Findet die Medienzukunft ohne Frauen statt?
Christian Seifert, Frank Schirrmacher, Christoph Schuh, Earl Wilkinson, „The Times“, „Daily Telegraph“, „Göteborgs-Posten“ und die Otto Group sind einige der vielen Höhepunkte auf der Bühne des Multimedia-Kongresses „Zeitung Digital“ am 19. und 20. Juni in Frankfurt am Main.
So beginnt die Einladung für den Multimedia-Kongress der deutschen Zeitungsverleger (zusammen mit der Ifra und der WAN,dem internationalen Verlegerverband). Es folgen 16 Porträt-Fotos – allesamt männlich. 16 männliche Höhepunkte also.
Wo bleiben die Frauen? Ist die Zukunft der Medien wirklich nur männlich? (Abgesehen von der Otto Group, die wenigstens grammatisch weiblich ist.)
Journalist – ein Traumberuf ohne Festanstellung
Online! Online! Online! Nein, am Lehrplan der Deutschen Journalistenschule hat sich grundlegend nichts geändert:
Eine Nachricht ist eine Nachricht, ein Kommentar ist ein Kommentar, ganz gleich, für welches Medium man arbeitet.
sagt Jörg Sadrozinski, Leiter der Journalistenschule und Ex-Chef von tagesschau.de, in einem FAZ-Interview . Was ist neu im Lehrplan?
- Selbstvermarktung von freien Journalisten, weil nur noch 30 Prozent der Abgänger eine feste Stelle bekommen;
- Tipps zur Gründung von Redaktionsbüros;
- Online-Technik (CMS), denn „ohne Technik geht im Journalismus nichts mehr“.
Immerhin bewerben sich jedes Jahr noch 1500 junge Leute für einen der 45 Plätze an der Schule, ein Viertel weniger als vor einigen Jahren. Also, sagt Jörg Sadrozinski, „Journalist ist nach wie vor ein Traumberuf“.
Es gibt laut Sadrozinski viele Freie, die gut leben können; die meisten arbeiten ein Drittel ihrer Zeit in einer Nachrichtenredaktion, ein Drittel an Buchprojekten, ein Drittel an Magazingeschichten.
Auf die Frage von Julia Löhr, ob es ihm weh tue, wenn Journalisten PR machten und für Unternehmen arbeiteten, kommt die Antwort „relativ gelassen“:
Wichtig ist, dass sie ihren Job gut machen, also präzise recherchieren, verständlich schreiben und mit Begeisterung bei der Sache sind. Die Kundenmagazine einiger großer Unternehmen unterscheiden sich in ihrem Anspruch und ihrer Aufmachung kaum von den klassischen Publikumszeitschriften. Das ist mitunter richtig guter Journalismus.
Quelle: FAZ, Beruf und Chance, 27. April 2013
Anton Sahlender hat auf Facebook kommentiert:
Eine Nachricht ist zwar eine Nachricht, aber ihre Online-Präsentation, ihre Sprache und ihr Aufbau sollten in vielen Fällen wohl anders aussehen. An dem, was j
journalistische Sorgfalt betrifft, darf sich nichts ändern…*
Ich denke, es lohnt sich auch über eine Veränderung der „Ansprache“ in meinungsbetonten Beiträgen ernsthaft nachzudenken.
Offshore-Leaks: Journalisten treiben Europas Finanzminister
Ohne die Steueroasen-Recherchen und -Enthüllungen der Süddeutschen hätten sich die Finanzminister in Brüssel nicht auf eine Initiative gegen Steuerflucht geeinigt. An diesem Wochenende ist durch den Druck der Offshore-Leaks in Europa mehr bewegt worden als in den Jahren zuvor.
Das beweist dreierlei:
1. Wichtiger als alle Online-Print-Debatten, wer die Schönste sei im Land, ist die Qualität des Journalismus, ob lokal, national oder weltweit.
2. Tiefe und unabhängige Recherche macht die Qualität des Journalismus aus. Sicher müssen Medien auch Orientierung geben und die Welt verständlich machen, aber dies ist ohne Recherche von geringerem Wert.
3. Demokratie gelingt nur durch freien Journalismus, der seine Quellen schützen darf und dabei auch vor und von dem Staat geschützt wird, und der aufwändige Recherchen finanzieren kann.
Dies ist mein Leitartikel, geplant für die Thüringer Allgemeine (15. April 2013)
Endlich wollen Europas Finanzminister, fast geschlossen, Steuerflüchtlinge jagen, also Millionäre, die ihr Geld in Oasen verstecken – ohne an die Gesellschaft zu denken, in der sie leben und von der sie leben.
Milliarden Euros werden gar nicht versteuert. Deutschland und anderen Ländern können so Geld, das den Bürger zusteht, weder in Bildung oder Entschuldung stecken noch zum Stopfen der Schlaglöcher in den Straßen.
Die Finanzminister, voran Wolfgang Schäuble, zeigten sich am Wochenende entschlossen, um jeden Steuer-Euro zu kämpfen; nur Österreichs Finanzministerin kämpft noch für das Schwarzgeld, das ihr Land reicht macht.
Warum erwachen die Minister? Sind Steueroasen nicht lange bekannt? Schüttelt die Finanzkrise Europa nicht seit Jahren?
Es sind Journalisten, die sie treiben. Sie haben detailliert aufgespürt, wer seine Millionen versteckt. Journalisten sind über zwei Millionen Dateien zugespielt worden. Da Journalisten ihre Informanten nicht preisgeben, bekommt Wolfgang Schäuble die Dateien nicht – und muss selber Initiative entwickeln.
Wer einen Beweis braucht, wie notwendig und nützlich freier Journalismus ist, der schaue nach Brüssel, wenn sich die Finanzminister treffen.
Caveman, Shitstorm und die „Stille Post“: Wenn Journalisten voneinander abschreiben
Wir sind auf eine fiktive Shitstorm-Agentur hereingefallen, wir entschuldigen uns – so die SZ in ihrem Feuilleton vom 6. April über ein Interview, das sie am 5. April veröffentlicht hatte und auch Grundlage meines Blog-Eintrags war.
In dem Interview behauptete ein offenbar tatsächlich existierender Oliver Bienkowsky, er würde gegen Geld Shitstorms organisieren; dabei würden ihm Obdachlose helfen, die falsche Profile in sozialen Netzwerken anlegten. Das sei eine Medienmanipulation.
Auf seiner Webseite schreibt „Cavemann“:
Im Gegensatz zu Unternehmen haben Gruppen am Rande der Gesellschaft keine große Lobby, die es ihnen ermöglicht, mit viel Investment große Reichweite und Aufmerksamkeit für ihre lebensbedrohlichen Anliegen zu finanzieren.
Jetzt nutzen wir unsere erprobten Mechanismen und Hebel der Medienmanipulation, um ein Thema aufzuzeigen und wieder zur Diskussion zu bringen, welches uns besonders am Herzen liegt:
Obdachlose Menschen und das grassierende Wohnungsproblem in deutschen Städten sollten noch mehr ins Tageslicht und so auf die Titelseiten gerückt werden.
Dieses Vorhaben ist uns geglückt mit einer geschickt platzierten Story, die das eigentliche Thema in satirischer Art und Weise aufgreift.
Wir gaben bekannt, dass wir fortan Obdachlosen einen Tagesaufenthalt bieten. Bei medizinischer Pflege, frischem Obst und Essen, wird die Zeit genutzt, um an Computern an der Erstellung von Facebook- und Twitter-Kommentaren zu arbeiten. Die Aussage krönten wir noch mit der Erwirtschaftung von Gold in Onlinegames wie World of Warcraft und der Betreuung von Shit- und Candystorms im Internet.
Wir bedanken uns bei allen Medienverlagen und Onlineredaktionen, das Sie dem Thema Obdachlosigkeit für kurze Zeit einen Platz in der Berichterstattung eingeräumt haben.
„Caveman“ beschreibt detailliert das Drehbuch der „Medienmanipulation“:
1. Am 07.11.2012 stellten wir auf www.caveman-werbeagentur.de/shitstormagentur die bekannte „Shitstormagentur“ Seite ins Netz. Zusätzlich reservierten wir die Domain www.shitstormagentur.de
Wir indexierten diese bei Google und waren kurze Zeit später im Google Index unter dem Begriff „Shitstormagentur“ auf Seite 1.
Parallel schalteten wir auch zu dem Suchbegriff „Shitstormagentur“ Google Adwords Anzeigen.
So lagen wir perfekt in der Google Suche, um vom einem Redakteur entdeckt zu werden. Nun legten wir uns auf die Lauer.
2. Schon im Dezember, nachdem wir diese Aktion auf unserer Facebook Fanseite promotet hatten und die Google Adwords-Anzeigen wirkten, sprangen 10-20 Personen bei Twitter und Facebook an – und berichteten über unsere Aktion.
Doch das Interesse war gering, keine Zeitung oder Onlinedienst sprang auf die Tweets und Facebook Berichte an, OBWOHL bei Twitter Tweets wie „Aktiver Image-Abbau durch die eigene Klientel: was sagen @bvdw und @wuv zum Thema: Shitstorm kaufen?! http://www.caveman-werbeagentur.de/shitstormagentur …“
herumgeisterten.
W&V hatte also schon am 21. Dezember 2012 die Möglichkeit zu berichten. Doch dieser Sturm verebbte schnell wieder. Nun mussten wir noch ein wenig länger warten.3. Als dann am 31.03.2013, ohne dass wir es vorher wussten, die ZEIT auf der ersten Seite im Feuilleton den Bericht „Nehmt es als Erfrischung“ veröffentlichte und unsere Dienstleistung nannte, startete unser Raketentriebwerk die nächste Stufe.
Dazu mussten wir nichts machen. Zuerst kontaktierte uns Telepolis / Heise Online – hier versuchten wir die IT-Security Vergangenheit und Zeitungsartikel über WLAN Sicherheit dazu zu nutzen, eine glaubhafte Story zu präsentieren. Das klappte dann auch soweit. Der Redakteur rief bei uns am 02.04.2013 an. Der Artikel erschien am 03.04.2013.
4. Jetzt ging die Sache richtig los. Am 03.04.2013 19 Uhr kopierte Focus Online die Meldung um 19 Uhr von Heise. Nach einem Telefonat mit Meedia.de folgte auch dort ein Artikel. Die in der Schweiz ansässige Werbewoche übernahm am 03.04.2013 den Bericht direkt von Meedia.de. Die Stille Post ging also immer weiter.
Am Abend des 03.04.2013 wechselten wir die Profilbilder von Oliver Bienkowski auf unserer Agenturseite, bei Twitter, Xing und Facebook gegen ein gemeinsames Satire- Foto von Martin Sonneborn (Titanic) und Oliver Bienkowski aus. Martin Sonneborn hat mit der Aktion nichts zu tun, es ist nur ein Foto das beim Besuch seiner Show Satire & Krawall in Düsseldorf entstanden ist.
5. Nun schalteten wir die nächste Raketenstufe. Unsere Behauptung am 04.04.2013:
Wir beschäftigen Obdachlose, die den ganzen Tag World of Warcraft Gold farmen, auf Facebook Profile klicken und bei Twitter Nachrichten schreiben, Shitstorms organisieren und gewitzte Kommentare hinterlassen.
Am 04.04.2013 fiel Horizont.net auf, dass erst einmal ein wenig Satire durchklingt und es ein Foto von Martin Sonneborn und Oliver Bienkowski auf der Homepage gibt.
6. An diesem Tag gaben wir auch der Süddeutschen Zeitung ein Interview, das am 05.04.2013 auf Seite 1 im Feuilleton erscheint. Gute Sache, 68.000 Euro Image und Markenwerbung gespart – so viel kostet eine Seite Werbung in der Süddeutschen Zeitung.
7. Am Abend des 04.04.2013 fuhren wir mit Gebäck und einem Schild mit der Aufschrift „580.000 Obdachlose sind eindeutig zu viel!“ zur uns bekannten Düsseldorfer Bahnhofsmission. Hier verteilten wir schon im Dezember 2012 selbst gebackene Kekse. Wir schossen das Foto vor der Bahnhofsmission.
8. Nun veröffentlichen wir in der Nacht des 05.04.2013 vor der logistischen Auslieferung aller Zeitungen die Auflösung auf unserer Homepage. Allen interessierten Lesern der Zeitungsberichte wird beim Besuch unserer Webseiten die Auflösung präsentiert.
Diese Satire wirft nicht nur einen Blick auf das Leiden der Obdachlosen, sondern auch auf die Arbeitsweise von Journalisten (dieser Blog eingeschlossen): Was „Caveman“ stille Post nennt, ist das unendliche Abschreiben ohne eigene Recherche – das durch die Online-Hektik noch zugenommen hat und vor allem im Medienjournalismus bis zum Überdruss praktiziert wird.
Die Süddeutsche brachte ihren Reinfall nicht nur als kleine Korrekturmeldung, sondern als Dreispalter auf der ersten Feuilletonseite, so als hätte sie eine Gegendarstellung am Ort die Erstveröffentlichung bringen müssen. Kompliment! Andreas Kreye endet seinen Dreispalter:
Trifft es andere, berichten auch wir davon mit Vergnügen. Nun traf es uns.
Annika Bengtzon (6): Der Chefredakteur – eine tragische Figur („Ohne uns wäre die Demokratie zerbrechlicher“)
In den österlichen TV-Filmen mit der Reporterin Annika Bengtzon ist der Chefredakteur ein verhuschter Mann im Hintergrund, während der Nachrichtenchef als ein netter Bär durch die Redaktion tappst, Aufträge verteilt, aber hübsch unverbindlich bleibt.
In den Romanen von Liza Marklund ist der Chefredakteur eine nachdenkliche, aber gebrochene Persönlichkeit, der an sich, der Welt, der Zukunft und an seiner Redaktion zweifelt; dagegen ist der Nachrichtenchef der „Mann mit Schwedens schlechtestem Urteilsvermögen“.
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„Das ist wirklich nicht meine Welt“, resigniert der Chefredakteur Schyman angesichts des Terrorismus und des Sicherheitswahns als Reaktion der westlichen Welt. „Wo Terrorismus beginnt, stirbt die Freiheit des Individuums“
Wo aber die Freiheit beschnitten wird, gerät auch der Journalismus in Gefahr, wird „das Prinzip der Öffentlichkeit eine leere Hülle“. Er verfällt in Selbstmitleid:
Um die Interessen der neuen Zeit wahrzunehmen, bedarf es vermutlich eines neuen Schlags von Journalisten, und die brauchen wohl eine neue Art der Führung. (Nobels Testament, Seite 38f.)
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Als Schyman Chefredakteur wird und alle in den neuen Nachrichtenraum umziehen, gibt er sein protziges Büro auf; er bezieht am Rande des Nachrichtenraums ein „anspruchsloses Kämmerchen“, in dem er dem Aufsichtsratsvorsitzenden nicht einmal einen Besucherstuhl anbieten kann.
In einem bizarren Gespräch mit dem Aufsichtsrats-Vorsitzenden zeigt der Chefredakteur die neuen, engen und billigen Redaktionsräume, preist die Effizienz, während der Aufsichtsrat wissen will, warum kein Redakteur die Kompetenz habe, über den Justizombudsmann zu schreiben.
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Als der Chefredakteur angewiesen wird, sechzig Stellen zu sparen, überlegt er, den Hut zu nehmen – aber gibt sich nicht der Illusion hin, unersetzlich zu sein: „Jeder Hanswurst konnte eine Zeitung machen.“ (Lebenslänglich 116)
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Der Chefredakteur zweifelt nach all den Veränderungen, die er angeordnet hat, an sich selber:
Ich habe in der letzten Zeit ein hohes Tempo vorgelegt. Rein inhaltlich haben die Veränderungen die Zeitung mehr beeinträchtigt, als ich dachte. Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass wir die Seele der Zeitung verloren haben. Dass wir eine Menge Kanäle aufbauen und vergessen, wofür. (Nobels Testament 216)
Dies Zitat beendete auch meine Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Lokaljournalistenpreises 2009 an die Braunschweiger Zeitung.
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Am Ende des Romans „Nobels Testament“ verwandelt Liza Marklund den Chefredakteur in eine tragische Figur, der sich die Frage stellt, warum er nicht aufgebe – und der sich als Antwort an den Satz eines Kriegskorrespondenten erinnert:
Es ist niemals schwer, aufzustehen, wenn Krieg ist. Aber in Friedenszeiten möchte man sich einfach hinlegen und sterben.
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Als sich der Chefredakteur über „die beste Nummer in der Geschichte dieser Zeitung“ freut, barfuß auf den Newsdesk klettert, werfen sich die Angestellten peinlich berührte Blicke zu – denn „die meisten von ihnen hatten nichts mit diesem angestaubten Papierkram zu tun, sie arbeiteten für das Web, das Lokalfernsehen, das kommerzielle Radio oder für irgendeine Hochglanzbeilage. Kaum einer von ihnen las die Zeitung“.
Einer der Reporter, der die Szene mit verschränkten Armen verfolgt, fragt, ob der Chefredakteur die Gegenwart noch ganz im Griff habe.
„Ich glaube, er ahnt es“, sagte Annika. „Er muss den Journalismus wieder zum Mittelpunkt machen.“
„Du meinst, es ist wichtig, was wir sagen, nicht, auf welcher Frequenz wir es senden?“
„So ungefähr“, sagte Annika.(Nobels Testament 379ff.)
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Die Entlassungen in der Redaktion bringen den fast sechzigjährigen Chefredakteur an den Rand seiner Nerven, wie er Annika gesteht. Dennoch:
Ich liebe diese Zeitung. Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber es ist wirklich wahr. Ich weiß, dass wir Fehler machen und oft zu weit gehen, und manchmal stellen wir Leute auf eine Weise bloß, die wirklich zum Kotzen ist, aber wir erfüllen eine Funktion. Ohne uns wäre die Demokratie zerbrechlicher. Ohne uns wäre die Gesellschaft härter und brutaler.
Ich wünschte, Sie hätten recht, sagte Annika. Aber ich bin mir nicht sicher.
(Lebenslänglich 488)
Eine Satire: Shitstorm für 200.000 Euro kaufen
Wir sind auf eine fiktive Shitstorm-Agentur hereingefallen, wir entschuldigen uns – so die SZ in ihrem Feuilleton vom 6. April über ein Interview, das sie am 5. April veröffentlicht hatte und das Grundlage dieses Blog-Eintrags war:
Oliver Bienkowski heuert Obdachlose an, nennt sie „Partner“, setzt sie vor einen Computer und lässt sie Mails oder Tweets schreiben – für Menschen oder Organisationen, die einen Shitstorm brauchen und dafür zahlen. Die kleine, die S-Version, kostet 4999 €, die größte, die XL-Version, 199.000 €. Die Süddeutsche führt in der Ausgabe vom 5. April ein Interview mit Bienkowski, der Geschäftsführer von „Caveman Guerilla Marketing Agentur“ ist.
Kunden sind mittelständische Unternehmen und Privatleute. Die Agentur passt auch auf, dass der Sturm nicht in die falsche Richtung bläst.
Läuft die Diskussion einmal in eine Richtung, sorgen unsere Partner dafür, dass sie auch dort bleibt. Sie kippen ja immer wieder neues Öl ins Feuer. Aber es ist ja auch ganz einfach: Wenn auf einem Marktplatz zehn Leute mit dem Finger auf den Himmel zeigen, dann gucken alle nach oben. Das ist das deutsche Lemming-Prinzip. Einer läuft über die Klippe, dann laufen alle anderen hinterher.
Auch die Parteien und seriösen Medien bekommen von Bienkowski ihr Fett ab. Vor der Wahl sammelten die Parteien Follower und Likes, aber kommunizieren nicht wirklich mit ihnen – und nach der Wahl lassen sie Social Media wieder einstauben.
Und der Dialog der klassischen Medien mit ihren Lesern?
Gucken Sie sich nur die sogenannten Diskussionsforen an, in denen sich Menschen anonym beschimpfen oder auch viele Nutzerkommentare unter Artikeln von klassischen Medien. Das sind doch keine Dialoge. Da toben sich nur Trolle aus.
Ist es nicht zynisch, was Sie anbieten?, fragt Bernd Graff von der SZ zum Schluss:
Guerilla-Marketing arbeitet immer in einer Grauzone. Und solange nicht höchstrichterlich entschieden ist, dass das verboten ist, solange machen wir das.
Eine vorbildliche Recherche: Offshore-Leaks der SZ
„Offshore-Leaks“, die Serie der Süddeutschen, ist, abgesehen vom Serientitel, ein Vorbild für alle Reporter:
- Die Quellen sind genannt: Eine anonyme Festplatte, die per Post gekommen ist; darauf sind Dokumente, die auf den Servern zweier Firmen gesammelt wurden: Portcullis („Fallgitter“), ein Finanzdienstleister auf den Cook-Inseln, und CTL, Commonwealth Trust Limited, auf den Britischen Jungferninseln.
- Die Überprüfung der anonymen Quellen übernehmen seriöse Zeitungen – und in Deutschland auch der NDR – wie die Washington Post, der Guardian, Le Monde.
- Die meisten Personen werden zu Vorwürfen befragt, wie der Nachlassverwalter von Gunter Sachs, oder die Sprecher von Banken, wie der Deutschen Bank; die meist abwiegelnden Erklärungen werden veröffentlicht ebenso wie das Schweigen.So fällt auch das Fehlen der Quellen auf, meist bei Vorwürfen gegen internationale Prominenz wie die Tochter des philippinischen Diktators Marcos; da behilft sich die Redaktion mit einer unbeantworteten Frage („Stammt das Geld aus dem unrechtmäßigen Vermögen des Vaters?“) und dem Hinweis, die Behörden auf den Philippinen wollen prüfen.
- Die Geschichte ist verständlich, meist sehr gut geschrieben. Die Autoren verschanzen sich nicht hinter dem Argument „komplexe Materie“, sondern entwirren nach dem ehernen Journalisten-Grundsatz: Quälen muss sich der Redakteur, nicht der Leser.
- Grafiken helfen, Zusammenhänge zu verstehen. Aber das ist der einzige Nachteil der SZ-Serie: Die Grafiken sind meist wirr, nur schwer zu enträtseln – und haben keine Bildzeile, also keine Lesehilfe („Wie muss ich die Grafik lesen?“).
Zur Kommentierung wird dann der Poet der Redaktion geladen, der in einem großen moralischen Eintopf „Offshore“ mit der Armut in Deutschland verknüpft, mit Hartz IV und dem Grundgesetz. Wie überwältigt Heribert Prantl von der Fleißarbeit seiner Kollegen war, zeigen allein schon die Sprachbilder und Substantive im ersten Absatz seines Leitartikels: Schöpfungen Gottes, Palmen, weiße Strände, Idylle, Sehnsucht, Verklärung, Badetuch, Tresore, Paradies, Geldmagnet, Gier. Wie gesagt – so viel Phantasie in einem einzigen Absatz!
Wie bei fast allen Skandalen, die von Journalisten recherchiert werden, stellt sich die Frage nach der Moral: Dürfen wir Material nutzen, das illegal oder sogar mit krimineller Energie beschafft wurde, oder von moralisch zwielichtigen Typen kommt?
Ja, weil das Material nur den Anlass zur Recherche gibt. Nur was der Redakteur auch belegen kann durch eigene Recherche, das kommt an die Öffentlichkeit – die ein Recht darauf hat, in die Kulissen der Macht zu schauen.
Im „Handbuch des Journalismus“ ist im Kapitel 17 „Die eigene Recherche“ zu lesen:
Hartnäckigkeit und Fleiß bringen nicht immer den Lohn, manchmal spielen eher unmoralische Motive die Hauptrolle, damit der Moral zum Siege verholfen wird. Hätte nicht der Spiegel einem Informanten eine horrende Summe bezahlt, so wüssten wir immer noch nicht, auf welche Weise sich die Chefs der ,Neuen Heimat‘ bereichert haben.
Kein Reporter hatte sich geplagt, sondern ein gekränkter Angestellter der ,Neuen Heimat‘ sein Wissen zu Geld gemacht. Weniger Gekränktheit beim Angestellten oder weniger Geld beim Spiegel, und die Öffentlichkeit hätte die Wahrheit vermutlich nie erfahren.“
Annika Bengtzon (4): Reporter, Maulwürfe und das Web
Für den Chefredakteur in Liza Marklunds Kriminalromanen ist „richtiger Journalismus“ die Arbeit der Reporter – „richtige Maulwurfsarbeit… zu wissen, wie man dem Justizobmann einen Tag früher als geplant einen Bericht aus dem Kreuz leiert“. Als der Chef Annika Bengtzon in die Redaktion zurückholt, gibt er ihr eine Tasche mit einem neuen Laptop:
Von nun an sind Sie Tagesreporter, Sie haben flexible Arbeitszeiten und einen freien Arbeitsplatz, müssen aber dem Desk zur Verfügung stehen. Sie dürfen nicht in der Weltgeschichte herumfahren, ohne dass wir wissen, wo Sie sind und was Sie tun. Und wenn Sie in der Redaktion arbeiten müssen, gibt es eigens dafür eingerichtete Plätze, die den Tagesreportern zugedacht sind, jedenfalls vorerst. Wir werden sehen, wie viel genutzt werden. (Nobels Testament, 214f.)
Der Nachteil der wechselnden Arbeitsplätze: Keiner räumt auf – wie in einer WG. Annika findet Apfelgehäuse, Notizen und alte Kaffeebecher.“ Jetzt würde sie also auch noch bei der Arbeit zur Putzfrau mutieren. Sie biss die Zähne zusammen, nahm einen Papierkorb und fegte alles unsortiert hinein. Dann holte sie ein feuchtes Papierhandtuch vom Damenklo und wischte die Kaffeeflecken und Apfelreste von einem der Tische. Schließlich packte sie ihren Laptop aus.“ (Nobels Testament 349)
Aus den Einzelplätzen wird – einen Roman später in „Lebenslänglich“ – ein langer Arbeitstisch für die Tagesreporter, an dem sie offenbar gemeinsam sitzen.
Reporter und Pressekonferenzen
In Pressekonferenzen hatten Reporter etwas Undurchdringliches, nie würden sie zulassen, dass ihre Körpersprache eine Gefühlsregung verriet.
(Nobels Testament 105)
Die Reporter und das Web
Ein wenig verzweifelt wirkt er schon, der Chefredakteur, als er seine, in die Zeitung verliebten Reporter ermahnt:
Denkt ans Web, wenn ihr unterwegs seid. Deadline gibt es nicht mehr, es wird ständig aktualisiert. Das hier ist Teamwork, vergesst das nicht!
Das hat Liza Marklund vor sieben Jahren geschrieben, durch viele Redaktionen schallt dieser Ruf immer noch, ebenso viele Redaktionen warten noch darauf.
Franz Josef Wagner findet das Internet furchtbar und sehnt sich zurück an die gute alte Zeit der Leserbriefe
Bild-Kolumnist Franz-Josef Wagner fand Shitstorms gut, bis er die Beleidigungen gegen die Schauspielerin Katja Riemann las und die Aufforderung an Schalkes Torwart Hildebrand, sich zu erschießen. „Der Shitstorm ist zu einem digitalen Pöbelmob verkommen“, schreibt er in einem Brief an den „lieben Shitstorm“.
Es reicht, und er stellt sich vor, das Netz wäre seine Straße, in der er wohnt:
Das Internet ist furchtbar. Ich stelle mir vor, das Internet wäre meine Straße, in der ich lebe. Man spuckt mich an, man beschimpft mich, man spuckt vor mir aus. In so einer Straße will ich nicht leben. Alles Feinde ohne Namen.
Alle Anonyme. Scheißtypen, die einen beleidigen. Keiner zeigt sein Gesicht. Bösewichte hinter Vorhängen. Böse, die auf der Tastatur Böses tippen.
Wagner sehnt sich zurück in die gute alte Zeit, als Leute noch Leserbriefe schrieben und ihren Namen nannten:
Es war einmal eine Zeit, wo wir nicht wussten, was Shitstorm ist. Es war die Zeit der Leserbriefe. Es war die Zeit, wo jeder seine Meinung mit seinem Namen versah.
Anonyme Briefe wurden nicht veröffentlicht.
Es war eine bessere Zeit.
Die gute alte Lokalzeitung bekommt immer noch Leserbriefe, viele sogar, lieber Herr Wagner. Und sie druckt sie ab, mit Namen.
Bild 21. März 2013
Wie Journalisten Twitter nutzen können
„Twitter kann ein hervorragendes Werkzeug für Journalistinnen und Journalisten sein“, schreibt Daniela Kraus im Journo-Blog des österreichischen Standard und zitiert Nietzsche: „Vom Nutzen und Nachteil des Twitterns für das Journalistenleben – Eine unzeitgemäße Betrachtung“; unzeitgemäß – weil weniger als ein Prozent der Bevölkerung twittert und maximal zehn Prozent der Journalisten.
Was bringt Twitter einem Journalisten:
+ Er hat eine zusätzliche Nachrichtenagentur, die allerdings nur so gut ist wie die Auswahl der Tweets, denen er folgt.
+ Er findet Themen schon sehr früh, bevor sie andere Medien groß spielen.
+ Er findet bei aktuellen Ereignissen Zeugen und Quellen über Advanced Search.
+ Er beobachtet Communities.
+ Er sieht, worüber Leser diskutieren, auch potentielle.
+ Er gewinnt in seiner eigenen Gemeinde Glaubwürdigkeit.
+ Er kündigt eigene Geschichten an und bringt sie zum richtigen Zeitpunkt zur Diskussion.
Aber Twitter lenkt auch ab. Oder?
Das ist keine Frage des Kommunikationskanals, sondern eine der Selbstdisziplin. Wie heißt es in Friedrich Nietzsches unzeitgemäßer Betrachtung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“? „Dies ist ein Gleichnis für jeden einzelnen von uns: er muss das Chaos in sich organisieren, dadurch, dass er sich auf seine echten Bedürfnisse zurückbesinnt.
Daniela Kraus, derStandard.at, 8.3.2013 / Empfohlen hat’s Anke Laumann in einem Tweet
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