Der Blog oder das Blog? Und viele Liveticker – sogar von der Kreisliga
Woran erkennt man einen richtiger Blogger? Er sagt: Das Blog. Macht einer den Blog zu einem männlichen Substantiv, wird er belächelt und als digitaler Staatenloser an den Katzentisch gesetzt.
Philipp Ostrop, Lokalchef der Ruhr-Nachrichten in Dortmund, dürfte der agilste Onliner in deutschen Lokalzeitungen sein. Bei der Jahreskonferenz des Netzwerk Recherche tapste er in die Falle:
Der Blog, nee, das Blog, glaube ich… Sonst krieg ich wieder Ärger auf Twitter
David Schraven von der konkurrierenden WAZ stellte einige Coups des Dortmunders vor, der in seiner Redaktion Zeitung und Online zusammen organisiert an einem fünfköpfigen Desk, dem 15 Reporter zuliefern:
+ Der Live-Ticker zu einer Giraffe im Zoo, die umgefallen war (nebst Shitstorm: Seid Ihr bekloppt – so was als Liveticker);
+ Live-Ticker von einem plötzlichen Unwetter am Abend, der vor allem hundert Tweets von Lesern nutzte und auch unbestätigte mitnahm, weil die Redaktion sie als wichtig ansah: „Offenbar Wasser in der U-Bahn-Haltestelle Stadtgarten. Wir können es nicht verifizieren. Hier der Tweet von Kevin. Danke!“;
+ Liveticker von der Räumung wegen einer Fliegerbombe;
+ „Lokalredaktion London“ während des Champion-League-Finales; nach diesem Vorbild soll es in einem schwierigen Dortmunder Gebiet ab 1. Juli die „Lokalredaktion Nordstadt“ geben;
+ „Wir livetickern sogar Kreisliga“ (Ostrop).
Die Entdeckung der Lesernähe – und Recherche
Lesernähe wird entscheidend für die Zukunft der Zeitungen. Worauf legen Sie besonderen Wer? Und wie setzen Sie das um?
fragt Claudia Mast, Professorin der Kommunikationswissenschaft und Journalistik an der Universität Hohenheim. Meine Antwort, die kurz sein soll:
Lesernähe war immer schon entscheidend, aber gefahrlos zu ignorieren, als Zeitungen nahezu konkurrenzlos waren.
Leser wollen mitreden, aber nicht jeden Unsinn anderer lesen (wie es im Netz geschieht); sie schätzen die Moderation der Redaktion, wenn sie fair ist, offen und tolerant.
Zuvor wollen Leser verstehen, um was es geht, wollen einschätzen können, ob es für sie wichtig ist. Also, wie immer schon: Erst die Recherche, dann die Analyse und Einordnung, dann die Debatte.
Die zweite Frage der Professorin:
Welches Selbstverständnis führt die Tageszeitungen erfolgreich in die Zukunft? Worin sehen Sie im Vergleich zu anderen Medien ihr spezielles publizistisches Leistungsangebot?
Meine Antwort:
Das Selbstverständnis ist das bewährte: Wir kennen die Welt unserer Leser und lassen sie die Welt kennenlernen. Kennen wir die Welt unserer Leser nicht, werden sie uns ignorieren. So einfach ist das.
Was wir leisten müssen? Intensiver und tiefer recherchieren als bisher. Wir entdecken die Nachrichten, die andere posten; wir führen unsere Leser in den Hintergrund der Nachricht und analysieren, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Und das tun wir am besten in der Provinz, wo unsere Leser leben und arbeiten und ihre Heimat schätzen.
Offshore-Leaks: Journalisten treiben Europas Finanzminister
Ohne die Steueroasen-Recherchen und -Enthüllungen der Süddeutschen hätten sich die Finanzminister in Brüssel nicht auf eine Initiative gegen Steuerflucht geeinigt. An diesem Wochenende ist durch den Druck der Offshore-Leaks in Europa mehr bewegt worden als in den Jahren zuvor.
Das beweist dreierlei:
1. Wichtiger als alle Online-Print-Debatten, wer die Schönste sei im Land, ist die Qualität des Journalismus, ob lokal, national oder weltweit.
2. Tiefe und unabhängige Recherche macht die Qualität des Journalismus aus. Sicher müssen Medien auch Orientierung geben und die Welt verständlich machen, aber dies ist ohne Recherche von geringerem Wert.
3. Demokratie gelingt nur durch freien Journalismus, der seine Quellen schützen darf und dabei auch vor und von dem Staat geschützt wird, und der aufwändige Recherchen finanzieren kann.
Dies ist mein Leitartikel, geplant für die Thüringer Allgemeine (15. April 2013)
Endlich wollen Europas Finanzminister, fast geschlossen, Steuerflüchtlinge jagen, also Millionäre, die ihr Geld in Oasen verstecken – ohne an die Gesellschaft zu denken, in der sie leben und von der sie leben.
Milliarden Euros werden gar nicht versteuert. Deutschland und anderen Ländern können so Geld, das den Bürger zusteht, weder in Bildung oder Entschuldung stecken noch zum Stopfen der Schlaglöcher in den Straßen.
Die Finanzminister, voran Wolfgang Schäuble, zeigten sich am Wochenende entschlossen, um jeden Steuer-Euro zu kämpfen; nur Österreichs Finanzministerin kämpft noch für das Schwarzgeld, das ihr Land reicht macht.
Warum erwachen die Minister? Sind Steueroasen nicht lange bekannt? Schüttelt die Finanzkrise Europa nicht seit Jahren?
Es sind Journalisten, die sie treiben. Sie haben detailliert aufgespürt, wer seine Millionen versteckt. Journalisten sind über zwei Millionen Dateien zugespielt worden. Da Journalisten ihre Informanten nicht preisgeben, bekommt Wolfgang Schäuble die Dateien nicht – und muss selber Initiative entwickeln.
Wer einen Beweis braucht, wie notwendig und nützlich freier Journalismus ist, der schaue nach Brüssel, wenn sich die Finanzminister treffen.
Wie Journalisten Twitter nutzen können
„Twitter kann ein hervorragendes Werkzeug für Journalistinnen und Journalisten sein“, schreibt Daniela Kraus im Journo-Blog des österreichischen Standard und zitiert Nietzsche: „Vom Nutzen und Nachteil des Twitterns für das Journalistenleben – Eine unzeitgemäße Betrachtung“; unzeitgemäß – weil weniger als ein Prozent der Bevölkerung twittert und maximal zehn Prozent der Journalisten.
Was bringt Twitter einem Journalisten:
+ Er hat eine zusätzliche Nachrichtenagentur, die allerdings nur so gut ist wie die Auswahl der Tweets, denen er folgt.
+ Er findet Themen schon sehr früh, bevor sie andere Medien groß spielen.
+ Er findet bei aktuellen Ereignissen Zeugen und Quellen über Advanced Search.
+ Er beobachtet Communities.
+ Er sieht, worüber Leser diskutieren, auch potentielle.
+ Er gewinnt in seiner eigenen Gemeinde Glaubwürdigkeit.
+ Er kündigt eigene Geschichten an und bringt sie zum richtigen Zeitpunkt zur Diskussion.
Aber Twitter lenkt auch ab. Oder?
Das ist keine Frage des Kommunikationskanals, sondern eine der Selbstdisziplin. Wie heißt es in Friedrich Nietzsches unzeitgemäßer Betrachtung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“? „Dies ist ein Gleichnis für jeden einzelnen von uns: er muss das Chaos in sich organisieren, dadurch, dass er sich auf seine echten Bedürfnisse zurückbesinnt.
Daniela Kraus, derStandard.at, 8.3.2013 / Empfohlen hat’s Anke Laumann in einem Tweet
Wie Leser mit Facebook & Co den Redakteuren helfen
Lars Wienand (38), Social-Media-Redakteur der Rhein-Zeitung, gibt in einem Interview mit „istlokal.de“ Beispiele, wie Leser den Redakteuren helfen können mit Themen-Anregungen, Nachrichten und Meinungen, Bildern und Videos:
1. Videos von einem eindrucksvollen Unwetter kamen von Lesern; ein Drittel der Videos hatte die Redaktion allerdings auch selber im Netz gefunden.
2. Fünf Minuten nach der Meldung „Tankstellen verlangen jetzt Geld für Luft in Reifen“ hatten Leser zwei Fälle von Tankstellen im Verbreitungsgebiet gemeldet. Wienand: „Die Suche wäre ohne diese Hilfe wohl sehr mühsam gewesen. Das zeigt, dass Social Media nicht nur Arbeit, sondern auch Arbeitserleichterung bedeuten kann.“
3. Ein Dutzend Leser meldeten sich, als die Koblenzer Lokalredaktion der Rhein-Zeitung per Tweet erfahren wollte, wie Amazon mit seinen Beschäftigen umgeht.Nach dem Artikel in derZeitung meldeten sich auch zufriedene Amazon-Mitarbeiter.
4. Auf den Tweet der Kollision eines Autos mit einem Traktor reagiert eine Leserin: Ist die mehrspurige Straße überhaupt für Traktoren zugelassen? Die Redaktion postet die Frage bei Facebook und fragt gleichzeitig bei der Polizei. Doch auf die Antwort der Polizei, der Traktor dürfe nicht fahren, reagiert ein Fahrlehrer: Die Polizei irrt. Die Redaktion ruft noch einmal bei der Polizei an, korrigiert den Text und macht den Ablauf transparent. Lars Wienand: „Der Zugriff auf das Informationsbedürfnis (Dürfen da Traktoren fahren?) und die Expertise (Auskunft der Polizei ist falsch!) vieler Quellen macht uns besser. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Es nimmt auch die Zahl der Hinweise zu, die sich interessant anhören, sich aber bei Nachfragen in Luft auflösen.“
5. Auf „Google+“ können Leser Bilder posten, etwa bei einem Hochwasser, aber auch die schönsten „Sonnenuntergänge“.
Lars Wienand nennt als Regeln, wie genau man Leser-Reaktionen überprüfen muss, dieselben Regeln, die schon immer im Journalismus galten:
Wenn es ein leichtes Erdbeben gab, dann taugt auch die Dame, die sagt, dass ihr Hund eine halbe Stunde vorher bereits verrückt gespielt hat, für einen Satz – ohne weitere Überprüfung. Wenn aber eine Frau berichten will, dass ihr Nachbar ihr von unhaltbaren skandalösen Zuständen bei Amazon erzählt hat, dann bitten wir sie um Verständnis, dass wir das schon vom Nachbarn selbst hören möchten. Mit dem Gewicht einer Nachricht oder von Vorwürfen wachsen auch die Anforderungen an die Quelle und der Aufwand, die Glaubwürdigkeit zu checken.
Vom Granteln und Pranteln und enttäuschter Recherche
Wer die Bayerische Akademie der Schönen Künste um Auskunft bittet, kann als Journalist diese Antwort bekommen: Wir sind „enttäuscht“ von Ihrer Recherche!
Das widerfuhr jedenfalls Jan Wiele von der FAZ, als er fragte: Stimmt es, dass Sie Anita Albus zu einer Diskussion erst ein- dann ausgeladen haben? Es ging um Martin Mosebachs Thesen zur Blasphemie. Mosebach soll sich laut Wiele geweigert haben, mit Albus zu diskutieren, die eine andere Meinung zur Blasphemie vertritt.
Erstaunlich ist erstens: Warum berichtet Wiele in seinem Bericht erst nach hundert Zeilen, dass die Bayerische Akademie mit dieser erstaunlichen Begründung („enttäuscht“) die Recherche abblockt?
Zweitens: Warum recherchierte Wiele, zumindest erkennbar, nicht weiter? Er schreibt lediglich: „Ist dort schon journalistisches Nachfragen verboten?“
Drittens: Warum fragte keiner in der öffentlichen Debatte nach der Ausladung? Immerhin war Heribert Prantl dabei, der sonst keiner Frage aus dem Weg geht.
Prantl erfährt übrigens in dem Bericht eine große Ehre, die ihn in den Duden bringen könnte: Er wird in ein Verb verwandelt. Mosebach „grantelt“, Prantl „prantelt“.
In der Süddeutschen habe ich keinen Bericht über die Diskussion in München gefunden.
(FAZ, 26. Januar 2013)
(zu: Handbuch-Kapitel 17 Die eigene Recherche + Service H Lexikon journalistischer Fachausdrücke (pranteln)
Wie ein Gerücht in der Zeitung Aktienkurse purzeln lässt
Wieviel Macht haben Journalisten? Sie haben große Macht, sie können durch eine Geschichte, ob sie wahr ist oder nicht, Aktienkurse abstürzen lassen.
Das Wall Street Journal griff einen Artikel von Nikkei, einer japanischen Wirtschaftszeitung, auf und schrieb am 13. Januar: Apple hat bei seinen Zulieferern die Vorbestellungen für i-Phone-Displays halbiert. Die Apple-Aktie rutschte ab von 520 auf 486 Dollar, das sind auf dem Kapitalmarkt schon ein paar Milliarden Dollar.
Dabei war der Anlass für die Geschichte ein Gerücht, das sich mit Recherche nicht verifizieren ließ.
Quelle: Die Welt aktuell vom Abend des 24. Januar 2013
„Das Führen einer Redaktion ist keine basisdemokratische Veranstaltung“ (Peter Gehrigs Interview zu seinem Abschied)
„Ich hätte mir einen erfreulicheren Schluss meines Berufslebens gewünscht“, sagt Peter Gehrig nach über vierzig Jahren bei der deutschen AP, davon zwei Jahrzehnte als Chefredakteur. Sang- und klanglos ließ ihn seine Agentur, die dapd, in den Ruhestand ziehen.
Erst war in Berlin ein großer Abschied im November geplant, dann ein kleiner, am Ende fehlte sogar das Kleingeld für ein stilvolles Abendessen. Dabei war Peter Gehrig einer der besten Chefredakteure Deutschlands, wahrscheinlich der beste, wenn es ums Handwerk ging, um Professionalität.
Aus seiner Agentur AP in Frankfurt kamen Texte, die so gut redigiert waren wie keine anderen Agenturtexte – ohne die Aktualität aus den Augen zu verlieren. In seinem Zimmer in der Moselstraße stand ein Stehpult, an dem er jede Stunde die Texte las, die über den Draht gegangen waren: Er holte das Team kurz zusammen und verteilte die Noten.
Regelmäßig gab er für seine Redakteure eine Übersicht heraus mit misslungenen und manchmal auch gelungenen Textpassagen. Die waren gefürchtet, er war respektiert, ja geschätzt. Keiner in unserer selbstverliebten Branche hat von seinem Ausscheiden Kenntnis genommen, keine Medienseite hat ihn geehrt.
Die Volontäre der Thüringer Allgemeine, die er regelmäßig ausbildet, führten ein Interview mit ihm, das sie zwar überarbeiten mussten, das aber am 5. Januar ganzseitig in der Samstagausgabe erschien.
Fünf Sätze hebe ich heraus:
1. Wie führe ich eine Redaktion? „Das Führen ist keine basisdemokratische Veranstaltung. Am Ende muss einer sagen, wo es langgeht – und die Verantwortung dafür übernehmen.“
2. Was ist notwendig in den Redaktionen der Zukunft? „Mehr Spezialisierung und auch mehr wirtschaftliches Denken. Jeder Journalist muss heute daran denken, dass die Zeitung ein Produkt ist, dass dieses Produkt verkauft werden muss. Der Journalist ist also zugleich Marketingmanager seiner Zeitung.“
3. Welche journalistischen Elemente werden wichtig bleiben? „Die Einordnung und die Erzählung werden bedeutender, die Nachrichten verlieren an Gewicht.“
4. Was ist das A & O des Journalismus auch in der Zukunft? „Recherche – nur wer gut recherchiert, kann auch gute Geschichten schreiben. Wer glaubt, alles schon zu kennen oder vorher zu wissen, ist kein Journalist.“
5. Was muss ein Journalist unbedingt lernen? Man muss etwas selber herausfinden! Als Peter Gehrig in seinem ersten Artikel einen Fehler gemacht hatte, ließ sein Chef ihn lange zappeln. Als der ihm doch seinen Fehler offenlegte, fragte ihn Gehrig: „Hättest du mir das nicht gleich sagen können? Er hat geantwortet: Nein, wenn du das alleine herausgefunden hättest, wäre das besser gewesen.“ – Das ist eine alte Methode, die sokratische.
Das ist das komplette Interview in der TA, überschrieben „Der Nachrichten-Mann“:
Wie sind Sie 1972 ins olympische Dorf von München gekommen? Es war doch alles gesperrt, nachdem Palästinenser die Israelis als Geiseln genommen hatten?
Peter Gehrig: Ich bin morgens um sechs mit einer Gruppe von amerikanischen Schwimmern einfach durchgeflutscht. Die kamen vom Training aus einer Halle, die außerhalb des Dorfes lag. Ich kam mit den Athleten ins Gespräch und irgendwie muss mein Presseausweis für die Kontrollen wie eine Eingangsberechtigung ausgesehen haben. Und dann war ich einfach drin im olympischen Dorf.
Für einen jungen Reporter eine Situation, wie man sie sich wünscht. Möglichst nah am Geschehen . . .
Im Laufe des Tages hieß es ja, alle Geiseln hätten überlebt. Ich verfasste meine Berichte tagsüber und gab sie alle drei, vier Stunden an unsere Zentrale durch. Per Telefon, was damals nicht so einfach war, denn ich musste eine Telefonzelle nutzen und mir war das Kleingeld ausgegangen. Ellen Titel, eine damals sehr bekannte Mittelstreckenläuferin der Bundesrepublik, half mir mit Kleingeld und gab mir eine Mark fürs Telefon. Wir arbeiteten den ganzen Tag unter Hochspannung und hatten uns gegen Mitternacht gerade etwas entspannt, als ein amerikanischer Kollege kam und sagte: They are all dead. Sie sind alle tot. Ich musste weinen; es hat mich so berührt wie wenig anderes in meinem Berufsleben.
Hart, gerecht, korrekt, fachlich exzellent. Das sagen Weggefährten über den Journalisten Peter Gehrig – Was haben sie vergessen?
Die Milde des Alters ist noch hinzugekommen. Aber im Ernst: Das Führen einer Nachrichtenagentur oder einer Redaktion überhaupt ist keine basisdemokratische Veranstaltung. Das habe ich meinen Leuten immer gesagt, denn am Ende muss einer sagen, wo es langgeht und die Verantwortung dafür übernehmen. Das schließt Teamarbeit ausdrücklich ein, aber nur bis zu bestimmten Grenzen.
Seit einem Monat sind Sie nun im Ruhestand. Gibt es einen Masterplan für den Rentner Gehrig?
Sobald man auf die Pensionierung zugeht, wird man von allen Leuten gefragt: »Was machst du denn danach?« Wenn ich dann sage, »das weiß ich nicht« »Das musst du doch wissen, du kannst doch nicht einfach nichts tun!« Natürlich kann ich nichts tun, ich kann auch irgendetwas tun. Es wird sich schon etwas finden. Aber ich habe keinen Entwurf für die nächsten 40 Jahre meines Lebens.
Haben Sie Angst vor Stillstand in Ihrem Leben nach dem stressigen Agenturleben?
Angst ist übertrieben; es könnte schon sein, dass ich in ein Loch falle. Aber ich habe eine liebe Frau und genug Bücher, um mich aus diesem Loch herauszuholen. Außerdem habe ich zwei Enkel, die mir viel Freude machen. Und ich werde bestimmt auch weiter schreiben.
Was denn?
Einen Roman möchte ich gerne schreiben. Es gibt verschiedene Dinge der letzten drei, vier Jahre, die ich mir von der Seele schreiben muss. Und da ich keinen Therapeuten in Anspruch nehmen möchte, werde ich das auf die einzig mir zur Verfügung stehende Art und Weise tun.
Welche Dinge sind das?
Mit einem Freund werde ich ein e-book, also eine digital abrufbare Buchversion, über Nachrichtenagenturen und Medien schreiben. Und danach möchte ich über das Ende der AP in Deutschland und die Übernahme durch die Herrschaften von dapd schreiben. Und über die Entwicklung nach der Übernahme.
dapd ist 2010 groß ins Agenturgeschäft eingestiegen und hat »Ihre« AP übernommen und mit der Agentur ddp verschmolzen. Vor drei Monaten ist alles geplatzt. dapd hat Insolvenz angemeldet. Für Sie persönlich muss diese Insolvenz doch besonders tragisch sein am Ende eines bewegenden und erfolgreichen Berufslebens?
Die Insolvenz macht mich sehr traurig. Die zwei Investoren aus Bayern, die Herren Löw und Vorderwülbecke, haben einfach den Geldhahn zugedreht. Das ist vor allem sehr, sehr traurig und beschämend für viele Weggefährten, die nicht wie ich das Rentenalter erreicht haben. Aber auch ich hätte mir einen erfreulicheren Schluss meines Berufslebens gewünscht.
Zurück zu den Momenten, die Ihnen sonst in Erinnerung geblieben sind. Sie haben da mal eine ziemlich hohe Telefonrechnung eingereicht …
Als im Jahre 1977 der von deutschen Terroristen ermordete Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer nahe dem französischen Mülhausen gefunden wurde, bin ich hingefahren. Da gab es bekanntermaßen noch keine Handys; also bin ich, um meinen Text an die Zentrale durchzutelefonieren, in die nächstliegende Kneipe gegangen. Die hieß »Le crocodile vert«, also »Das grüne Krokodil«. Nun, es war mehr ein Bordell, denn eine Kneipe. Ich bat den Wirt, ob ich kurz telefonieren könnte. Er sagte, er habe keinen Zähler, aber ich könnte pauschal mit einer Lokalrunde bezahlen. Gesagt, getan. Ich brauchte einige Überredungskünste hinterher in meiner Firma, um die 700 Francs, also etwa 120 Euro, erstattet zu bekommen für das kurze Telefonat.
Als jahrelanger Chefredakteur einer Agentur gehörten die Zeitungen immer zu wichtigen Kunden. Wo sehen Sie die Tageszeitung in zehn Jahren?
Die Tageszeitung wird sich weiter am Internet entlanghangeln müssen. Lokaljournalismus ist meist etwas für ältere Menschen. Der demografische Faktor spielt eine große Rolle dabei. Es gibt aber noch kein gut gemachtes lokales Angebot im Internet. Und solange es gut gemachte lokale Angebote im Print gibt, werden diese sich behaupten können.
Also kann eine Zeitung nur im Lokalen überleben?
Im Großen und Ganzen ja. Das Informationsangebot für internationale, nationale und überregionale Themen gibt es im Internet. Außerdem wird es weniger Menschen geben, die sich für das interessieren, was in Brüssel passiert. Die, die die Debatte des Bundeshaushalts als ein Muss-Seite-1-Thema sehen, werden stetig weniger.
Aber warum? Die Leute sind doch nicht dümmer geworden?
Nein, aber die haben andere Informationsquellen. Die gehen ins Internet oder schauen die Tagesschau. Solange der Lokaljournalismus nicht im Internet mit der gleichen Qualität stattfindet, kann man nur auf einer lokalen Ebene überleben.
Würden Sie sich angesichts dieser Entwicklung noch mal für den Beruf des Journalisten entscheiden?
Auf jeden Fall. Die Arbeit als Journalist hat mir ein Leben lang Spaß gemacht. Ich habe 44 Jahre und vier Monate weitgehend mit Freude gearbeitet in einem Spaßberuf und habe noch Geld dafür gekriegt. Viel mehr kann man vom Berufsleben nicht verlangen.
Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Beitrag?
Und wie! Ich habe in der Auslandsredaktion der AP gearbeitet. Mein erster Beitrag war ein Bericht über eine Explosion irgendwo in Frankreich mit 14 Toten. Den Bericht hat mir mein Vorgesetzter vier Mal mit der Bemerkung »falsch« wieder auf den Tisch gefeuert. Ich war verzweifelt, weil die Nachricht von der Konkurrenz schon im Rundfunk war und habe den Bericht wieder und wieder neu geschrieben. Ich wusste einfach nicht, wie ich da noch anders schreiben sollte. Dann habe ich die Geduld verloren und gesagt: »Was ist denn falsch daran?« Da hat er gesagt: » Als verbindet zwei zeitgleiche, voneinander unabhängige Ereignisse. Die Menschen sind nicht gestorben, als die Gasleitung explodiert ist, sondern weil die Gasleitung explodiert ist.« Da habe ich gefragt: »Hättest du mir das nicht gleich sagen können? Er hat geantwortet: Nein, wenn du das von alleine herausgefunden hättest, wäre das besser gewesen.«
Müssen Journalisten heute andere Dinge können als vor 30 Jahren?
Heute wird mehr Spezialisierung und auch mehr wirtschaftliches Denken gefordert. Jeder Journalist muss heute daran denken, dass die Zeitung ein Produkt ist, dass dieses Produkt verkauft werden muss. Der Journalist ist also auch zugleich Marketingmanager seiner Zeitung. Auch das Handwerk hat sich verändert. Lange Texte sind in der Zeitung kaum noch gefragt. Außer in Blättern wie der »Zeit« oder dem »Spiegel«. Bei Tageszeitungen ist eine Meldung kaum über 150, 200 Wörter lang. Das wird sich aber wieder ändern. Und zwar je eher die Zeitung ein eigenständiges, hoffentlich gegen Bezahlung funktio-nierendes, Internetmodell auf die Beine stellt.
Es wird immer Journalisten geben?
Der Mensch an sich ist neugierig. Er will wissen, was passiert. Nicht nur auf der hohen politischen Ebene, sondern der will auch unterhalten werden. Die Leute wollen von ihrer Umgebung genauso wissen wie von fernen Ländern. Die wollen nicht unbedingt wissen, ob der Herr Laurent Dagbo an der Elfenbeinküste irgendetwas macht, sondern die wollen wissen: Wie ist es an der Elfenbeinküste? Also Lesestoff wird das sein, was die Zukunft bestimmt. Den Beruf des Aufschreibers wird es immer geben. Irgendjemand muss es ja tun, damit es andere lesen können.
Mehr erzählen, weniger nüchtern berichten?
Nachrichten werden weiter an Gewicht verlieren, die Einordnung und die Erzählung werden noch bedeutender.
Was raten Sie jungen Journalisten?
Nehmt viel auf! Wer viel aufnimmt und viel weiß, kann auch viel wiedergeben. Wir alle sollten neugierig und mit offenen Augen durch die Welt gehen. Recherche bleibt das A und O. Nur wer gut recherchiert, kann auch gute Geschichten schreiben. Wer glaubt, alles schon zu kennen oder vorher zu wissen, ist kein Journalist.
(Das Gespräch führten die TA-Volontäre Lavinia Meier-Ewert, Julius Jasper Topp, Christian Gehrke, Mira Mertin, Friedemann Knoblich und Chefreporter Dirk Lübke)
(zu: Handbuch-Kapitel 46 Wer hat die Macht? + 57 Wie können Zeitungen überleben + 19 Die Nachrichtenagenturen + 2-4 Die Journalisten)
Journalismus als „Rohentwurf der Geschichtsschreibung“
Heute, Silvester 2012, erscheint die letzte gedruckte Ausgabe des Nachrichtenmagazins Newsweek, Jahrzehnte Konkurrent von Time; künftig kommt das Magazin nur als Internet-Ausgabe heraus.
Siegfried Buschschlüter, ehemals US-Korrespondent, würdigte im Mediengespräch des Deutschlandradio Kultur das Magazin und hob die Doppelausgabe nach dem 11. September 2001 hervor:
Eine detaillierte, gut recherchierte und hervorragend geschriebene Chronik. Dies sei auch Aufgabe des Journalismus, einen „Rohentwurf der Geschichtsschreibung“ zu liefern.
(zu: Handbuch-Kapitel 17-18 Recherche + 5 Die Internet-Revolution)
Ude (2): Die hohe Kunst des Lokaljournalismus
Wenn Münchens Oberbürgermeister verstehen will, was seine Verwaltung schreibt, schaut er in den Lokalteil der Zeitungen: „Ich verstehe viele Vorlagen nicht. Aber seriösen Zeitungen gelingt es, den wesentlichen Inhalt zu vermitteln.“ Das eine, die Leistung der Lokaljournalisten, sei eine Kunst; das andere, die Verwaltungssprache, ein Milieu-Schaden.
So sprach Christian Ude bei der Lokaljournalismus-Konferenz des Netzwerk Recherche in München (9. November 2012). Daraus abzuleiten ist die Forderung an die Lokaljournalisten: Übersetze die Verwaltungssprache in ein verständliches Deutsch, damit es nicht nur der Oberbürgermeister verstehen kann, sondern jeder Bürger deiner Stadt!
Eine weitere Kunst, die Lokaljournalisten beherrschen, lobte Ude: Aus einer neunstündigen Sitzung das Wesentliche zu destillieren. „Wir profitieren davon!“ – und meinte mit „wir“ die Politiker. Auch daraus kann man eine Forderung formulieren.
Eine dritte Kunst hob Ude hervor: „Als Korrespondent in Südamerika ist es völlig wurscht, was sie schreiben, im Lokaljournalismus muss jede Zahl und jeder Vorname stimmen, zumindest bei einem Stadtrat. Die öffentliche und soziale Kontrolle ist nirgends so enorm wie im Lokaljournalismus.“ Daraus folgert Ude: „Das hohe Selbstwertgefühl der Lokaljournalisten ist durchaus berechtigt.“
So lassen sich die Ude-Regeln der Lokaljournalisten-Kunst formulieren:
1. Schreibe so, dass dich jeder versteht, sogar der Oberbürgermeister!
2. Hole das Wesentliche aus jeder langen Sitzung, aus jeder Versammlung heraus!
3. Recherchiere sorgfältig, weil dich jeder kontrollieren kann!
Eine vierte Regel fügte er an: Kontrolliere die Mächtigen! Sei Wächter der Demokratie! Diese Regel formulierte Ude als Kompliment: „Man muss Lokaljournalisten fürchten!“
Die Wächterfunktion sei notwendig, denn – so Ude – „alle Menschen jeglicher Couleur neigen zum Machtmissbrauch, wenn sie nicht von außerhalb kontrolliert werden.“ Zu schreiben, was verschwiegen werden soll, sei die vornehme Aufgabe der Lokaljournalisten.
Wie er selber einmal in seiner Jugend wenig sorgfältig, aber dennoch erfolgreich gewesen war, erzählte er vor hundert Gästen im Restaurant der Süddeutschen Zeitung:
Ich habe eine Musikkritik in der SZ geschrieben, ohne dabei gewesen zu sein. Ich hatte keine Lust, bin ins Textarchiv gegangen, habe mir eine entsprechende Kritik von Joachim Kaiser angesehen, die besten Passagen abgeschrieben – und mir stattdessen einen unvergesslichen Abend im Biergarten gegönnt.
Der Konzertverein hat sich bedankt: „Der Kritiker hat mit viel Herzblut geschrieben.“ Die Plattenfirma hat meine Kritik aufs nächste Plattencover gesetzt.
Die Macht des Lokaljournalisten erlebte Ude bei den großen Studenten-Demonstrationen 1968, bei denen die Schätzungen der Teilnehmer zwischen Polizei und Zeitung immer stark differierten – bis eines Tages der Polizeichef auf Ude zukam und ihn fragte: „Wären Sie mir 3000 einverstanden?“
Der Lokaljournalismus ist für Ude kein Sprungbrett nach oben, er ist schlicht der folgenreichste Journalismus, der Ernstfall, wo es auf jedes Wort ankommt. „Nirgendwo ist die publizistische Wirkung so erfolgreich.“
Ude plädierte für Seriosität und Hintergründigkeit gerade im Lokaljournalismus: „Ich wundere mich, wie viele Journalisten sich auf den Wettlauf um Aktualität einlassen, statt auf Qualität und Ausführlichkeit zu setzen. Der recherchierende Journalist wird immer wichtiger – und deswegen sage ich es auch in Anwesenheit der Geschäftsführung.“
(zu: Handbuch-Kapitel 48-49 Presserecht und Ethik + 55 Der neue Lokaljournalismus + 3 Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht)
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