„Lokaljournalismus zwischen Recherche und Regionalstolz“
Für den 9. und 10. November organisiert das netzwerk recherche eine Konferenz zum Lokaljournalismus: „Dicht dran – oder mittendrin? Lokaljournalismus zwischen Recherche und Regionalstolz“. Der Besuch ist sehr zu empfehlen – auch oder gerade wenn einer beim Konferenz-Thema fragt: Sind Stolz auf die Heimat und gründliche Recherche Gegensätze?
Die Veranstalter schreiben zu den Themen der Konferenz, die im Verlagshaus der Süddeutschen im Münchner Stadtteil Berg am Laim stattfindet:
Wenn ein Journalist seine Arbeit gut macht, ist er dicht dran. Wer aber zu nah ran kommt, läuft Gefahr, zu viele Rücksichten zu nehmen. Auf den Bürgermeister oder den örtlichen Unternehmer, auf den Vereinsvorsitzenden oder den Anzeigenkunden.
Wo verläuft die Grenze zwischen dicht dran und mittendrin? Wann geht die nötige Distanz verloren? Wann wird Nähe gefährlich für den journalistischen Auftrag?
Mit der Fachtagung zum Lokaljournalismus wollen wir den schmalen Grat ausloten zwischen Lokalpatriotismus und kritischer Recherche. Gerade im Lokalen ist die Nähe Alltag, sind die kurzen Wege ein großer Vorteil, aber manchmal auch Risiko. Es ist die erste Konferenz, die das netzwerk recherche dem Lokalen widmet, und die erste, die in München stattfindet. Ermöglicht wird sie durch die Unterstützung der Süddeutschen Zeitung und der Deutschen Journalistenschule . An den rund 30 Einzelveranstaltungen wirken mehr als 60 Journalistinnen und Journalisten mit.
Es wird eine Konferenz der Grenzgänge. Da ist etwa die lokale Wirtschaftsberichterstattung, die im Ruf steht, mitunter zu unkritisch zu sein, um die örtlichen Arbeitgeber nicht zu beschädigen. Da sind die Großprojekte, die Glanz und Gloria für eine Region bringen, wenn sie denn gelingen. Und wenn nicht – hat dann nur die Politik versagt? Oder waren auch die Reporter zu gutgläubig?
Viele Kollegen in Lokalredaktionen sagen: Wir würden ja gerne mehr und tiefer recherchieren, aber wir schaffen es kaum, täglich unsere Seiten zu füllen. Gibt es Ideen, um trotz des wachsenden Drucks auf die Redaktionen noch Raum für intensives Nachfragen zu schaffen? Sind Rechercheteams auch für Regionalblätter und -sender ein sinnvolles Modell?
Wir wollen konkrete Tipps für den Alltag geben: Was tun, wenn man als Journalist bedroht wird, sei es von Neonazis, von Rockern oder gewöhnlichen Kriminellen? Was tun, wenn eine Kommune oder eine Firma mauert und keine Informationen herausrücken will? Wie findet man Lokales im weltweiten Netz? Wann läuft ein Journalist Gefahr, das Leid von Unfall- oder Verbrechensopfern unabsichtlich auszunutzen?
Einen Fokus wollen wir auch auf jene Beispiele lenken, in denen Vorbildliches gelungen ist. In den Erzählcafés werden Geschichten vorgestellen, die beispielhaft sind, in der Recherche, aber auch in der Relevanz. Und bei denen die Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz gelungen ist. Erzählen werden die Kollegen ihre Geschichten in der Panorama-Lounge.
Ganz oben im SZ-Turm wird das netzwerk recherche am Freitagabend auch den „Leuchtturm“ verleihen. Einen Journalistenpreis für herausragende und relevante Recherchen.
Eine Rede zur Lage des Lokaljournalismus wird dort Münchens Oberbürgermeister und Städtetagspräsident Christian Ude halten. Musik kommt von „Deadline“, der SZ-Redaktionsband.
Innenminister gibt ein wenig nach
In der Endlos-Geschichte um die staatlichen Medaillen-Vorgaben hat der Innenminister nach 14 Monaten erstmals Informationen herausgegeben. Die Geschichte der Verweigerung erzählen Daniel Dreppen (Freier im WAZ-Reporter-Ressort) und Niklas Schenk (Henri-Nannen-Schüler) auf Der-Westen.de
Allerdings geht es den beiden Reportern nicht nur um die Vorgaben des Staates, wie viele Medaillen die Olympioniken holen müssen nach dem Motto „Gold für Geld“ – auch wenn dies während der Olympischen Spiele die meisten Journalisten und TV-Zuschauer interessiert; es geht auch um eine umfassende Akteneinsicht: Wie läuft das Verfahren ab, nach dem die Millionen verteilt werden? Welche Kriterien gibt es?
Bisher in diesem Blog: Geld gegen Gold (am 10. August) und Gericht: Olympioniken-Chef muss Journalisten Auskunft geben (3. August)
(zu: Handbuch-Kapitel 17-18 Wie Journalisten recherchieren)
Geld gegen Gold – Der Innenminister will nicht informieren
Innenminister Friedrich spielt auf Zeit: Er will während der Olympischen Spiele keine Informationen liefern, welche Medaillen-Vorgaben sein Ministerium mit dem Sportbund ausgehandelt hatte. Dieses Geld-gegen-Gold-Geheimabkommen darf nicht geheim bleiben, so hatte das Verwaltungsgericht Berlin entschieden (siehe Handbuch-Blog vom 3. August)
Der Minister hat gegen den Beschluss Beschwerde eingelegt, das Oberverwaltungsgericht muss entscheiden. Das berichtet „Der Westen.de“ der WAZ-Gruppe.
Den Minister vertritt nach WAZ-Informationen „die bekannte (und sehr teure) Kanzlei Redeker Sellner Dahs“, die auch Ex-Bundespräsident Christian Wulff vertreten hat.
(zu: Handbuch-Kapitel 17-18 Wie Journalisten recherchieren + 50 Presserecht)
Warum ist Viagra blau? Wie Reportagen entstehen
Wie lange recherchiert ein Journalist für seine Reportagen? Gab es Schwierigkeiten bei den Recherchen? Wie kam er überhaupt auf das Thema? Was dachte er vor einem Gespräch von dem Menschen, den er porträtiert?
Leser interessiert nicht nur die Reportage, sondern – wenn sie gut ist – auch das Drumherum. Auf DVD von Filmen gibt es meist einen Bonus: „Making of“. Über das Making-of, das Entstehen einer Reportage erzählt der Spiegel schon auf der ersten redaktionellen Seite im Heft. Wer mit Redakteuren in Hamburg spricht, kommt oft und schnell zur „Hausmitteilung“; so dürfte der Redakteur, der die „Hausmitteilung“ schreibt, auch der am meisten kritisierte sein, also ein Höllenjob.
Vorbildlich macht das Making-of das SZ-Magazin: Am Ende einer Reportage sieht der Leser nicht nur das gezeichnete Porträt der Reporterin oder des Reporters, sondern liest auch das Making-of, beispielsweise in der aktuellen Ausgabe zur Titelgeschichte „Wege der Hoffnung / Wann muss das Jugendamt Kinder von ihren Eltern trennen?“ (31 – 3. August 2012):
Auf dem Weg zu dieser Geschichte fragte der Berliner Reporter ANDREAS WENDEROTH bei Dutzenden Jugendämtern in Deutschland an. Meist wurde er vertröstet, man werde nach geeigneten Fällen suchen, ja, wir rufen zurück. Zuweilen gab es begründete Absagen, etwa wenn die Familien nicht mitspielen wollten. Und hin und wieder erfuhr man, man habe keine Lust auf Presse, zu viele schlechte Erfahrungen. Umso erstaunter war Wenderoth, als sich nach Monaten erfolgloser Vorarbeit in Regensburg die Türen weit öffneten.
In derselben Ausgabe erzählt die Reporterin von ihrem Friseur und was er mit dem Gespräch zu tun hat, das sie mit Ulrike Meyfahrt geführt hatte:
GABRIELE HERPELL war 1972 voll vom Ulrike-Meyfahrt-Virus erfasst – wie ihre halbe Klasse übrigens. Sie sprangen im Sportunterricht nur noch den Flop und baten den Friseur um den Haarschnitt von Ulrike Meyfahrt. Das war nicht bei allen so eine tolle Idee.
In diesem Fall dürfte sich mancher Leser gewünscht haben, dass sich der Zeichner (oder der Friseur) ein wenig mehr Mühe gegeben hätte mit dem Bild der Reporterin.
Bisweilen ist das Making-of auch kein Making-of, sondern nur eine Anekdote aus der Recherche, die der Reporter nicht in seinem Text unterbringen konnte – wie über einen 92-jährigen Verleger im Gesundheits-Heft vom 29. Juni:
Am Anfang seiner Recherche hörte ROLAND SCHULZ das Gerücht, die Mitarbeiter der Apotheken Umschau trinken bevorzugt Champagner. Stimmt, zumindest am 5. Juni: Gewöhnlich schenkt Verleger Rolf Becker jedem Mitarbeiter an seinem Geburtstag eine Flasche Veuve Clicquot.
In demselben Heft erzählt eine SZ-Reporterin, wie sie auf die Idee kam zum Interview über die Farbe von Tabletten: („Weiß sind am billigsten.Warum ist Viagra blau?“):
MEIKE MAI kam die Idee zu diesem Interview, als sie in einer Damien-Hirst-Ausstellung vor einer Vitrine voller bunter Pillen stand. Sie fragte sich, wer kreativer war: Hirst oder die Designer der Pillen für das Werk Lullaby Spring.
(zu: Handbuch-Kapitel 32-33 Die Reportage + 39 ff „Wie man Leser gewinnt“ + der Idee, nicht nur „Zeitschriften-Vorspänne“ zu zitieren, sondern auch „Zeitschriften-Nachspänne“ im Kapitel 36 „Der Zeitschriftenjournalismus“).
Reporter im Film: Zwei der besten Filme heute im TV
Rosebud – dead or alive! Mit dem Wort „Rosebud“ auf den Lippen stirbt ein Medienmogul, gespielt von Orson Welles; ein Reporter recherchiert, was „Rosebud“ bedeutet. „Citizen Kane“, einer der besten Filme überhaupt und einer der besten Reporter-Filme: Heute abend (Montag, 6. August) um 20.15 auf Arte (Wiederholung am 23. August um 2.30 Uhr).
Anschließend um 22.50 Uhr auf MDR „Die Unbestechlichen“, in dem Dustin Hoffmann und Robert Redford die beiden Washington-Post-Reporter spielen, die den Watergate-Skandal aufdeckten und Präsident Nixon stürzen halfen. Recherche ist mühsame Arbeit und kein Geniestreich, ist Geduld und Hartnäckigkeit, ist Mut und Zivilcourage – das ist die Botschaft für Reporter in diesem spannenden Film.
(zu: Handbuch-Kapitel Service A Neue Rubrik „Filme und Fiktion“)
Gericht: Olympioniken-Chef muss Journalisten Auskunft geben!
Die Journalistenvereinigung netzwerk recherche fordert Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich und den Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes, Michael Vesper, auf: Legt die Medaillen-Zielvorgaben für die deutschen Athleten bei den Olympischen Spielen ohne weitere Verzögerung offen!
Die Journalisten Daniel Drepper und Niklas Schenck hatten bei einer Recherche für die WAZ-Mediengruppe vor dem Verwaltungsgericht Berlin erstritten, dass das Innenministerium die Medaillenziele offenlegen muss.
Das Gericht hat zweifelsfrei erklärt, dass die Auskünfte jetzt erteilt werden müssen. Die Offenlegung hinauszuzögern, bis die Spiele in London vorbei sind, wäre in höchstem Maße unsportlich,
erklärt Oliver Schröm, Vorsitzender von netzwerk recherche. Mehr als 10 Millionen Euro an Steuergeldern werden jährlich über die Zielvereinbarungen an die Sportverbände verteilt. „Die Öffentlichkeit hat ein Anrecht darauf, zu erfahren, unter welchen Voraussetzungen dies geschieht“, so Schröm.
Michael Vesper war übrigens Gründungsmitglied der Grünen.
(Aus einer Pressemitteilung von Netzwerk-Recherche)
Darf ein Reporter Löws Hotelzimmer durchsuchen? Oder: Die Jagd nach dem blauen Pullover
Journalisten durchsuchen Löws Papierkorb im Warschauer EM-Mannschaft-Hotel, finden darin den blauen Pullover, zuvor zum Kultobjekt des deutschen Siegeswillen erhoben.
Hatte Löw ihn nach der Italien-Niederlage wütend weggeworfen? Nein, sagen Löws Begleiter, er war in der Wäsche eingelaufen. Und andere Begleiter zitiert die Süddeutsche: Ein Tabubruch! Dass Reporter und Fotografen das Hotelzimmer des Bundestrainers nach seiner Abreise durchwühlen, das ist noch nie vorgekommen!
Die Durchsuchung ist rechtlich am Rande der Zulässigkeit, aber ein Tiefpunkt der journalistischen Moral.
(Quelle: SZ 28. Juli 2012)
(zu: Handbuch-Kapitel 48-49 Presserecht und Ethik)
„Jetlag-Journalismus“
Manchmal fallen Reporter zum ersten Mal in ein fremdes Land ein und setzen noch am selben Tag ihren ersten Hintergrundbericht ab. Im angelsächsischen Sprachraum gibt es für diese zweifelhafte Praxis einen wunderbaren Begriff: jetlag journalism. Will sagen: Wer sich erst ein paar Stunden vor Ort tummelt, solle vielleicht doch etwas vorsichtiger sein mit apodiktischen Urteilen über unbekannte Kulturen und Gesellschaften.
Bernd Ziesemer im Handelsblatt vom 25. Juni 2012
(zu: Handbuch-Kapitel 2 „Welche Journalisten wir meinen und welche nicht“)
Das Motto der Richterin: „Audiatur et altera pars“
Das Lebensmotto einer hohen Richterin könnte gut das Motto eines überzeugten Journalisten sein. Angelika Nussberger ist die einzige deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte:
Vielleicht könnte ich für meine richterliche Tätigkeit ein Motto nennen, ein sehr einfaches Motto, dessen Richtigkeit sich für mich aber immer wieder von Neuem erweist: „Audiatur et altera pars.“
Als Richter muss man in erster Linie zuhören und zu verstehen versuchen. Und man darf keine Schlussfolgerungen ziehen, bevor man sich nicht mit allen verschiedenen Sichtweisen vertraut gemacht hat.
Interview von Michaela Thiel auf der Alumni-Seite der Uni Würzburg
(zu: Handbuch-Kapitel 17-18 „Wie Journalisten recherchieren“)
Wir vermitteln nur schlecht, wie die Wirtschaft funktioniert
„Der Stellenwert der Wirtschafts-Berichterstattung wird sich weiter erhöhen“ – das ist das Ergebnis einer Umfrage des Ernst-Schneider-Preises unter 76 Chefredakteuren und Wirtschafts-Journalisten. Drei Viertel sagt, nicht gerade überraschend in der Finanzkrise: Wirtschaftliche Themen werden für die Gesellschaft wichtiger werden.
Ebenfalls drei Viertel meint selbstkritisch: Wir tun nicht genug, um Lesern, Hörern und Zuschauern wirtschaftliche Zusammenhänge zu vermitteln. Welche Konsequenzen Chefredakteure daraus ziehen, ist nicht übermittelt. (Quelle: Medienbrief der Industrie- und Handelskammern)
(zu: Handbuch-Kapitel 47 „Newsdesk und Ressorts“ + 57 „Wie können Zeitungen überleben“)
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