifelt. Jeden Samstag erscheint „Domplatz 1“ in der Thüringer Allgemeine, benannt nach dem Ort, an dem das Lesergespräch stattfindet: Die Journalisten moderieren, ausgewählte Leser fragen, Prominenten antworten – und erstmals ein Redakteur:

Leserin Eva Fehrenbacher: Wie frei ist ein Chefredakteur? Will der Besitzer der Zeitung nicht reinreden und seine Vorstellungen einbringen?

Reinreden wollen viele – und das müssen nicht einmal die Besitzer eines Verlages sein. Wichtig ist, dass sich die Zeitung nicht beeinflussen lässt – weder politisch noch wirtschaftlich. Dafür muss der Chefredakteur sorgen, indem er selbst unabhängig und vor allem stark ist. Eine Redaktion braucht einen starken Rücken – und den muss der Chefredakteur zeigen. Natürlich ist ein Zeitungsverlag ein Wirtschaftsunternehmen, aber eine starke Redaktion wie die der TA ist unabhängig. Das unterscheidet uns auch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der zwar keine Finanzierungs-Sorgen hat, aber unter dem Einfluss der Politiker steht. Ein Chefredakteur muss die Glaubwürdigkeit der Zeitung sichern. Nur so sichert er ihren Bestand.

Eva Fehrenbacher: Und das tun Sie?

Dafür steht die gesamte Chefredaktion – und auch der Verlag. Alle, die Verantwortung bei uns tragen, wissen: Glaubwürdigkeit ist unser höchstes Gut; an ihr misst sich das Vertrauen der Leser. Es gibt etliche Umfragen, die zeigen: Unter allen Medien genießt die lokale Zeitung die höchste Glaubwürdigkeit – auch in der Internet-Generation. Diese Glaubwürdigkeit würden wir nie aufs Spiel setzen.Und glücklich sind wir erst, wenn wir wissen, dass uns viele Menschen intensiv lesen. Daran arbeiten wir.

Eva Fehrenbacher: Was wollen Sie verändern?

Zuerst will ich nichts verändern, sondern das hohe Niveau, das die TA hat, stärken. Aber es gibt kein Niveau, das wir nicht noch steigern können.

Eva Fehrenbacher: Wie wollen Sie das Niveau steigern?

Wir müssen noch näher an die Bürger ran. Viele Erfurter identifizieren sich mit ihren Stadtteilen, das habe ich schon nach wenigen Wochen Aufenthalt hier erlebt. Diese Verbundenheit mit dem unmittelbaren Lebensumfeld müssen die Leser auch in der Zeitung wiederfinden.

Leser Dieter Sickel: Unter Ihrer Regie ist im Erfurter Lokalteil die wunderschöne Kolumne entstanden, die mich jeden Tag erfreut: „Anja auf Achse“. Die Redakteurin ist in der Stadt unterwegs, sieht Sachen, die wir nicht mehr sehen, hat offene Augen und öffnet sie uns, die blind sind.

Diese Kolumne haben wir ins Leben gerufen, weil wir bei der Lese-Untersuchung merkten, dass die Erfurter bei uns etwas vermissen, was wir Stadtgefühl nennen. Also haben wir uns – und das heißt: alle Lokalredakteure, wirklich alle – geschworen: Wir zwingen uns, noch mehr draußen zu sein und weniger am Telefon zu hängen; wir wollen entdecken. Das ist unsere eigentliche Aufgabe. Wir sind, wenn Sie es so wollen, die Augen und die Ohren unserer Leser.

Leserin Marga Kellner: Aber alles sehen und hören Sie auch nicht. Ich würde zum Beispiel gern mal lesen, was das für Menschen sind, die uns als Polizistinnen und Polizisten jeden Tag Schutz geben – die manchmal angespuckt werden und beleidigt. Was machen die? Haben die Kinder? Ich möchte mal die Menschen hinter ihrer Uniform entdecken.

Das ist eine fantastische Anregung, die ich gerne aufgreife. Allerdings ist die Polizei, besonders in den oberen Etagen, sehr zurückhaltend, um es freundlich auszudrücken. Da kollidiert das Dienstrecht oft mit journalistischer Neugier und dem Informationsbedürfnis unserer Leser.
Gleichwohl genießt die Polizei ein hohes Ansehen. Also – wir greifen Ihre Anregung auf.

Leser Egbert König: Wir siedeln in Thüringen immer mehr Firmen an wie Zalando und andere, die viele Arbeitsplätze mit Niedriglöhnen anbieten. Können Sie nicht dafür sorgen, dass unsere Politiker mehr produzierendes Gewerbe zu uns holen?

Da überfordern Sie uns. Für Arbeitsplätze können wir nicht sorgen, und wir können keinen Unternehmer zwingen, nach Erfurt zu kommen. Aber wir können die Entwicklung kritisch begleiten. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ich habe den Eindruck, dass sich die Erfurter Politik nur halbherzig um das Bahnhofsviertel kümmert.

Die Bahn baut hier den größten Knoten Deutschlands, die Gleise 9 und 10 sind fertig. Aber die Politiker scheinen zu zögern, wenn es darum geht, das Gebiet drumherum aufzuwerten. Ich möchte dafür sorgen, dass wir diesen Politikern gegenüber noch kritischer sind – angefangen beim Oberbürgermeister. Ihm muss es Herzenssache sein, ein so wichtiges Stadtviertel für Firmen und qualifizierte Arbeitskräfte attraktiv zu machen.

Egbert König: Das ist gut, wenn Sie die Politik mehr in die Pflicht nehmen.

Aber wir müssen auch fair bleiben. Was glauben Sie: Welches Bundesland hat – im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung – die meisten Industriebetriebe in Deutschland?

Alle: Baden-Württemberg? Hessen?

Nein, Thüringen. Wir haben viele kleine und hochproduktive Firmen, nicht wenige sind Marktführer in Europa, drei Dutzend sogar in der Welt. Zudem haben wir, zumindest in Erfurt, eine der besten Industrie- und Handelskammern in Deutschland.

Egbert König: Von den kleinen feinen Unternehmen lesen wir aber wenig in der TA.

Diese Kritik nehme ich sehr ernst, und ich werde dafür sorgen, dass gerade im Lokalteil die kleinen Firmen eine wichtigere Rolle spielen. Schließlich verdienen sehr viele Menschen hier ihren Lebensunterhalt.

*

Thüringer Allgemeine „Domplatz 1“, 12. April 2014

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