Untergang des Journalismus: Willkommen im Krisenzirkus!
Der Qualitätsjournalismus ist am Ende, rufen die apokalyptischen Reiter, die gerade „APuZ “ erobert haben, eine Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung. Harald Staun schaut sich für die FAS im „Krisenzirkus“ um:
Im Licht sinkender Zeitungsauflagen und anhaltender Budgetkürzungen in den Redaktionen scheint es auf die Schlüssigkeit der Argumente nicht mehr anzukommen. Die These von der Krise des Qualitätsjournalismus ist längst too big to fail. Selbst Indizien, die ihr entgegenstehen, können da noch als Beleg durchgehen.
Am 25. Juli wunderten wir uns in diesem Blog über die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“, in der neben dem Untergang des Qualitätsjournalismus auch das Elend des Lokaljournalismus beschrieben wird – just von der Bundeszentrale für politische Bildung, die so viel für die Qualität des Lokaljournalismus getan hat wie kaum jemand anders.
Am 29. Juli schrieb auch Harald Staun in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung über diese seltsame Juni-Beilage: „Das Beschwören des Untergang des Qualitätsjournalismus ist ein eigenes Berufsfeld geworden“; und: „sensationsgeile Blogger stehen zur Wachablösung bereit“.
Margreth Lünenborg, Professorin für Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin, läutet auch in APuZ die Todesglocke. Staun stellt fest:
Von ihren Auftritten als Diagnostiker dieser Krise können heute ganze medienwissenschaftliche Fakultäten leben, auch einige Medienjournalisten lesen ihren Kollegen hauptberuflich die Leviten…
Wöchentlich beten in irgendeinem deutschen Kongresszentrum besorgte Wanderprediger verunsicherten Zuhörern ihr Mantra vom Verfall journalistischer Standards vor. Nur leider lassen sich die neuen, mächtigen Akteure auf dem Spielfeld, Konzerne wie Google oder Apple, nicht davon einschüchtern, wenn alle nur laut genug herumappellieren und im Chor die gesellschaftliche Bedeutung des Journalismus betonen.
Der FAS-Artikel ist im Netz nicht frei verfügbar.
(zu: Handbuch-Kapitel „Welche Zukunft hat der Journalismus“)
Versauen Computer unsere Kinder? SZ sucht Antworten
Die Süddeutsche widmet ihre komplette „Wochenende“-Beilage dem Thema : Kinder und Jugendliche, der Computer und das Internet – „WWWillkommen“.
Auf sieben Seiten wird milde kritisch analysiert, was wann schadet und wie wenig Nutzen das Internet stiftet. Über allem steht die Erkenntnis, die Rebecca Casati formuliert:
Was wir wissen: Genauso wenig, wie eine Fernsehserie ein Kind zu einem angstfreieren, besseren Menschen erzieht, wird der Computer ein Kind versauen. Eltern erziehen und versauen ihre Kinder. Die Welt läuft derweil nicht stringent weiter.
Wir Menschen haben erst an die 6900 verschiedene Sprachen und den Buchdruck erfunden und dann eine Technologie, mit der unsere Kinder verlernen, wie man kohärente Sätze bildet. Eine Welt mit Buttons und Emoticons, ohne Groß- und Kleinschreibung. Wir werden sicher bald wieder etwas erfinden, das uns nicht alle zurückwirft.
Wer – wie die meisten Kultusminister – eine schöne neue Schulwelt mit Whiteboards, Laptops und wenig Papier schaffen will, hat die Hirnforscher nicht auf seiner Seite. So auch nicht die Oxforder Neurowissenschaftlerin Susan Greenfield, die auf der abschließenden Seite ein langes Interview gibt:
- Lesen ist eines der wunderbarsten Dinge, die ein Kind für sein Gehirn tun kann. Lesen bringt uns Menschen an einen anderen Ort.
- Jede Stunde, die wir vor dem Bildschirm verbringen, ist auch eine Stunde, die wir nicht damit verbringen, die Sonne auf dem Gesicht zu spüren oder jemanden zu umarmen.
- Selbst wenn man mit jemanden interagiert, der weit weg ist, ist das nicht dasselbe wie ein direkter Kontakt zu einer Person. Man interagiert mit einem Bildschirm.
- Ich will den Computer nicht zerhacken, sondern ihn zurückerobern. Wir können unseren Verstand mit ihm nämlich auch erweitern.
- Ich fürchte, dass Menschen (am Computer) die Fähigkeit verlieren können, wirklich tief gehend, also linear zu denken. Es ist anstrengend. Aber nur so kann man das Gehirn trainieren.
- Eltern fragen mich oft, wie viele Stunden ihr Kind vor dem Computer verbringen soll. Und ich antworte, dass das nicht die richtige Frage ist. Es geht auch nicht darum, sie am Computer zu überwachen. Die Frage ist vielmehr, wie wir für unsere Kinder ein Leben und eine Umgebung schaffen können, die so aufregend, erfüllend und interessant ist, dass sie sich selbst dazu entschließen, lieber anderes zu tun, als vor dem Computer zu sitzen.
(zu: Handbuch-Kapitel 5 Die Internet-Revolution)
Leser mögen keine dicken Zeitungen
Nach der Wende wunderten sich westdeutsche Blattmacher, wenn sich ostdeutsche Leser über dicke Zeitungen beschwerten. Sie wollten den Lesern Gutes tun, ihnen statt 8 Seiten, wie meist zu DDR-Zeiten, 32 Seiten bieten oder noch mehr – und das Zeitungsvolk murrte. „Ich habe die Zeitung am Abend noch nicht zu Ende gelesen“, sagten die Leser. Sie sagten auch: „Ich habe sie nicht auslesen können“; das bedeutete: Ich habe keine Auslese getroffen, ich wollte alles lesen, auch weil ich alles bezahlt habe.
Das wächst sich aus, sagten die Blattmacher, die ihr westdeutsches Publikum zu kennen glaubten. Doch es wächst sich nicht aus. Als die Thüringer Allgemeine im vergangenen Jahr die Blattstruktur änderte und wenig gelesene Seiten, wie etwa „Medien“, durch starke Seiten, wie „Thüringen“, ersetzte, da hörten die Redakteure in den Leserkonferenzen: „Die Zeitung ist dicker geworden. Wir können sie nicht an einem Tag auslesen.“
Dabei war der Umfang der Zeitung geschrumpft, aber die Zahl der lesenswerten Artikel und Seiten gestiegen – und somit offenbar die Lesedauer. Wir gefallen den Lesern nicht, wenn wir möglichst viel anbieten; wir gefallen ihnen, wenn wir so viel Gutes anbieten, dass sie in der Zeit verkraften können, die sie dem Lesen einräumen.
Die Zeit zum Lesen ist bei den meisten Zeitungslesern die Zeit am frühen Morgen. Wer bei Leserkonferenzen genau hinhört, lernt Demut: Die Menschen opfern für die Zeitungslektüre eine halbe Stunde ihres Schlafs – zu einer Zeit, in der sich Redakteure noch einmal umdrehen. Sie wollen in dieser halben Stunde das Wichtigste lesen und es nicht suchen. Dies gilt zumindest für Menschen ab 40 oder 50.
Die meisten Jungen haben allerdings einen anderen Rhythmus und ein anderes Leseverhalten; aber auch sie, die eilige Generation, will schnell das Wichtigste finden, zumal die meistgeklickten Internet-Seiten auch so gestaltet sind: Das Wichtigste steht oben und ist schnell zu lesen.
Auch westdeutsche Leser beginnen, sich nach schmaleren Zeitungen zu sehnen. Zwar sind die Zeitungen auch zwischen Kiel und Konstanz dünner geworden, aber dies liegt an Aldi & Co, die weniger Anzeigen buchen; der redaktionelle Umfang ist eher gleich geblieben oder sogar gestiegen. Dies ist sinnvoll im Lokalteil, der – wenn sinnvoll gegliedert – stark bleiben oder stark werden muss; dies ist weniger sinnvoll bei Seiten, auf denen Informationen stehen, die unsere Leser schon kennen oder leicht aus anderen Massenmedien wie Magazinen, Hörfunk oder Fernsehen bekommen (und in der Regel schon kennen).
Oft können sich Redaktionen nicht entscheiden: Die Kennen des guten Weins sind unzufrieden, also gibt es eine wöchentliche Wein-Seite; die Seniorenbeauftragte der Landesregierung fordert eine Seite für die Senioren usw. Das muss nicht falsch sein; es ist sogar richtig, wenn sich lokale oder regionale Informationen auf den Seiten finden oder wenn sich neue Anzeigen auf diesen Seiten sammeln. Aber in den meisten Fällen blähen diese Spezialseiten die Zeitung auf, machen sie unübersichtlich – und sorgen endgültig dann für Ärger in einer kleinen, aber lauten Gruppe, wenn die Seiten wieder eingestellt werden.
Je mehr Informationen auf die Menschen niedergehen, um so aggressiver werden sie. Die FAS schreibt in ihrer aktuellen Ausgabe (3. August 2012) auf der Seite „Geld & Mehr“ (!) über das „Dickicht der Informationen“ und stellt fest: „Die Kraft liegt gerade in der Reduktion.“
Das falsche Maß an Informationen haben auch schon Rudolf Augstein und Neil Postman festgestellt. Tillmann Neuscheler zitiert sie in seinem FAS-Artikel:
- Die Zahl derer, die durch zu viele Informationen nicht mehr informiert sind, wächst. (Rudolf Augstein)
- Unser Immunsystem gegen Informationen funktioniert nicht mehr. Wir leiden unter einer Art von kulturellem Aids. (Neil Postman)
„Information Bias“ nennen Wissenschaftler das Übermaß an Informationen und die daraus resultierende Sammelwut, die nicht selten zur Desinformation führt. In einem Info-Kasten erklärt Tillmann Neuscheler in der FAS die „Information Bias“ so:
Wir lassen uns von der leichten Verfügbarkeit von Informationen dazu verleiten, immer weitere neue Fakten zu recherchieren. Dabei nutzen wir schon vorhandene Informationen gar nicht mehr richtig aus.
Die Wirkung: Wir sammeln Informationen, ohne sie kognitiv richtig verarbeiten zu können. Und fühlen uns in der Informationsflut verloren.
Die Abhilfe: Schwierig! Man sollte sich beim Informieren über seine Ziele im Klaren sein. Oft genügt es, vorhandene Informationen richtig zu nutzen. Nicht die Menge, sondern die gute Analyse macht den Unterschied.
Zumindest die „Abhilfe“ sollten gute Blattmacher leisten.
(zu: Handbuch-Kapitel 22 „Warum alles Informieren so schwierig ist“ + 53 „Was die Leser wollen“ + 5 „Die Internet-Revolution“)
Was muss in den ersten 270 Zeichen eines Online-Textes stehen?(Fehler im Handbuch)
„Erzählt den Kern der Geschichte und macht Lust auf mehr“, steht zum Teaser in den „Textstandards“ von Spiegel Online. Diesen Aufbau erklärt die Spiegel-Redaktion als verbindlich für die ersten 270 Zeichen eines Textes:
1. Reiz. Leser einfangen: gerade bei schwächeren Thesen um knackigen Einstieg bemühen
2. Kernthese. Nachricht mitteilen: kurz, klar und mit möglichst kraftvollen Worten benennen
3. Rampe.Lust auf mehr machen: öffnender Aspekt des Themas („Aber sehen Sie selbst“-Satz).
So muss es korrekt auf Seite 31 des Handbuchs zu lesen sein (falsch im aktuellen Handbuch: Zeilen statt Zeichen).
(zu: Handbuch-Kapitel 6 „Der Teaser“)
Noch nie war Journalismus so wichtig (dapd-Interview 6)
Können Sie jungen Leuten noch dazu raten, Journalisten zu werden?
fragt Ulrich Meyer im dapd-Interview. Raue antwortet:
Ja und nochmals: ja – wenn ein junger Mensch mit Leidenschaft für diesen Beruf brennt. Nein – wenn ein junger Mensch den Typ Beamten schätzt in Habitus, Denken und Sein.
Noch nie war der Beruf so spannend und noch nie so wichtig wie heute: Im digitalen Zeitalter muss die Freiheit und Unabhängigkeit und Verständlichkeit des Journalismus mit neuen Mitteln verteidigt werden. Die Ideen dafür bringen die jungen Journalisten mit, die mit Neugier und Lust am Experiment starten und von den alten lernen, dass die Demokratie starke Journalisten braucht und wir Journalisten eine starke Demokratie brauchen.
Zum ersten Mal in der Ausbildung lernen die Alten – die Profis der analogen Welt – von den Jungen – die technisch Versierten der digitalen. Das müsste der Beginn einer wunderbaren Partnerschaft sein.
Die Alten schrieben in der Gewissheit: Wir füllen unbehelligt den Raum zwischen den Anzeigen – und vergaßen, dass Zeitungen immer kommerziell waren, einst abhängig von Werbung, bald von den Lesern oder von „Nutzern“, wie Leser digital heißen.
Der Raum zwischen den Anzeigen ist mittlerweile so groß geworden, dass so manche Redaktion von Werbe-Einnahmen allein nicht mehr finanziert werden kann. Wir brauchen also neue Finanzierungen. Die müssen die Jungen finden, ohne dabei die Vernunft des Journalismus zu verraten.
(aus einem dapd-Interview, das am 3. August gesendet wurde)
(zu: Handbuch-Kapitel „Welche Zukunft hat der Journalismus“ + 2-3 „Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht“)
Wer sich nach seinen Lesern richtet, stärkt die Zeitung (dapd-Interview 5)
„Journalismus gilt vielen als die richtige Strategie. Wie lässt sich das finanzieren?“
fragt Ulrich Meyer im dapd-Interview. Raue antwortet:
Wenn wir immer besonnen gearbeitet hätten, ginge es uns zurzeit besser. Wir verlieren ja nicht – oder zumindest: nicht nur – wegen des Internets, sondern wegen unseres Hochmuts, unsere Leser nicht ernst zu nehmen.
Die Auflagen rutschten schon, als nur wenige das Internet kannten und noch weniger nutzten. Die Auflagen rutschen selbst dort, etwa im Osten, wo das Internet am wenigsten verbreitet und am wenigsten schnell ist.
Früher klagten nicht wenige Redakteure, sie stünden unter der Knute der Anzeigenabteilung. Heute klagen sie, sie stünden unter der Knute der Leser, die nur für das zahlen, was wertvoll ist. Immer schon galt: Wer sich an seine Werbekunden anpasst, hat die Zeitung und den unabhängigen Journalismus aufgegeben. Wer sich dagegen nach seinen Lesern richtet, stärkt die Zeitung und den unabhängigen Journalismus.
(aus dapd-Interview vom 3. August 2012)
(zu: Handbuch-Kapitel „Welche Zukunft hat der Journalismus“ + 5 „Die Internet-Revolution“, darin: Das Internet wirbelt den Journalismus durcheinander)
Was Journalisten vom Domprediger lernen können
„Man darf keine Menschenscheu haben. Und wenn es besonders gelingen soll, dann muss es von Menschenfreundlichkeit und Interesse an den Biografien der Menschen geprägt sein. Denn Rhetorik hat den Hörer oder die Hörerin ganz direkt im Blick.“ So antwortet der Braunschweiger Domprediger Joachim Hempel, seit 20 Jahren im Amt, auf die Frage nach seinen rhetorischen Fähigkeiten.
Es gibt bemerkenswerte Parallelen zwischen einem guten Prediger und einem guten Journalisten. Man ersetze einfach „Rhetoriker“ durch „Journalist“, „Reden“ oder „Predigen“ durch „Schreiben“.
Armin Maus, Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung, führte mit dem Domprediger ein Interview in der BZ; die Zitate sind der Langfassung im Internet entnommen:
- Man kann mit rhetorischen Fähigkeiten Gutes bewirken und auch fatale Folgen erzielen.
- Sie fragten nach dem Lernen (der guten Rede). Das geht nur durch Praxis… Ein Manuskript vorzulesen, das reicht nicht. Ich wundere mich manchmal, wie wenig Menschen, die immer wieder in die Situation des Redens kommen, die Art und Weise, auch die Technik des Redens wertschätzen.
- Es gibt eine Form des Redens, die ist nahe an der Beleidigung derer, die zuhören sollen. Sonst wird sehr viel Wert darauf gelegt, dass Form und Inhalt korrespondieren. Aber so viele, die Sprache nutzen, kümmern sich nicht wirklich darum, wie das geht mit dem Reden.
- Man muss etwas zu sagen haben, und es muss ihre persönliche Art und Weise sein. Das macht ja die Rednerin oder den Redner so spannend. Wenn alle gleich reden würden, das wäre so was von langweilig.
- Predigen ist mit Arbeit und Mühe verbunden. Und wenn manchmal der Eindruck entstünde, das würde man aus dem Ärmel schütteln, kann ich nur sagen, hier wird ordentlich und anständig gearbeitet. Ich habe Zuhause keinen Internetanschluss; das, was ich erarbeite, soll aus meinem Kopf und meinem Herzen und aus meiner Lektüre kommen.
- Ich möchte der Versuchung widerstehen, durch den Zugriff auf bestimmte Tastaturen (im Internet) mal eben eine Brücke hinzukriegen. Wenn in Reden Zitate vorkommen, kann man feststellen, ob jemand ein Stichwort eingegeben hat, oder ob das Zitat aus dem Fluss dessen kommt, was man gerade gesagt hat und genau dort hin gehört.
Da passiert es eben, dass einer ausruft: Und übrigens hat schon Machiavelli gesagt… und jeder fragt sich, wie kommt er denn nun auf Machiavelli?- Wenn sich ein Tsunami ereignet oder es der 11. September ist, dann kommen sogar noch mehr Leute in den Dom. Sie erwarten, dass ich etwas zu diesen Themen sage. Ich kann nicht sagen, kommen Sie am Sonntag wieder, heute fällt mir dazu nichts ein. Die Predigt entsteht immer in einer aktuellen Situation.
(zu: Handbuch-Kapitel 11ff „Schreiben und Redigieren“ + 55 „Der neue Lokaljournalismus“)
„Wir fahren nicht auf der Titanic“ (dapd-Interview 1)
Die Nachrichtenagentur dapd kündigt ein langes Interview an, das heute gesendet wird:
Erfurt (dapd-lth). Der Chefredakteur der „Thüringer Allgemeinen“, Paul-Josef Raue, bezeichnet Google und Facebook als „Schmarotzer“. Diese Internetmedien seien „gemeingefährlich“ und „mächtig“, sagte er im dapd-Interview in Erfurt. Die Verlagsbranche habe sich von der Entwicklung im Internet überrollen lassen. „Hätten sich die großen Verlage, vor allem in den USA, wo alles begann, dieselben Gedanken gemacht wie Steve Jobs und Mark Zuckerberg, wären diese gigantischen, die Freiheit bedrohenden Netze unter Kontrolle von Journalisten und weisen Verlegern“, sagte Raue.
Ein Auszug aus dem Interview, das dapd-Redakteur Ulrich Meyer führte:
Sind Google und Facebook nur Schmarotzer oder symbiotische Partner der „klassischen“ Medien?
Raue: Sie sind Schmarotzer, sie sind gefährlich, gemeingefährlich, aber sie sind da, und sie sind mächtig. Wir sollten sie nutzen, benutzen, aber nicht mehr. Hätten sich die großen Verlage, vor allem in den USA (wo alles begann), dieselben Gedanken gemacht wie Steve Jobs und Mark Zuckerberg, wären diese gigantischen, die Freiheit bedrohenden Netze unter Kontrolle von Journalisten und weisen Verlegern. Aber das sagt sich so leicht, und es ist der Fehler von gestern.
Mehr Sorgen bereitet, dass auch in Deutschland Startups entstehen, die schnell millionenschwer werden: Sie werden selten von Verlagen gegründet, sondern von jungen Tüftlern, die kein Geld für teure Marktanalysen und ausführliche Business-Pläne haben und keine Lust auf lange Konferenzen.
Warum entdecken wir diese Leute nicht? Stimmt unsere Ausbildung, unsere Talent-Suche nicht mehr? Haben wir das Gespür für Ausgewogenheit verloren, wenn wir Risiko, Neugier, Spontanität und Mut in die eine Waagschale legen und Wirtschaftlichkeit, Seriosität, Kontrolle und Kontinuität in die andere?
(zu: Handbuch-Kapitel 5 „Die Internet-Revolution“)
Elender Lokaljournalismus? „Prügelei im Nachbardorf statt Bürgerkrieg in Syrien“
Jörg Biallas, Chefredakteur von „Das Parlament“, schaudert, wenn er Lokalteile von deutschen Regionalzeitungen liest:
Es gibt zahlreiche Beispiele, dass Tageszeitungen den richtigen Ansatz einer dosierten Regionalisierung mit platter Provinzialisierung verwechseln.
In einem Beitrag zum „Qualitätsjournalismus“ in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (29-31/2012 vom 16. Juli) entdeckt der Hauptstadt-Journalist im Lokalen wenig Qualität:
Oktoberfest-Prügelei im Nachbardorf statt Bürgerkrieg in Syrien, Verkehrsunfall an der Ecke statt Flugzeugabsturz in Asien, Gemeinderat statt Bundestag.
Für Biallas werden „Nichtigkeiten aufgeblasen mit der Begründung, entscheidend sei ausschließlich der lokale Bezug“. Der „Zwang zum Regionalen mit einem Hang zum Provinziellen“ gehe „auf Kosten einer nachrichtlichen Vollversorgung“.
Woher Biallas seine Erkenntnisse nimmt, wird nicht klar. Im Gegensatz zu den meisten Beiträgen in „Politik und Zeitgeschichte“, die wissenschaftlichen Anspruch stellen, verzichtet er auf Fußnoten, auf Quellen, kurz: auch aus journalistischer Sicht auf nachvollziehbare Recherche.
Er nimmt weder die Leserforschung wahr, die in den vergangenen Jahren wesentliche Erkenntnisse gebracht hat (siehe Haller in Leipzig und andere), noch beobachtet er eingehend die intensiven und kontroversen – in der Tat höchst kontroversen – Debatten innerhalb des Lokaljournalismus, noch hat er die beachtlichen Konzepte gelesen, die Jahr für Jahr beim Deutschen Lokaljournalistenpreis eingereicht werden, noch die Ansätze mit hyperlokalen Angeboten in der Online-Welt usw.
Es gibt bei 1500 Lokalteilen, die täglich erscheinen, ausreichend Beispiele, die das Elend belegen; es gibt aber eine stetig wachsende Zahlvon Redaktionen, die nicht nur das Gegenteil beweisen, sondern hohe Qualität zeigen.
Der Beitrag aus dem Elfenbeinturm des elitären Journalismus, der Qualität für sich allein beansprucht, wäre nicht bemerkenswert, wenn er nicht in einem Heft erscheint, das von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird. Gerade diese unorthodoxe Behörde hat den politischen Lokalteil entdeckt und gefördert; sie hat erkannt, dass Qualität im Lokalen unverzichtbar ist für eine Demokratie, die von den Bürgern verstanden und getragen wird.
Der moderne Lokaljournalismus provoziert die Debatten der Bürger, ermuntert sie zum Mitmachen; der moderne Lokaljournalismus ist die neue Qualität der Demokratie. Während Biallas die Zukunft des Lokalen nicht mehr als Massenprodukt sieht, sondern eher klein, aber fein „als festen Bestandteil einer bürgerlich-elitebewussten Lebensführung“, hat Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale, eine ganz andere Vision.
Vor kurzem sprach er in Siegen während der Tagung „Lokale Öffentlichkeit und politische Partizipation“ über die digitale Medienwelt und Lokaljournalismus:
Ob und in welchem Maße neue und alte Partizipationswege der Demokratie neues Leben einhauchen können, hängt wesentlich davon ab, inwieweit es dem Journalismus im Lokalen gelingt, als informierende, moderierende und kritische Instanz weiterhin wahr- und ernst genommen zu werden…
Jedem, der an lebendiger Demokratie gelegen ist, muss hoffen, dass dieser Sprung (in die digitale Welt) gelingt. Wir brauchen diese mediale Mitte der sich immer weiter zersplitternden Öffentlichkeiten. Wir brauchen eine Kraft, die den Fliehkräften des Individualismus und der Interessenvertretung durch Aufklärung über die Bedeutung der Gemeinschaft und des allgemeinen Wohls entgegenwirkt. Ich sehe keine andere Instanz (als den Lokaljournalismus), die – nicht punktuell, sondern auf breiter Front – diese Dienstleistung erbringen könnte.
(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“ + 47 „Newsdesk und Ressort“ + 7 „Die Online-Redaktion“)
Wie bauen Redaktionen online Kontakt zu ihren Lesern auf?
Wie kann man messen, ob Redaktionen erfolgreich Beziehungen zu ihren Lesern aufbauen? Kriterien listet ein WAN-Ifra-Wettbewerb auf („XMA 2012: Social Media Stars“):
• Wie definiert eine Redaktion, welche Inhalte sie auf den verschiedenen Social-Media-Plattformen anbietet?
• Wie nutzt sie die verschiedenen Social-Media-Kanäle für ihre Inhalte?
• Wie unterstützt sie ihre Leser bei der Erstellung eigener Inhalte?
• Wie bindet sie die Kunden ein?
• Wie betreibt sie Markenpflege?
• Wie misst sie die Ergebnisse aus der Nutzung von Social Media?
Worüber sollten Redaktionen nachdenken? Hilfreich ist ein Blick auf die Kategorien, die im Wettbewerb ausgezeichnet werden:
• Beste Nutzung von Facebook durch eine Zeitung
• Beste Einbindung der Community und Interaktion mit den Lesern/Nutzern: Welche Zeitungen zeichnen sich durch eine herausragende Einbindung ihrer Leser in den redaktionellen Prozess und die Erstellung von Inhalten über Social Media aus?
• Monetarisierung (Werbung und Social Commerce): Welche Zeitungen profitieren finanziell am stärksten von ihren Social-Media-Plattformen?
• Sonderprojekte: Beste integrierte Kampagne unter Nutzung von Social Media als auch traditionellen Medien (z. B. Unterhaltung, Sport oder Wohltätigkeit).
(zu: Handbuch-Kapitel 5-10 „Die Internet-Revolution“)
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