Shitstorm und Putin-Versteher: Sind Journalisten aus dem Osten empfindlicher als die im Westen?
Ist ein Journalist, aufgewachsen in der DDR, empfindlicher als einer aus dem Westen? Muss man ihn mit Walter Ulbricht vergleichen, weil er keine Lust und keine Nerven mehr hat, in Shitstorms zerlegt zu werden? Kann ein ehemaliger DDR-Korrespondent in Moskau heute nicht objektiv über Putins Russland schreiben?
Paul Schreyer kommentiert auf heise.de einen Beitrag des Spiegel-Autor Christian Neef, der im Medium Magazin beklagte:
Onlinemedien wie Spiegel Online nehmen inzwischen sogar in Kauf, dass die Berichte ihrer Korrespondenten gleich im Anschluss an den Text in den Foren aufs Übelste zerpflückt und als unwahr bezeichnet werden, sie desavouieren damit ihre eigenen Mitarbeiter und liefern sie schutzlos dem Shitstorm aus. Ich habe die Kollegen bei Spiegel Online deswegen gebeten, bei bestimmten Texten, die ich schreibe, die Kommentarfunktion künftig abzuschalten – so wie es andere Webseiten schon länger tun.
Paul Schreyer wundert sich, dass die üblen Kommentare „langsam Wirkung auf einzelne Journalisten zeigt“ und fragt: „Geht es nicht am Ende um den Leser? Ist dieser nicht der Souverän in einer offenen Mediengesellschaft?“
Das sind interessante Ansichten, intelligente Fragen – allemal eine Debatte wert, zumal Günther Nonnenmacher (FAZ) und Hans Leyendecker (SZ) ähnlich wie Christian Neef argumentieren. Nur – was um alles in der Welt – hat das mit der DDR zu tun? Warum wird einer aus dem Osten abgekanzelt, weil er aus dem Osten kommt? Und dies noch auf eine, vorsichtig ausgedrückt, seltsame und unjournalistische Art – unter Berufung auf Widerstand im Spiegel, der unter „vorgehaltener Hand“ geäußert wird. Das ist eher DDR-mäßig: Anonym und hinterhältig.
Schreyer schreibt:
Auch innerhalb des Spiegel regt sich nun Widerstand gegen Neefs Ansichten. Unter vorgehaltener Hand heißt es aus der Redaktion, hinter den Äußerungen des Russlandkorrespondenten stecke „eine Denkweise, die Walter Ulbricht einst auf die Formel brachte, man dürfe ‚die Dinge nicht dem Selbstlauf überlassen'“. Die Pointe dabei: Neef ist selbst in der DDR aufgewachsen, war in den 1980er Jahren Korrespondent des DDR-Rundfunks in Moskau, ist seit der Wende aber beim Spiegel und profiliert sich dort seit vielen Jahren vor allen Dingen mit massiver Russlandkritik. Er war es auch, der den Begriff „Putinversteher“ 2011 erstmals in einer Schlagzeile verwandte.
Und was ist wirklich die Pointe?
Facebook – die neue Ära des Journalismus? Nein, weil die eigene Medien-Marke zu wichtig ist
Journalismus in Zeitungen ist tot. Journalismus in Blogs auch. Journalismus auf Homepages ist tot und bei Google und auch in den sozialen Netzwerken – bis auf Facebook. Die New York Times ruft die neue Ära des Journalismus aus – denn unter einer neuen Ära tun wir es nicht mehr. Früher dauerte eine Ära noch Jahrhunderte, heute nur noch ein paar Jahre.
David Carr schreibt in der New York Times, zitiert von Socialmediawatchblog:
Facebook ist wie ein riesiger Hund. Du weißt nie genau, ob er einfach nur spielen oder Dich fressen will – am Ende leckt er Dich womöglich tot.
Diese drei Gründe nennt David Carr, warum Facebook den Journalismus aufsaugen wird:
1. Facebook bietet Verlagen an, ihren Journalismus komplett und schön gestaltet auf Facebook zu platzieren. Die Werbe-Erlösen sollen sich Facebook und Verlage teilen.
2. Mark Zuckerberg will im nächsten Jahrzehnt erreichen, dass Nachrichten die entscheidende Rolle bei Facebook spielen: “News is a very big priority“.
3. Der RSS-Miterfinder Dave Winer arbeitet, in Kooperation mit Facebook, an einem neuen Werkzeug, Artikel oder Foto gleichzeitig im Blog und auf Facebook zu platzieren.
Raphael Raue, SEO bei RP-Online, kann die Meinung von Carr überhaupt nicht teilen und schreibt:
Das alte Märchen vom großen Traffic über Facebook wird geschickt von zu vielen Social-Media-Beratern gestreut. Es gibt viele gute Social-Media-Experten, aber die manische Fokussierung der deutschen Medienwelt auf Social Media ist durch die Fakten nicht zu rechtfertigen. Denn richtig ist:
> Die meisten deutschen Nachrichtenseiten haben nicht mehr als 10% Facebook-Traffic
> Aber rund 30% Google-Traffic.
Quelle https://twitter.com/thorebbe/status/517344192318558209?s=03> Entschiede man sich für Facebook, verlöre man 30% und gewönne vielleicht 10%. Unternehmerisch wäre das eine mehr als gewagte Entscheidung.
Dazu kommt: Journalistische Inhalte funktionieren nicht wirklich gut auf Facebook – außer große Meldungen, Todesfälle, ein wenig Regionales und vor allem Buntes, Boulevard und Sport. Die Konzepte von Buzzfeed und Heftig kann man nicht einfach auf Nachrichten übertragen.
Der Tod der Homepage wurde im Netz schon oft, zu oft, ausgerufen. Alle sind zu ihr zurückgekehrt, auch Social-Media-Berater. Zudem würde ich meine Marke nie von einer anderen allein abhängig machen. Mit einer eigenen Seite kann ich die Marke klassisch – offline und online – vermarkten, auf Google stärken, auf Facebook stattfinden lassen, Instagram, Tumblr und Pinterest nicht zu vergessen und auf allen künftigen großen Plattformen.
Wenn ich einmal zu Facebook wechsle oder mich nur auf Google verlasse, bin ich verloren, wenn sich das Netz ändert. Und es ändert sich ständig. Vor 20 Jahren konnte sich auch niemand vorstellen, dass man mal irgendwann anderes als Microsoft und Yahoo nutzen würde.
Ich halte diese Theorie, Journalismus werde bald nur noch auf Facebook stattfinden, weder kurzfristig noch langfristig eine auch nur bedenkenswerte Option. Genauso wenig würde ich irgendjemandem empfehlen, seine Seite nur auf Google auszurichten und Inhalte dort zu hosten und nicht mehr irgendwo anders auszuspielen.
Nachrichten müssen überall stattfinden, auf manchen Kanälen funktionieren sie besser, auf anderen weniger, wichtig ist aber, dass man sich die technische wie inhaltliche Unabhängigkeit bewahrt, ach wenn dafür noch nicht allerorts das Geschäftsmodell gefunden wurde.
Redakteure Ost, die Dritte Generation, debattieren mit jungen Redakteuren West über die Einheit
Lars Haider, der Chefredakteur des Hamburger Abendblatt war verblüfft, nachdem er einer Mauerfall-Debatte der jungen Redaktions-Generation Ost und West zugehört hatte:
Die DDR selbst und ihr Ende ist bei der Delegation der Thüringer Allgemeine fast so präsent, als wären die Kollegen damals nicht acht, neun oder zehn, sondern mindestens volljährig gewesen. Andererseits registrierte man als (westdeutscher) Zuhörer erstaunt, dass die Wiedervereinigung bei den jungen Kollegen des Hamburger Abendblatt nicht mehr als die Erinnerung an Erzählungen der Eltern ist. Der 9. November ist für sie fast ein Tag wie jeder andere.
Mir hat die zweistündige Diskussion so deutlich wie selten gezeigt, dass es einen nach wie vor gigantischen deutsch-deutschen Unterschied gibt – nämlich in der Bewertung der Wiedervereinigung. Während man im Westen doch, vielleicht auch ohne es zuzugeben, relativ schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen ist und die Bedeutung des 9. November von Jahr zu Jahr verblasste, hat dieses Datum und seine Folgen in Ostdeutschland auch 25 Jahre später vergleichsweise wenig von seiner Kraft und Gewalt verloren. Wer glaubt, spätestens für die dritte Generation hätten sich die Themen der Wendezeit erledigt, der irrt, und wie.
Vier Redakteure aus Thüringen und vier aus Hamburg hatten sich getroffen, um über die Einheit und die Unterschiede in Ost und West zu sprechen. Die Debatte ist in der Wochenend-Ausgabe der TA zu lesen ebenso wie der Kommentar des Hamburger Chefredakteurs:
Es war eindrucksvoll, die jungen Kollegen der Thüringer Allgemeine in Hamburg erleben zu können, mit ihrem Bewusstsein für die eigene Geschichte und ihrem Blick auf das neue Deutschland. Das war im besten Sinne Nachhilfeunterricht für einen Westdeutschen, der manchmal in die Versuchung gerät, die Wiedervereinigung nun endlich doch als Selbstverständlichkeit abzuhaken.
Der Mauerfall und die DDR-Journalisten: Aus kollektiven Agitatoren und Propagandisten werden 1989 Redakteure
„In der DDR gab es keinen echten Journalismus“, schreibt Hanno Müller, der 1989 Redakteur von Das Volk war, der SED-Bezirkszeitung in Erfurt, und der heute Reporter ist der Thüringer Allgemeine. Er blickte in der TA zurück: Was geschah in den Redaktionen in der Revolutions-Zeit und in den Jahrzehnten danach:
Spätestens ab dem Sommer des Jahres 1989 ist die DDR in Aufruhr. Die Welle der Republik-Flüchtlinge nimmt dramatische Ausmaße an. Ungarn öffnet seine Grenzen. Die westlichen Botschaften des Ostblocks füllen sich mit Ausreisewilligen. Viele kommen mit Kind und Kegel.
Die Parteizeitungen aber machen weiter wie bisher. Kaum eine Ausgabe ohne den Abdruck langer Reden über die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion oder über die DDR als Garant des Weltfriedens. Nach dem Republikgeburtstag brüstet sich der Partei- und Staatschef über zwei Seiten mit den Vorzügen des Sozialismus.
Anfangs verschweigen die DDR-Medien die Fluchtwelle komplett. Dafür hat das Thema in den West-Medien Konjunktur. Als es gar nicht mehr anders geht, wird der Massenexodus gegeißelt als „stabsmäßig organisierte Provokation“ der BRD, die sich eine völkerrechtswidrige Obhutspflicht anmaße.
Überschriften noch im September 1989 lauten „Eiskaltes Geschäft mit DDR-Bürgern“ oder „Der große Coup der BRD“. Die Flüchtlinge werden verunglimpft. Zur Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge Ende September heißt es, die Menschen hätten sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt, man sollte ihnen keine Träne nachweinen.
Die Propaganda-Texte werden in der Berliner ADN-Zentrale – dem Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst – oder in den Propaganda-Abteilungen des Politbüros formuliert. Verweigern können die Redakteure vor Ort den Abdruck nicht.
Journalisten sind Teil des Systems
Allerdings muss im Sommer 1989 in den Redaktionen noch niemand gezwungen werden, die Verlautbarungen aus Berlin zu verbreiten. In der DDR gibt es 1989 zwei Fernsehprogramme, fünf Radiostationen und die zentral gelenkte Nachrichtenagentur ADN. Dazu eine überregionale und 15 regionale SED-Zeitungen sowie 18 Zeitungen der sogenannten Blockparteien.
Unabhängige Medien – Fehlanzeige. Journalisten sind Teil des Systems. Entweder sind die Zeitungen „Organ“ einer Partei oder sie gehören parteinahen Massenorganisationen wie dem Kulturbund oder dem FDGB. Kontrolle und zentrale Steuerung werden hingenommen.
Wie die Hierarchien der SED sind auch deren Tageszeitungen regional durchgegliedert. Jeder Bezirk hat sein Partei-Organ. In Erfurt ist es „Das Volk“ mit 15 Kreisredaktionen. Das Politbüro sitzt quasi mit am Schreibtisch. Der jeweilige Kreisredakteur erhält Richtlinien aus der Kreisleitung, üblicherweise ist er dort auch selbst Mitglied. Für den Chefredakteur ist die Bezirksleitung zuständig.
Wer in der DDR Journalist wird, weiß, was ihn erwartet – die Parteimitgliedschaft eingeschlossen. Bei SED-Zeitungen gibt es für Journalisten keine Freiräume, allenfalls Spielräume. Trotzdem ist der Beruf begehrt. Hunderte bewerben sich jährlich für den Studiengang in Leipzig. Etwa 100 werden nach einem strengen Auswahlverfahren genommen. Die Motivationen sind unterschiedlich – als künftige Parteisoldaten sehen sich die wenigsten.
Sowieso rekrutiert sich der Berufsstand aus dem Teil der Bevölkerung, der das System DDR letztlich nicht infrage stellt. Wer den Sozialismus grundsätzlich ablehnt, bewirbt sich nicht in einer Redaktion – und würde auch kaum genommen.
Es ist die Mischung aus Überzeugung und Anpassung, die das Leben in der DDR möglich und durchaus erträglich macht. Man darf meckern – wenn man weiß, wann man den Mund halten muss. Journalisten verstehen sich besonders gut darauf, die eigene Meinung und das, was sie aufs Papier bringen, voneinander zu trennen. Man kann über alles reden, diskutieren, streiten, selbst in der Redaktion. Lästerhafte, zynische Reden sind Teil des kritischen Selbstverständnisses – nur schreiben darf und wird man es nicht. Gewöhnlich müssen DDR-Journalisten dazu nicht ermahnt werden – sie zensieren sich freiwillig.
Ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam
Dabei ist gerade in den Redaktionen die Verachtung für die dummen und dogmatischen Bonzen da oben groß. Man kennt sie, hört sie bei Veranstaltungen Parteichinesisch reden, weiß um ihre Doppelmoral, ihre Saufgelage oder ihr Luxusgehabe – mit ihnen anlegen wird man sich dennoch besser nicht.Oft beruhen die Antipathien auf Gegenseitigkeit. Weil die Funktionäre ihrerseits den „Sesselfurzern an den Schreibmaschinen“, wie sie sie in ihrem rotzigen Funktionärsjargon auch gern mal öffentlich nennen, nicht trauen, pflegen Redaktionen und Parteiführungen ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam.
Auf die Frage, warum kluge Köpfe einen derart schizophrenen Zustand hinnehmen und aushalten, antworten viele Journalisten, trotz realer Unzulänglichkeiten glaube man an die Idee von der besseren Gesellschaft. Mit dem Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit, den Absurditäten und Albernheiten im Alltag geht jeder in der DDR auf individuelle Weise um.
Gleichaltrigen Freunden ist vor 1989 oft schwer zu erklären, warum man macht, was man macht und schreibt, was man schreibt. Zeitungen in der DDR sind nicht besonders sexy, gelten als langweilig und bieder. Oft sind sie auch denen peinlich, die sie machen. Wer sich anfangs noch dagegen auflehnt, resigniert schnell.
Der Beruf hat eben auch schöne Seiten. Man kommt raus, lernt Leute kennen, kann sich als Teil des gesellschaftlichen Prozesses fühlen – und schreiben. Dass bei den meisten Themen die rosarote Brille nicht fehlen darf – das kennt man so auch in anderen Bereichen der DDR.
Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen
Auch draußen in den Betrieben und auf den Feldern weiß man, was man von den Zeitungsleuten erwarten kann. Man redet offen – und mahnt zugleich: „Aber das schreibst du nicht!“. Meist bedarf es dieses Hinweises nicht. Vielfach sind die Gesprächspartner von den Parteileitungen ausgesucht. Das garantiert ein unausgesprochenes Einverständnis. Man weiß doch, wie die Dinge im Land laufen.
In wissenschaftlichen Arbeiten über den DDR-Journalismus ist später zu lesen, Leser und Zeitungsmacher befänden sich in einer Art „opportunistischen Tateinheit“: Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen.
Dabei gehörten Journalisten in der DDR zu denen, die mit am besten über den Zustand der Gesellschaft und die Machtverhältnisse im Bilde sein sollten. Sie sind täglich vor Ort, kennen interne Parteiberichte, wissen, wo der Schuh drückt. In den Zeitungen bzw. Rundfunk- oder Fernsehbeiträgen aber überwiegt die heile Welt – es sei denn, die Partei selbst meint, man könne doch mal mit dosierter Selbstkritik den Siegeszug des Sozialismus voranbringen.
Die vornehmste Aufgabe der Parteischreiber ist die Überzeugung – bei den Empfängern verfängt sie kaum. Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz spricht nach der Wende vom Zusammenhang zwischen verordneter Fehlinformation und individuellen Abwehrmechanismen. Trotzdem ist es zu DDR-Zeiten schwer – auch wegen des Papiermangels -, ein Zeitungsabonnement zu bekommen.
Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit
Als die SED-Führung Mitte der 80er die Gorbatschow-Worte Glasnost und Perestroika einschließlich ihrer deutschen Übersetzung auf den Index setzt, wird zwar zähneknirschend debattiert – trotzdem halten sich die Redaktionen an das Verbot.Die Zensur des Sputnik 1988 oder die Verfügung, das üblicherweise groß gefeierte Festival des sowjetischen Filmes diesmal kleinzuhalten – die DDR-Zeitungen stehen bei Fuß.
Als die Weisung ausgegeben wird, dass Ausreiseantragsteller nicht auf den Zeitungsseiten vorkommen dürfen, gleichen die Redaktionen Namen ihrer Gesprächspartner mit den Dienststellen ab. Und sie vermeiden es, anonyme Menschenansammlungen von vorn zu fotografieren oder abzubilden.
Es gibt Kultur-, Wirtschafts- und Außenpolitik-Redakteure. Eine Abteilung widmet sich dem Parteileben. Journalisten sind keine homogene Masse. Jüngere denken anders als Kollegen der ersten Stunde. Unter den Redakteuren sind Feingeister, aber auch viele Betonköpfe. Manche schreiben mit dem ideologischen Holzhammer, andere mit feinerer Feder.
Beim Nachweis der eingeforderten „Parteilichkeit“ gibt es je nach Art des Mediums und des Themas durchaus Abstufungen. Sportseite, Lokales oder die Kultur bieten noch am ehesten Realitätsnähe. Auch in der Wochenendbeilage sind Begegnungen mit Funktionären selten. Wirklich abtauchen kann keiner.
Am Ende ist auch der Kommentar über die Lage in Ecuador oder der Beitrag über den Frühjahrsputz Teil der Propaganda. Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit ist nicht zu übersehen.
Es gibt keinen echten Journalismus in der Vorwende-DDR. Die sich dort Journalisten nennen, sind Parteiarbeiter und „Weiterleiter“ – „kollektive Propagandisten, Agitatoren und Organisatoren“, wie es bei Lenin heißt. Die in den Redaktionen dabeibleiben, wissen und erdulden es. Nach der Wende schämen sich nicht wenige dafür. „Aufs Ganze gesehen, war der DDR-Journalismus ein von Opportunismus, Frustration und Dummheit heimgesuchtes Geschäft“, schreibt der Spiegel 1995. Auch wenn es weh tut – man muss es wohl so sehen.
Redakteure entdecken im Wendeherbst die Wahrheit
Es sind eben diese DDR-Journalisten, die in den Wirren des Umbruchs zu echten Lebenshelfern und Begleitern des Systemwandels werden. Oftmals die gleichen Redakteure, die noch gestern Beiträge über die Feinde des DDR-Sozialismus redigieren, schreiben nun über Missstände, Amtsmissbrauch oder langjährige Tabus.
Man kann DDR-Journalisten als Wendehälse bezeichnen, muss aber auch einräumen, dass sie schnell wissen – und wohl immer wussten, wie es richtig geht. Der nahtlose Übergang funktioniert auch, weil die Menschen in den Redaktionen selbst Beteiligte am Veränderungsprozess sind. Wie die Bürger bei Foren und Demonstrationen ihren Mut entdecken und ihre Meinung offen sagen, begeistern sich nun auch Journalisten an der unzensierten Wahrheit.
Zugute kommt den Redaktionen dabei, dass sie – im Gegensatz zu anderen Gliedern des alten Herrschafts- und Propaganda-Apparates – noch gebraucht werden. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen werden zu Multiplikatoren der neuen Sprachmächtigkeit. Sie verbreiten die Ergebnisse der Diskussionsrunden und Runden Tische. Sie veröffentlichen Programme und Forderungskataloge der neuen Parteien und Gruppierungen und liefern immer neue Details aus den einstigen Hinterzimmern der Macht.
Der Zorn der Leser auf die Redakteure hält sich in Grenzen. Bei den Erfurter Donnerstagsdemonstrationen skandieren Demonstranten vor dem Volk-Hochhaus „Schreibt die Wahrheit“. In die Redaktionsstuben kommen nur wenige – sie bleiben friedlich und freundlich.
Die Medien werden zur Plattform für das neue Mitteilungsbedürfnis. Leserbriefe, bis dahin streng auf Systemkonformität geprüft oder gleich ganz in den Redaktionen verfasst, füllen nun ganze Seiten. Die Nähe zu ihren Lesern sowie zu den Themen und Gerüchten, die diese schon zu Zeiten vor der Wende bewegten, die Kenntnis der Situation in den Betrieben und Gemeinden, all das verschafft den Ostredakteuren auch einen Vorteil gegenüber neuen Westblättern, die sich zu etablieren versuchen.
Viele DDR-Journalisten tun sich schwer mit ihrer Vergangenheit
Vieles dreht sich um die Aufarbeitung bisheriger Tabus – um sowjetische Internierungslager, Grenztote und Zwangsausgesiedelte, um verborgene Waffenlager oder die Jagdgelüste der gestürzten Bonzen. Befreit zu recherchieren, macht Spaß. Die Wertschätzung der Leser auch.
Zudem entdecken die Ostzeitungen ihre neue Service- und Ratgeberfunktion. In der Noch-SED-Zeitung Das Volk erscheint das Fernsehprogramm von ARD und ZDF. Nach der Maueröffnung erfährt man aus der Zeitung, wie man in den Westen kommt, wo es Westgeld gibt und welche Grenzübergänge wann neu geöffnet werden.
Ende ’89 müssen viele Neuerungen noch gegen die Parteileitungen und teils gegen die eigenen Chefredaktionen ertrotzt werden. Noch hängen die Blätter am Tropf der Berliner Zentrale, von der Geld und Papier kommen. In den sogenannten „Herbstmonaten der Anarchie“ aber scheint inzwischen nichts mehr unmöglich zu sein. Anfang Dezember tilgt die Volkskammer die führende Rolle der SED aus der Verfassung. Damit sind auch die Tage der Gängelung der Redaktionen gezählt.
Nach der Wende tun sich viele DDR-Journalisten schwer mit ihrer Vergangenheit. „Ja, aber“ ist oft zu hören. Ja, man war systemnah, aber man habe doch auch unter der Zensur gelitten und vieles „zwischen den Zeilen“ transportiert. Auch auf die Parteischule hat es manchen nur verschlagen, weil es nicht anders ging.
Wo die Selbsterkenntnis doch stattfindet, ist sie schmerzlich. So wie bei Alexander Osang, der nach der Wende schreibt: „Die Frage, was aus mir geworden wäre, wenn sich die Ereignisse nicht überschlagen hätten, macht mich ganz krank.“
Thüringer Allgemeine, 3. November 2014
Hanno Müller ist Reporter der Thüringer Allgemeine: Er war – zusammen mit Dietmar Grosser – federführend bei der großen Serie „Treuhand in Thüringen – Wie Thüringen nach der Wende ausverkauft wurde“, die mit dem Deutschen Lokaljournalistenpreis 2013 ausgezeichnet wurde. Die Serie ist auch als Buch in der Thüringen Bibliothek des Essener Klartext-Verlags erschienen (Band 9, 13.95 Euro)
Die Zeitung der Zukunft, die Zukunft des Journalismus und der Wert des Lokalen – Ein Interview
Wie würde Ihre Traumredaktion aussehen?, fragte mich Monika Lungmus vor dem Verbandstag des DJV in Weimar. Auf der Online-DJV-Seite ist die redigierte Fassung des Interviews zu lesen; hier die erweiterte Fassung.
Wie sehen Sie die Zukunft des Journalismus? Hat der Journalismus überhaupt noch eine Zukunft?
Paul-Josef Raue: Der Journalismus muss eine Zukunft haben. Denn eine Demokratie ohne gut recherchierenden, tiefgehenden Journalismus hat keine Chance. Wir reden hier nicht nur darüber, ob es weiterhin gedruckte Zeitungen geben wird.
Für eine Demokratie ist ein starker Journalismus unerlässlich. Das ist also auch eine Forderung an die Politiker. Sie müssen die Bedingungen erhalten, dass es einen Journalismus gibt, der die Mächtigen kontrollieren kann.
In der Branche wird ja bereits über Alternativen zur marktwirtschaftlichen Finanzierung des Journalismus diskutiert. Was halten Sie von der Diskussion?
Ich finde die Diskussion richtig, auch wenn ich glaube, dass die marktwirtschaftliche Konstruktion der Presse noch relativ lange, also in den nächsten zehn, zwanzig Jahren, Bestand haben wird. Ich sehe allerdings an den Rändern durchaus Probleme: Wir haben heute schon Landkreise, in denen sich eine Zeitung nicht mehr finanzieren kann. Hier funktioniert also die Kontrolle der Politiker nicht mehr ausreichend, obwohl gerade im Lokalen ein starker Journalismus notwendig ist.
Welche Förderung könnten Sie sich hier vorstellen?
Ich könnte mir auch private Initiativen vorstellen, sei es in Form von Stiftungen, von Vereinen oder mit Recherche-Stipendien von großen Organisationen; ich denke auch an vorbildliche Projekte wie „Zeitungszeit“ in Nordrhein-Westfalen, wo Land und Verlage gemeinsam Schüler an die Zeitung heranführen. Man müsste auch schauen, was andere europäische Staaten an Presseförderung betreiben.
Ich bin aber überzeugt, dass private Initiativen allein nicht reichen. Auch die Verlage haben die Möglichkeiten, die alte wie neue Medien bieten, noch lange nicht ausgereizt. Verleger, Manager und wir Redakteure müssen Konzepte entwickeln, wie wir den Inhalt – gerade im Lokalen und Regionalen – am besten an die Bürger und auch an verschiedene Zielgruppen bringen.
Mit dem lokalen und regionalen Inhalt haben wir einen kostbaren Schatz, den selbst Google und andere Mega-Digitalen nicht besitzen. Wir müssen viel intensiver über die Bedürfnisse der Menschen forschen: Was wollt ihr lesen – wann und in welcher Form?
Wir machen uns in Leitartikeln lustig etwa über die Bahn, wenn sie ihre Kunden nicht zufrieden stellt. Kennen Sie Verlage, die regelmäßig die Zufriedenheit der Leser ermittelt? Das ist auch ein Appell an Manager, denen mehr einfallen will als Sparen, aber auch an uns Journalisten: Wie sehen wir denn die Zukunft? Zudem ist es endgültig Zeit, die Mauer zwischen Verlag und Redaktionen einzureißen.
Wenn Sie mal aufs Handwerk schauen: Wie können und müssen sich Journalisten heute für die Zukunft aufstellen? Was erwarten Sie von künftigen Journalisten?
Das Bewusstsein für Qualität ist bei den Lesern enorm gestiegen. Der normale Leser ist nicht mehr abzuspeisen mit einer 0815-Berichterstattung.
Ganz vorne muss stehen, dass Journalisten wieder öfter zur Recherche kommen. Das ist nicht nur Sache des Spiegel oder der Süddeutschen Zeitung. Weit ins Lokale hinein müssen wir wieder tiefer und besser recherchieren und dafür auch die neuen Möglichkeiten des Datenjournalismus nutzen.
Was wäre für Sie noch wichtig?
Als ich Journalismus gelernt habe, mussten wir uns keine Gedanken machen, wie sich der Journalismus finanziert. Das ist heute anders. Die neue Journalisten-Generation, aber auch die der Älteren, muss über Geschäfts-Modelle nachdenken. Wir nutzen noch lange nicht unsere Möglichkeiten, wenn ich zum Beispiel an regionale Magazine denke, an Bücher, an Zielgruppen-Newsletter und vieles mehr.
Wir müssen die Strukturen aufbrechen: Muss die Zeitung immer und überall jeden Tag erscheinen? Oder zusätzlich am Sonntag? Wie können wir gezielt ganz bestimmte Zielgruppen erreichen? Das heißt: Wir müssen unser Spektrum an Möglichkeiten, wie wir unseren Inhalt ans Publikum bringen, deutlich erweitern.
Kommen wir zur Funke-Gruppe, zu der Ihre Zeitung gehört. Hier wird derzeit darüber diskutiert, ob alle zur Gruppe gehörigen Titel ihren Mantel künftig aus Essen erhalten sollen. Was halten sie von der Idee?
Wir führen unter den Chefredakteuren derzeit die Debatte, was wir zentralisieren können – um sowohl den Lesern mehr Qualität bieten als auch Redakteure wie Geld effektiv einsetzen zu können (zum Beispiel in die digitale Zukunft, die viel Geld fordert aber noch wenig einbringt). Die Konzern-Führung hat diese Aufgabe in die Redaktionen gegeben: Das ist der richtige Weg. Verlage, die es von oben verordnet haben, sind gescheitert, zu Recht.
Für unsere drei Zeitungen in Thüringen ist ein zentraler Mantel beispielsweise kein Thema. Wir haben gar keinen Mantel mehr im alten Sinne. Wir schreiben in unserer Thüringer Allgemeine von der ersten bis zur letzten Seite weitgehend aus der Perspektive der Leser. Wir haben nicht mehr den typischen Politikteil, den typischen Wirtschaftsteil – das ist bei uns alles sehr stark auf Thüringen bezogen, eben auf den Alltag und das Leben unserer Leser
Wir können in Erfurt, Weimar und Gera, wir können im Osten keinen Mantel aus Essen anbieten. Wir haben auch gar keinen Platz für einen fremden Mantel. Wir bieten unseren Lesern – und in erster Linie nicht aus Spargründen – eine relativ schmale Zeitung an, meist 24 oder 28 Seiten. Wir haben von unseren Lesern gelernt: Sie wollen eine Zeitung, die übersichtlich ist und ihnen das Wesentliche in hoher Qualität bietet, das sie in ihrer knappen Zeit bewältigen können. Sie wollen nicht suchen und blättern, sie wollen lesen.
Wir haben alles rausgeworfen, was aus Sicht der Leser nicht zur Kernkompetenz gehört. Wir verzichten etwa auf eine endlose Tagesschau-Wiederholung und komprimieren sie auf eine Seite.
Das Herz der Regionalzeitung ist das Lokale. Und dennoch wird hier vielfach gespart. Sie kennen dies selbst. Ihre Redaktion arbeitet ja im Lokalen – zum Beispiel in Weimar – mit der Thüringischen Landeszeitung zusammen. Wie passt das zusammen?
Zunächst: Unsere Lokalredaktionen sind nicht kleiner geworden. Wir haben im Lokalen denselben Personalstamm wie vor fünf Jahren, als ich in Erfurt angefangen habe.
Kleiner geworden ist die Zentralredaktion, so dass wir den Personalstamm in den Lokalredaktionen zusammen mit dem Thüringen-Desk halten konnten. Gleichwohl machen die Reporter in der Zentrale einen großartigen Job, holten vier Jahre hintereinander einen der Deutschen Lokaljournalistenpreise, darunter einmal den ersten für die exzellent recherchierte Treuhand-Serie; eine Reihe anderer renommierter Preise kam hinzu, auch für unsere Lokalredaktionen. Ich übertreibe also nicht, wenn ich die TA-Redaktion zu einer der besten in Deutschland zähle.
Zur Thüringischen Landeszeitung (TLZ), unserer Konkurrenz: Sie erscheint sowohl im Verbreitungsgebiet der Thüringer Allgemeinen(TA) als auch in dem der Ostthüringer Zeitung (OTZ). Die TLZ, eine frühere Zeitung der LDPD, ist eine relativ kleine Zeitung, aber sie hat eine große Bedeutung. Denn sie versammelt alle Leser, die kein früheres SED-Organ lesen möchten. Die Unterscheidung zur TA und OTZ spielt sich heute hauptsächlich in der Kommentierung von Thüringer und überregionalen Themen ab. Hier hat die TLZ eine klare eigene Positionierung.
Im Lokalen, das haben wir von den Lesern erfahren, können wir gut zusammenarbeiten. Die Redaktionen sprechen sich bei normalen Terminen wie Pressekonferenzen ab, wer was macht. Das betrifft zum Beispiel nicht unbedingt die Stadtratssitzungen, da behält jeder Titel sein eigenes Profil. Die Kooperation soll also dazu dienen, die Qualität im Lokalen zu erhalten.
Anfang der 90er Jahre erschienen in Thüringen noch 24 Tageszeitungen bei 2,5 Millionen Einwohnern, heute gibt es nur noch sechs Titel: Drei gehören zur Funke-Mediengruppe, drei zur Südwestdeutschen Medienholding. Was bedeutet diese eingebüßte Pressevielfalt für den Journalismus in Thüringen?
Das war in den Revolutions-Wirren eine besondere historische Situation. Ich habe ja selbst seinerzeit eine Zeitung gegründet: die Eisenacher Presse. Das war in jeder Hinsicht Wahnsinn – und in dieser Zeit richtig und wichtig.
Aber es war auch klar, dass das so nicht auf die Dauer funktionieren würde. Das bekommt man gar nicht finanziert: 24 Zeitungen,davon allein 7 in Eisenach, einer Stadt mit 50.000 Einwohnern! Ich halte heute sechs Zeitungen in einem Bundesland mit 2,2 Millionen Einwohnern für viel.
Die drei Titel unserer Funke-Gruppe arbeiten eigenständig. Jeder von uns freut sich, wenn er einen eigenen Coup gelandet hat. Natürlich kämpfen wir nicht so sehr gegeneinander. Wir kämpfen aber um das Interesse und die Zeit der Leser. Das ist das Entscheidende.
Und wenn jemand mit meiner Zeitung unzufrieden ist, dann geht er zur TLZ – oder umgekehrt. Er geht aber nicht in die Nicht-Leserschaft. Das ist der Vorteil unserer Konstruktion.
Wie würde Ihre Traumredaktion aussehen?
Ich würde mir eine Redaktion zusammenstellen, in der Recherche an erster Stelle steht. Ich würde mir junge Leute holen, die diesen „embedded journalism“, also die Nähe zu den Honoratioren, überhaupt nicht kennen.
Dann würde ich Mitarbeiter engagieren, die mit Daten umgehen können, die sich bestens mit der Technik auskennen.
Als Drittes wäre mir Verständlichkeit wichtig; die Leser müssen unsere Texte verstehen. Das Handwerk des verständlichen Stils müssen Redakteure perfekt beherrschen, sonst nutzt all der Recherche-Aufwand nichts. Und sie schreiben auch schön in dem Sinne, dass die Leser Lust aufs Lesen bekommen.
Viertens: Die Mitarbeiter meiner Traumredaktion gehen auf die Menschen zu, reden mit ihnen, nehmen wahr, wo deren Bedürfnisse liegen. Sie respektieren, ja sie mögen ihre Leser und lassen sie das spüren.
fünftens: Es müssten Leute sein, die ein Bauchgefühl für Überraschungen haben, die also Neues wagen, auch wenn Leserforschung und Leserbriefe anderes angeben.
Und der sechste Punkt hieße: Die Traumredaktion hat genügend Personal…
Auf jeden Fall. Wir sind derzeit an einem Scheidepunkt, wo Quantität und Qualität oft nicht mehr zusammenpassen. Aber generell glaube ich, dass Quantität nicht zwangsläufig Qualität bedeutet. Journalismus ist ein Beruf, für den man brennen muss. Jeder Beamte in einer Redaktion ist mir ein Graus.
Juden, Muslime und Christen segnen gemeinsam das neue Haus der „Braunschweiger Zeitung“
Das hat es wohl noch nie gegeben: Die vier großen Religionen schicken ihre Vertreter auf die Bühne des Versammlung-Saals der Braunschweiger Zeitung, die gestern vom Rand der Stadt ins Zentrum gezogen ist. Erst sprachen Geschäftsführer Wahls, dann Niedersachsens Ministerpräsident und Braunschweigs Oberbürgermeister – dann trat vor den vierhundert Gästen der ehemalige Domprediger Hempel ans Mikrofon und kündigte vier Segenssprüche an.
> Die Leiterin der Jüdischen Gemeinde begann mit einem Psalm-Wort: „Wenn der Ewige nicht das Haus baut, mühen sich die vergeblich, die daran bauen.“
> Der katholische Priester hofft auf ein „Haus des respektvollen Umgangs“.
> Der Leiter der muslimischen Gemeinden segnet mit dem barmherzigen Allah.
> Und die lutherische Dompredigerin zitiert den Propheten Jeremia: „Suchet der Stadt Bestes und sprecht Gedanken des Friedens und nicht des Leides.“
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Detailreicher der Liveticker der Braunschweiger Zeitung:
+++14:08+++ Den Reden im Kongresscenter folgen vier interreligiöse Segenswünsche, eingeleitet vom ehemaligen Braunschweiger Domprediger Joachim Hempel: „Das waren noch Zeiten, als Sprücheklopfer auch an der Langen Straße zwischen Andreas, Petri und der Franziskaner-Klosterkirche gut zu tun hatten: Kein Fachwerkhaus ohne Sinnspruch und Segenswort über Tür und Tor: ehrbares Handwerk!“, sagte er.
„Diese Form der Sprücheklopfer ist ausgestorben. Aber wer zurückkehrt von der Peripherie in die Mitte der alten Stadt – der hat Anspruch auf einen Glück- und Segenswunsch fürs Haus und für alle, die hier ein- und ausgehen. Und dieser Segenswunsch kommt von Juden, Christen und Muslimen gemeinsam, je in eigener Art, aber doch wohl erstmalig für ein Presse- und Medienzentrum in Deutschland eben gemeinsam: Segenssprücheklopfer des 21. Jahrhunderts mitten in unserer geliebten Stadt!“
+++14:10+++ Renate Wagner-Redding, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Braunschweig, sprach in Vertretung für Landesrabbiner Jonah Sievers: „Herr der Welt: Gib, dass alle die hier arbeiten, dies zusammen in Harmonie und zum Wohle unserer Stadt tun. Er möge allen Mitarbeitern bei ihrer schwierigen Suche nach der Wahrheit beistehen, auf dass sie niemals das Gebot „Du sollst nicht als Verleumder in deinem Volke umhergehen“ (Lev 19,16) überschreiten und die Macht ihrer Worte immer weise abwägen: „Durch Weisheit wird ein Haus gebaut, durch Verstand wird es erhalten. Durch Klugheit werden die Kammern gefüllt mit allerlei wertvollen, köstlichen Gütern“ (Spr. 24,3-4).“
+++14:11+++ Hayri Aydin, der Vorsitzende des Rats der Muslime in Braunschweig, sagt:
„Ich wünsche Ihnen, dass Sie auch zukünftig immer zuerst fragen: Wer will was wissen?, und immer den Menschen im Blick haben. Keinen Tag soll es geben, an dem Sie sagen müssen: Niemand ist da, der uns hört. Keinen Tag soll es geben, an dem Sie sagen müssen: Niemand ist da, der uns liest. Keinen Tag soll es geben, an dem Sie sagen müssen, niemand ist da, der uns hilft.“
+++14:13+++ Die Braunschweiger Dompredigerin Cornelia Götz sagt, ein Haus zu segnen sei zwar nicht protestantisch – aber den Menschen, die in diesem Haus ein- und ausgehen, arbeiten, denken, Meinungen bilden und Urteilsfindung begleiten, Gottes Segen für ihr Tun und Lassen zu wünschen, sehr wohl. „So möge, was hier geschieht und von hier ausgeht der Stadt Braunschweig Bestes suchen, dem Frieden dienen und für die Zukunft förderlich sein“, sagt sie. „Möge es gelingen, bei der Wahrheit zu bleiben und unserem Nächsten zu dienen, wer immer es ist. Und möge in allen Herausforderungen und Schwierigkeiten nicht vergessen werden, dass Gott uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben hat, sondern einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“
++ Für die Katholiken spricht Propst Reinhard Heine: „Segne dieses Haus. Erfülle die Menschen, die in ihm ein und ausgehen, mit dem Geist der Wahrheit und der Liebe. Lass dieses Haus ein Ort eines respektvollen und wertschätzenden Umgangs miteinander sein.“
Von welchem Journalismus träumen Sie? Wie sieht der Journalist der Zukunft aus? (Antworten zum DJV-Verbandstag)
Der Bundesverbandstag des Deutsche Journalisten-VerbandS (DJV) steigt mit etwa 350 Delegierten am 3. und 4. November 2014 in Weimar. In einem Magazin geben neben anderem die Thüringer Chefredakteure Antworten auf drei vorgegebene Fragen. Hier sind meine:
Von welcher Art Journalismus träumen Sie?
Ich muss nicht träumen, diesen Journalismus gibt es seit der Erfindung unabhängiger Zeitungen: Er kontrolliert die Mächtigen; er hilft den Bürgern durch verständliche und tiefgründige Artikel, die richtigen Entscheidungen in einer Demokratie zu treffen bei Wahlen, bei eigenem Engagement in Initiativen oder im Ehrenamt; er scheidet das Unwichtige vom Wichtigen. Und er erzählt, wann immer es möglich ist, von Menschen und ihren Plänen, Schicksalen und Hoffnungen, von ihrem Glück und ihrem Elend – damit Leser Lust aufs Lesen bekommen und Stoff für ihre Unterhaltungen, wo auch immer.
Welche Anforderungen stellen Sie an Journalistinnen/Journalisten?
Sie beherrschen ihr Handwerk, so wie es seit langem geachtet ist (siehe Antwort auf Frage 1), aber verbinden es souverän mit den neuen digitalen Möglichkeiten in Recherche und Darstellung. Vor allem haben sie hohen Respekt vor den Lesern, den älteren wie auch den jungen, deren Bedürfnisse sie erkennen und befriedigen müssen. Das ist nicht neu, war aber in den seligen Zeiten des Beamtenjournalismus belächelt: Sie kümmern sich um die Leserforschung, die ihnen auch unbekannte Wünsche der Leser verrät, und sie entwickeln Ideen, wie unabhängiger Journalismus auch in Zeiten schwindender Werbe-Umsätze zu finanzieren ist – und die Demokratie ihr stabiles Fundament behält. Dazu brauchen sie, wie seit altersher, Selbstvertrauen ohne Hochmut, Zivilcourage, Nervenkraft und die Fähigkeit der Unterscheidung.
Wie sieht die Thüringer Medienlandschaft in 10 Jahren aus?
Propheten haben im Journalismus nicht zu suchen, sie sollten in Beratungsfirmen gehen, die an dem Thema gut verdienen. Gehen wir von Sicherheiten aus: Die Bürger werden immer unabhängigen Journalismus brauchen und achten, Journalismus der sie respektiert, also verständlich und attraktiv ist, und der sie dort abholt, wo sie leben und träumen. Und da es immer noch Filme und Bücher gibt – weit über ihr prophezeites Todesdatum hinaus -, wird es auch immer gedruckte Zeitungen geben. Wahrscheinlich erleben wir eine Renaissance der Tageszeitung schneller, als wir denken. Aber bei allem Pessimismus, in dem sich Redakteure gerne suhlen: Es kommt allein auf guten Journalismus an, gleich wie er dargeboten wird.
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Antworten auf Fragen des DJV Thüringen, der zum Verbandstag in Weimar den Delegierten in einem Magazin Thüringen vorstellt.
Volontariat der Zukunft (3) / Schümchen: Ausbildung muss schnell auf Veränderungen in der Branche reagieren
Auch wenn die Digital Natives nichts Gedrucktes mehr lesen – für das Machen von Printmedien
können sie sich regelrecht begeistern. Sobald die Chance besteht, dass ein Artikel tatsächlich
gedruckt wird, steigen die Leistungen automatisch. Bei Online-Beiträgen kann ich das nicht
feststellen. Print hat offenbar doch noch einen Reiz…Die Medienausbildung muss heute schnell auf die Veränderungen in der Branche reagieren können,
ja im Idealfall bei neuen Entwicklungen gleich mit dabei sein. Wir haben recht früh Themen wie
Crowdfunding, Webdocumentaries oder Mobile Reporting in experimentellen Projekten thematisiert
und ausprobiert. Das setzt an einer Hochschule allerdings voraus, dass es keine starren Curricula
gibt, die für Jahre im Voraus feststehen. Das Aufgreifen aktueller Trends muss zum
Ausbildungsprogramm gehören.
Quelle: W&V Online 25.9.14 Interview mit Professor Andreas Schümchen, Hochschule Bonn-Rhein-Sieg; Schwerpunkt Printmedien und Redaktionsmanagement.
Volontariat der Zukunft (2): Welchen Schwerpunkt setzen?
Es gibt einen Schwerpunkt: Hochwertigen Journalismus sichern, der den Menschen in einer Demokratie gefällt, dient und nutzt. Daraus leitet sich der Inhalt der Ausbildung ab.
Das ist der zentrale Satz im schriftlichen Interview mit der Drehscheibe, die in einer ihrer nächsten Ausgaben über Volontärsprojekte berichten will. Dies ist das Interview über das Volontariat bei der Thüringer Allgemeine:
Worauf legt der Verlag Wert bei der Ausbildung?
Die Volontäre sollen die Fähigkeit lernen oder kräftigen, den Veränderungen von Gesellschaft und Medien mit Engagement und Können zu folgen:
> Sie lernen zwar den Ablauf in Redaktionen kennen, aber schauen kritisch auf Routinen und Fallstricke;
> sie entwerfen Konzepte für einen noch besseren Journalismus, vor allem im Lokalen;
> sie konzipieren effektive Organisationen, vor allem im Zusammenspiel mit den Online-Medien;
> sie probieren Modelle für Beteiligungen von Lesern aus, die von Konsumenten zu Mitdenkern und Mitmachern werden;
> sie entwickeln neue Ideen und Produkte – sowohl Online wie in den traditionellen Medien -, um auch in Zukunft guten Journalismus finanzieren zu können.
So lernen sie Methoden und Umsetzung von Leserforschung kennen, Möglichkeiten und Grenzen des Marketings, optimale Strukturen sowie Selbstorganisation. Sie überschreiten die Grenzen des Zeitungs-Journalismus, arbeiten bei Zeitschriften und Nachrichtenagenturen und eigenständig in Projekten.
Auf der einen Seite lernen die Volontäre das Spektrum des Journalismus kennen wie in einem „Praktikum Universale“, auf der anderen Seite sollen die besonderen Begabungen und Fähigkeiten erkannt und gefördert werden. So können wir Nachwuchs für Führungs-Positionen entdecken oder Talente für Organisations-Aufgaben oder für tiefe Recherchen oder Online-Spezialisten oder Verliebte in Kultur, Wirtschaft oder die lokale Welt usw.
Nach dem Volontariat treffen sich die Redakteure zu Tages-Seminaren, um ihren Fortschritt zu kontrollieren, neue Ideen zu diskutieren und Schwierigkeiten anzusprechen und zu bewältigen.
Welche Schwerpunkte werden in der Ausbildung gesetzt?
Es gibt einen Schwerpunkt: Hochwertigen Journalismus sichern, der den Menschen in einer Demokratie gefällt, dient und nutzt. Daraus leitet sich der Inhalt der Ausbildung ab:
> Als Grundlage zuerst das Handwerk, das jeder beherrschen muss: Recherche, informierende und unterhaltende Information, Meinung.> Dem Handwerk folgt die Haltung: Die Ethik des Journalismus, der Dienst am Leser und die Leidenschaft für den schönsten Beruf in einer offenen Gesellschaft.
> Auf Handwerk und Haltung folgt die Lehre der Verständlichkeit, also der Wille so zu schreiben, dass die Menschen mit Lust und Gewinn lesen.
Die gesamte Ausbildung ist multimedial. Die neuen Möglichkeiten des Journalismus – etwa Daten-Journalismus, soziale Netzwerke, Timeline – sollen erlernt und ausprobiert werden. So endete die Ausbildung mit einer Recherche-Woche, in der die Volontäre eine Multi-Media-Reportage produzierten mit Notizblock, Kamera, Video und Diktiergerät – fürs Internet und eine Sonderausgabe der Wochenend-Beilage.
Volontariat der Zukunft (1): Wie könnte die Ausbildung aussehen – am Beispiel der TA
„Der Traumberuf Journalist braucht vor allem Respekt vor den Menschen“ ist ein TA-Artikel überschrieben über die Ausbildung der Volontäre – in einer Extra-Ausgabe des „Thüringen Sonntag“, der Wochenend-Beilage. „Grenzgänger“ nennen die Volontäre ihr Gesellenstück: Zum Abschluss ihrer Ausbildung recherchieren sie eine Woche lang im deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländereck und erzählen Geschichten von Menschen, die Grenzen überwinden – auch ihre eigenen. Am heutigen Montag (29.9.14) werden die fünf Nachwuchs-Redakteure der TA in Dresden mit einem der deutschen Lokaljournalisten-Preise ausgezeichnet.
Wer vor fünfzig Jahren Journalist werden wollte, verbrannte sich die Finger, buchstäblich. Der Lehrling, der in einer Redaktion Volontär heißt, ging an seinem ersten Tag in die Druckerei: Das, was er geschrieben hatte, wurde von Maschinen in Blei gegossen, Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz, Artikel für Artikel.
So verschwand das, was ein Redakteur dachte und schrieb, nicht in unsichtbare Computer-Sphären, sondern war fassbar: Geist wurde zu Materie – was für eine wunderbare Welt! „Schau Dir an, was Du geschrieben hast!“, sagte der Mann an der Bleisetzmaschine und forderte auf: „Greif zu!“
Der Volontär griff zu und packte die in Blei gesetzten Zeilen – und ließ sie sofort auf den Boden fallen, wo der schöne Artikel heillos zerwirbelte. Das Blei war heiß, viel zu heiß, um es gleich in die Hand nehmen zu können.
Die Setzer lachten über das alte Spiel, das schon ihre Vorfahren getrieben hatten, und bestanden auf dem Einstand: Ein Kasten Bier.
Mit beweglichen Lettern, also Buchstaben aus Blei – so druckte man Zeitungen und Bücher ein halbes Jahrtausend lang, erfunden von Johannes Gutenberg in Mainz. In wenigen Jahrzehnten am Ende des vergangenen Jahrhunderts verschwanden Blei und schwere Druckplatten, die man spiegelverkehrt lesen musste: Heute ist alles digital, fast digital. Nur den Redakteur gibt es selbstverständlich noch, doch aus dem Denker und Schreiber ist auch ein Setzer geworden dank perfekter Computer-Programme.
Die Revolution der Technik spiegelt sich auch in der Ausbildung wieder: Heute verbrennt sich kein Volontär die Finger mehr, heute braucht er nur noch seinen kleinen Computer und kann schreiben und fotografieren und filmen und telefonieren, wo immer er sich auch aufhält – und Seiten bauen für die Zeitung und das Internet.
So entstand eine Sonderausgabe des „Thüringen Sonntag“ nicht in den TA-Redaktions-Räumen, sondern in einem Kloster an der polnischen Grenze – in einer Recherche-Werkstatt zum Abschluss des Volontariats.
Es ist das Gesellenstück einer neuen Redakteurs-Generation, ein Stück das gleichzeitig für das Internet, die sozialen Netze und die Zeitung produziert wird.
Schon zu Beginn ihrer Ausbildung haben die Volontäre in einer Reportage-Woche ihr Können gezeigt: Sie porträtierten Menschen und ihre Arbeit in der Landwirtschaftsgesellschaft in Bad Langensalza – und wurden dafür gleich mit zwei Preisen für Nachwuchsjournalisten geehrt.
Was ist neu an der Ausbildung? Sie ist komplett multimedial. Die Volontäre probieren die neuen Möglichkeiten des Journalismus aus, sie wühlen und schreiben in sozialen Netzen und üben sich beispielsweise im Daten-Journalismus – der mehr ist als Googeln, der im Internet schürft und in großen, allgemein zugänglichen Datenbanken.
Doch die eigentliche Revolution spielt sich nicht nur in der Technik ab, sondern in unserer Gesellschaft: Noch nie war Kommunikation so einfach, so laut, so überwältigend und so teuer wie heute.
Wer durch die Straßen flaniert, sieht nur noch Menschen, die telefonieren oder auf ihrem Smartphone die neuesten Mitteilungen studieren. Die Welt ist zum Marktplatz geworden. Noch vor einigen Jahrzehnten war es der Journalist, der Nachrichten entdeckte und weitergab und seine Meinung dazu verkündete. Heute kann es jeder. Wird der Journalist überflüssig?
Nein, im Gegenteil – er ist wichtiger denn je, aber seine Aufgaben verändern sich.
> Der Redakteur hilft den Menschen, sich nicht hilflos in der Fülle der Informationen zu verirren: Er findet das Wichtige und sortiert das Unwichtige aus; er scheidet wirkliche Nachrichten von Gerüchten, Vermutungen und nutzloser Plauderei.
> Er erklärt intensiv, was die Welt seiner Leser und die große Welt zusammenhält; er schaut noch tiefer in die Kulissen unserer aufgeregten Zeit und erzählt Geschichten aus dem Leben statt nur sachliche und oft schwer verständliche Nachrichten weiterzugeben; er entdeckt mit List und Geschick, was die Mächtigen verheimlichen wollen.
> Er weiß, dass die Leser – und nicht nur die jungen – von Konsumenten zu Mitdenkern und Mitmachern geworden sind; sie wollen ihre Meinung sichtbar machen, sie wollen – gerade im Osten – die neue Meinungsfreiheit nutzen und genießen: Wie organisiere ich eine faire und unterhaltsame Beteiligung der Menschen? Wie entdecke ich originelle, mutige, gar kostbare Ideen und Meinungen, damit sie nicht eingehen wie Wassertropfen in dem Ozean, den wir Internet nennen?
Unsere Volontäre schauen vor allem auf die lokale Welt, auf den Alltag der Menschen, für die sie schreiben, auf die Nachbarschaft, die Heimat: Wie können wir – ob in der Zeitung oder im Internet – die Bedürfnisse der Menschen und ihre Wünsche, auch die heimlichen, erfüllen? Unsere Volontäre arbeiten mit der Lese-Forschung: Wie lesen die Menschen? Was lesen sie – und wann?
Kurzum: Die Volontäre lernen die Fähigkeit, den Veränderungen von Gesellschaft und Medien mit Engagement und Können zu folgen. Zuallererst lernen sie allerdings, was den Journalismus seit altersher ausmacht: Gescheit die Mitmenschen zu informieren, verständlich zu schreiben – und so unterhaltsam, dass sie die Lust aufs Lesen entzünden.
Ach, werden manche Leser klagen (nicht nur Studienräte und Liebhaber unserer schönen Sprache): Lernen Sie denn auch die Beherrschung unserer Sprache?
Ja, aber wir können im Volontariat nicht alle Defizite von Schule und Hochschule ausgleichen. Wir sind nicht die einzigen, die klagen: An der größten Schweizer Journalistenschule ist vor Kurzem ein neues Fach eingerichtet worden – Grammatik.
Auch wenn böse Zungen das Gegenteil beschwören: Journalist ist ein Traumberuf – und bleibt ein Traumberuf. Wer davon träumt, sollte aber mitbringen: Respekt, wenn nicht gar Liebe zu den Menschen; Lust am Schreiben und eine große Portion Können; Erfahrung als Freier in einer Redaktion oder Inhaber eines Blogs, der ständig gefüllt und kommentiert wird.
Wer sich also bewerben will, dem sei geraten: Zeige Leidenschaft für einen der schönsten Berufe der Welt! Das Handwerk kann man erlernen, das Brennen der Leidenschaft nicht.
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Thüringer Allgemeine 27. September 2014
Facebook Kommentar von Wolfgang Kretschmer (30.9.14)
Habe als Volontär selber noch zu Schreibmaschinenzeiten „Bleisatz“ gelernt. Auf dem Arbeitstisch stand ein Töpfchen mit Pinsel und Leim („Elefantensperma“, falls man im Schreibeifer Bewässerung vergaß), um Agenturnachrichten und eigene Texte,teils in der Eile mit Sauklaue geschrieben, zusammenzuschneiden und zusammenzukleben. Bis dann der „Sätzer“, ehemaliger TAZ-Jargon, mit den Druckfahnen kurz vor Redaktionsschluss erschien und einem bewies, dass man Zeilenanschläge falsch berechnet und sich überhaupt in manchen Details geirrt hatte.
Raue rückt den „Traumberuf Journalist“ in die Nähe von Hohen Priestern demokratisch gesinnter Menschenfreundlichkeit. Wenn dem nur so wäre. Volontäre (m/w) werden in der Regel über Jahre hinweg nach Gutdünken der jeweiligen Verlage miese bezahlt und lange hingehalten mit der Aussicht auf Festanstellung. Sie erleben entweder im eigenen Verlag oder sehen an anderen Blättern das fortlaufende Zeitungssterben und fühlen sich derzeit hineingeworfen in den Orkus von Print und Online. Darauf lässt sich keine Lebensplanung aufbauen, die einem freien Geist seit jeher zu produktiver journalistischer Arbeit Raum schuf.
Erinnert sei nur an Schiller, den Publizisten, ständig bemüht, neue Einkommensquellen aufzutun. Ohne die verlässliche Zulieferung von Texten freier Mitarbeiter, den eigentlichen Seitenfüllern nicht nur in Lokalzeitungen, wäre selbst deren Redaktionsleiter oder Chefredakteur verratzt. Diee eigentliche Frage wäre also, was treibt einen überhaupt an, Volontär zu werden? Heutzutage wieder eine fast brotlose Kunst wie einmal in früheren Zeiten, obwohl immer bessere Qualifikationen erwartet werden. Ich gebe zu, als Redakteur in besseren Zeiten auch gewerkschaftlich orientiert und sehr neugierig auf Menschen unterwegs gewesen zu sein.
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