Ethik nach dem Absturz (4): Es gibt respektable Gründe, den Namen des Kopiloten zu nennen
„Absurd“ nennt FAZ-Onlinechef Mathias Müller von Blumencron die Diskussion über die Namens-Nennung des Kopiloten des German-Wings-Flugs 4U9525. „Die ganze Diskussion darüber ist merkwürdig und wird außer in Deutschland auch nirgendwo geführt“, sagt er in einem W&V-Interview.
Absurd war die Diskussion, weil viele Medien wortreich begründeten, warum der Name genannt oder eben nicht genannt wurde. War dies quasi das Gegenstück zum Eskalationsjournalismus? Statt lautstarker Versuche, mit mehr oder weniger wichtigen Informationen große Resonanz zu erzeugen, die anbiedernde, fast peinliche Erklärung, warum man etwas so oder so sieht?
Auf die Frage von Volker Schütz: „Gehört zu dem von Ihnen beschworenen Qualitätsjournalismus auch die volle Namensnennung?“ antwortet Blumencron:
Selbstverständlich. Der Mann hat 149 Menschen in den Tod gerissen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer dieser Mann war. Denn nur seine Biografie kann uns helfen, diesen Irrsinn zu verstehen. Und dabei helfen, dass wir die Mechanismen verbessern, um eine Wiederholung zu verhindern.
Blumencron geht auf den Vorwurf ein, Medien bauschen auf, suhlen sich in der Sensation, eskalieren:
Bei der Berichterstattung über dieses Ereignis gab es nichts zum Eskalieren. Diese Tat selbst ist eine der größten vorstellbaren Eskalationen. Selbst wenn ich mich dem Ereignis ganz nüchtern nähere, und nichts anderes ist angemessen, entfalten die Berichte eine ungeheuerliche Wucht. Und das ist für viele Leser verstörend: Die Wirklichkeit ist kaum auszuhalten.
Aber wie sollen wir umgehen mit den Lesern, die sich einmischen in unsere Debatten, die Medien beobachten wie nie zuvor, die kritisieren und verstören:
Das bedeutet: Journalisten müssen manchmal erklären, warum sie wie berichten. Das ist gut so, das ist nicht anbiedernd. Man darf allerdings keinesfalls das Gefühl erzeugen, permanent über sich selbst zu philosophieren. Unser Geschäft ist die Aufklärung über den Gang der Welt, nicht über den Gang einer Redaktion.
(W&V 16.4.)
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Das Dart-Center: Wachsendes Bewusstsein für Ethik
Es lohnt für uns Journalisten ein Blick ins „Dart-Center“, in dem sich Psychologen und Journalisten um traumatische Erfahrungen kümmern: Wie gehen Journalisten mit traumatisierten Menschen nach einer Katastrophe um? Wie erkennen sie Traumata? Wie gehen Journalisten mit ihren eigenen Traumata um?
Auf ihrer Homepage stellen die Dart-Center-Experten das neue Phänomen fest:
Die Berichterstattung der Tage direkt nach dem Unglück zeichnet sich auch dadurch aus, dass Medienkritiker fast zeitgleich mit der akuten Berichterstattung schon zu Achtsamkeit und zum differenzierten Umgang mit den Informationen und Angehörigen mahnten. In den sozialen Medien wurde der Absturz selbst fast genauso leidenschaftlich besprochen, wie die Berichterstattung über den selben.
Das „Dart Center für Journalismus und Trauma“ kommt zu dem Ergebnis: „Der Germanwings-Absturz war nicht unbedingt “ein Absturz des Journalismus” war, sondern auch ein Zeichen für ein wachsendes Bewusstsein für Ethik in der Berichterstattung.“
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Hatte der Co-Pilot gute Absichten?
Ein ungewöhnliches Argument finde ich in einem Kommentare auf persoenlich.com: War der Copilot „vielleicht war er sogar in der Meinung ,gut‘ zu handeln?“ Deshalb könne man den Co-Piloten ein Opfer nennen.
Ein Kommentator entgegnete: „‚Gut‘ zu handeln“ – wie krank ist das? Damit kann man alles entschuldigen. Hitler war dieser Meinung, Stalin, Breivik. Alle meinten es nur gut.“
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Beim 11. September nannten wir die Namen der (muslimischen) Attentäter
Warum haben wir bei dem Absturz ein Problem, den Namen zu nennen? fragt Wolfgang Kretschmer auf Facebook:
Erinnert sich noch jemand an die Terroranschläge auf das World Trade Center? Damals hatte niemand in keiner Redaktion ein Problem damit, die bald darauf bekannten Klarnamen der Attentäter abzudrucken, deren Hauptakteure Studierende in Deutschland waren.
Warum handeln wir bei vergleichbaren Katastrophen unterschiedlich?
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BILD und der Absturz
Zum Abschluß sei Bild-Chefredakteur Kai Dieckmann zitiert, der mit Julian Reichelt die Berichterstattung von Bild rechtfertigt, sie „für völlig selbstverständlich und absolut zwingend hält“. Auch wenn wir anderer Meinung sind als Dieckmann, finde ich es respektabel, dass sich Dieckmann äußert und seine Gründe ausführlich darlegt. Man muss schon sehr überzeugt von der eigenen Rechtschaffenheit sein, um sie nicht wahrnehmen und diskutieren zu wollen:
Argument 1: Es war ein Ritualmord von historischem Ausmaß
Nach Erkenntnissen der ermittelnden Staatsanwaltschaft hat Andreas Lubitz „die Zerstörung des Flugzeugs bewusst eingeleitet“ und somit 149 mit in den Tod gerissen – ermordet. Er hat selbst gewählt, ein Verbrechen von historischen Ausmaßen zu begehen. Er ist ein Amokläufer, der mehr Menschen auf dem Gewissen hat als jeder Einzeltäter der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Seine Waffe war keine Pistole, kein Gewehr, sondern – wie bei den Terroristen des 11. September – ein Passagierflugzeug. Er hat seinen Opfern nicht mal die „Gnade“ eines schnellen Todes gewährt, sondern sie qualvollen acht Minuten Sinkflug in den Tod ausgesetzt. Wenn man versucht zu erahnen, was diese acht Minuten für die Menschen an Bord bedeutet haben müssen, kann man das durchaus als grausam, als Folter, als Ritualmord bezeichnen.
Argument 2: Der größte Verbrecher des Jahrhunderts
Wir haben es mit einem Mann aus der Mitte unserer Gesellschaft zu tun, der als Figur des Grauens, als bisher größter deutscher Verbrecher des (jungen) 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird. Die Aufgabe von Journalismus ist es, Geschichte zu erkennen, zu dokumentieren, zu erzählen, während sie entsteht. Das ist zwar deutlich schwieriger als der Rückblick, wenn alle historischen Fakten bekannt sind, aber es ist der Kern unseres Berufs.
Argument 3: Menschen, auch Amokläufer , haben Namen und machen Geschichte
Wir halten es für legitim, die Hauptbeteiligten von historischen Ereignissen beim Namen zu nennen. Der Amokläufer von Erfurt hieß Robert Steinhäuser, der Amokläufer von Winnenden hieß Tim Kretschmer. Die Geiselgangster von Gladbeck hießen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski. Geschichte wird von Menschen gemacht. Menschen haben Namen. Namen sind Geschichte.
Argument 4: Personen der Zeitgeschichte haben ein Gesicht
Wir glauben auch, dass es richtig ist, den Täter Andreas Lubitz zu zeigen. Als Person der Zeitgeschichte muss er – auch im Tod – hinnehmen, dass er mit seiner vollen Identität, seinem Namen und auch seinem Gesicht für seine Tat steht.
Wir machen Andreas Baader, Mohammed Atta und Anders Behring Breivik nicht unkenntlich. Und genau so wenig tun wir es mit Andreas Lubitz, dessen Name der französische Staatsanwalt in einer dramatischen und historischen Pressekonferenz vor der Weltpresse buchstabierte.
Argument 5: Psychische Krankheit macht einen nicht weniger historisch
Natürlich war Andreas Lubitz psychisch krank. Wer nicht psychisch krank ist, entschließt sich nicht zu einer solchen Tat, aber das macht Andreas Lubitz nicht weniger historisch.
Argument 6: Fast alle großen Medien nennen den Namen
Der überwältigende Anteil traditioneller Medien auf der ganzen Welt hat dieselbe Entscheidung getroffen wie wir. Darunter ausnahmslos alle Medien, die den journalistisch-ethischen Standard unseres Berufes seit Jahrzehnten prägen: Der Guardian, die BBC, die New York Times, die Washington Post, CNN, die Nachrichtenagentur Reuters, das Wall Street Journal, der Stern in Deutschland. Wir sagen damit nicht, dass wir so handeln, weil andere so handeln. Wir kommen nach langen inner-redaktionellen Debatten nur zu derselben Entscheidung wie unsere Kollegen weltweit.
Argument 7: Social Media nennt millionenfach den Namen
Sowieso ist es abwegig zu glauben, dass die traditionellen Medien in Zeiten von Social Media Informationen kontrollieren, zurückhalten könnten. Der vollständige Name Andreas Lubitz wurde seit gestern über 120.000 Mal getwittert und ist ein weltweiter Trend. Auf Google gab es gestern allein in Deutschland eine Million Suchanfragen zu „Andreas Lubitz“. Die Vorstellung, wir könnten auch nur ansatzweise Einfluss darauf nehmen, ob der Täter idenifizierbar ist oder nicht, ist schlicht absurd.
Resumee: Es war richtig, den Namen zu nennen
Nach unserem journalistischen Selbstverständnis kann es nur eine Antwort auf die Frage geben, ob Menschen, die historisch Großes leisten und historisch Schreckliches anrichten, mit ihrer vollen Identität dafür stehen und einstehen sollten: Ja.
Absturz von 4U9525 und der Leser Fragen: Was ist Boulevard?
Eine Leserin der Thüringer Allgemeine (TA) schreibt im Internet zur Berichterstattung über den Absturz der German-Wings-Maschine in den französischen Alpen:
Die TA bewegt sich immer mehr zum Bild-Zeitungs-Niveau.
Ein weiterer Leser findet – ebenfalls auf unseren Internet-Seiten – die Berichterstattung zu dem Fall unmöglich:
Der volle Name wird mit Bild veröffentlicht. Am besten gleich noch die volle Anschrift.
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Was ist Boulevard-Niveau? Der Bestseller-Autor Martin Suter lässt in seinem aktuellen Roman „Montecristo“ einen Redakteur den „Boulevard“ charakterisieren:
„Straßenjournalismus sollte es heißen. Gossenjournalismus! Er zielt auf die niedrigen Instinkte der Leser.“
In der Tat neigt der Boulevard dazu, mit der Wahrheit ebenso zu spielen wie mit der Menschenwürde; er schätzt die Sensation, auch wenn er eine Sache aufbauschen muss, und er mag keine langen Erklärungen, sondern schnelle Urteile. Vor allem zielt er auf die Gefühle der Menschen.
Das unterscheidet den Boulevard von seriösen Zeitungen. Doch der offenbar mutwillig provozierte Absturz eines Flugzeugs und der Tod von 150 Menschen wühlt jeden auf – selbst wenn eine Zeitung noch so distanziert berichtet.
Auch unsere Zeitung konnte über den Absturz nicht berichten wie über eine normale Landtags-Sitzung. Aber wir haben nicht mit der Würde der Opfer und ihrer Angehörigen gespielt, wir haben keine Angehörigen belästigt oder belagert, auch nichts aufgebauscht – es sei denn man wolle uns vorwerfen, überhaupt so ausführlich über den Absturz berichtet zu haben.
In der TA haben wir weder den vollen Namen noch das Porträt des Co-Piloten veröffentlicht.
Viele seriöse Zeitungen wie die „Süddeutsche“ oder die FAZ, aber auch unser Online-Auftritt, haben den Namen ausgeschrieben, nachdem ihn der französische Staatsanwalt in einer Pressekonferenz genannt hatte.
Unter Journalisten ist zur Namens-Frage eine heftige Debatte ausgebrochen:
Muss man die Angehörigen des Co-Piloten schützen? Dann darf man weder den Namen noch sein Gesicht zeigen.
Oder ist der Co-Pilot als ein Massenmörder zu einer Person der Zeitgeschichte geworden? Dann könnte man Namen wie Gesicht zeigen.Wie würden Sie entscheiden?
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THÜRINGER ALLGEMEINE, 4. April 2015, Leser fragen
BILD und Süddeutsche gegen den Spiegel: Mit ein bisschen Spott ins neue Jahr
Sensation beim SPIEGEL
1. Print-Redakteur geht ins InternetAuch wenn 90 Prozent der BILD-Leser die Häme nicht verstehen: Auf der letzten Seite der Silvester-Ausgabe pflegt die Redaktion ihre Abneigung gegen die Kollegen aus Hamburg, deren Abneigung allerdings noch ungleich größer sein dürfte. Immerhin begann der dramatische Abgang des Spiegel-Chefredakteurs Büchner mit der Berufung eines BILD-Manns als stellvertretendem Chefredakteur. Es gibt übrigens Scherze, die dürftiger sind als der Spiegel-Spott, etwa: „Statt Soli! Westen schenkt Osten SOLIngen“
Silvester ist wohl der Tag der Spottlust: Auch bei der Süddeutschen fällt Willi Winkler über den Spiegel her. In einem fiktiven Gespräch lässt sich Gruner+Jahr-Chefin Julia Jäkel als Nachfolger für den Spiegel-Chefredakteur einfallen und präsentieren:
Gniabor Steingart, Henryk M. Broder, Miriam Meckel, Margot Käßmann (Warum nicht? Der Papst hat gerade verkündet: Die Welt braucht mehr Zärtlichkeit.), Johannes B. Kerner, Giovanni di Lorenzo, Helene Fischer („Sie kommt aus Sibirien, damit kontern wir die ganzen Putin-Versteher aus“), Markus Lanz – aber nicht Ulrich Wickert, ihren Ehemann, der am Ende auftaucht und aus seinem Buch liest: Was uns Werte wert sein müssen.
Darf eine Zeitung das Bild eines rasenden Politikers drucken? Ramelows Blitzerfoto und Quietsche-Enten
Ein Leser der Thüringer Allgemeine fragt zum „Blitzerstreit des B.R.“, gemeint ist Bodo Ramelow, der erster Ministerpräsident der Linken in Deutschland werden will: „Der Abdruck des Blitzerfotos ist gesetzwidrig, er verletzt das hohe Gut des Persönlichkeitsrechtes – warum dazu kein Hinweis?“ Der Leser bezieht sich auf Berichte und Fotos, zuerst der Bildzeitung, über Bodo Ramelow, der zu schnell gefahren sein soll, wie ein Blitzerfoto beweise (was von ihm bestritten wird: Erst akzeptierte er den Bußgeldbescheid nicht, aber zahlte dann laut eigener Angabe doch, nachdem der Fall ans Amtsgericht weitergeleitet und öffentlich diskutiert worden war).
Auch die Thüringer Allgemeine und der FAZ berichteten ausführlich, FAZ und Bild sogar mit Angabe des Kennzeichens von Ramelows Wagen.
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“ auf der Leserseite:
Es gibt in der Tat ein Recht am eigenen Bild. Doch gibt es auch eine Reihe von Ausnahmen – vor allem für Bürger, die gewählt sind als Vertreter des Volks, für Bürger, die berühmt sind und die sich in der Öffentlichkeit stolz präsentieren.
Blitzerfotos waren sogar Gegenstand einer Klage beim Bundesverfassungsgerichts, das entschied: Sie sind erlaubt, denn sie werden auf öffentlichen Straßen aufgezeichnet und sind jedermann wahrnehmbar – und schließlich gehe es um die Sicherheit im Straßenverkehr, die eine Einschränkung der „grundrechtlichen Freiheiten“ erlaubt.
Vor allem Politiker, die von den Bürgern als Vorbild gesehen werden, müssen akzeptieren, dass sie im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Bodo Ramelow nennt dies in einer Facebook-Nachricht sinngemäß: Die Presse spiele mit Quietsche-Enten. Selbst eine Politikerin wie Heidi Simonis, die abgewählt war, musste ertragen, dass sie beim Einkaufen fotografiert wurde. Der Bundesgerichtshof entschied: Die Bürger dürfen erfahren, wie sich ein Politiker verhalte – gerade in spektakulären Situationen. Er könne sich “nicht ohne Weiteres der Berichterstattung unter Berufung auf seine Privatheit entziehen“.
Und dass sich Bodo Ramelow in einer spektakulären Situation befindet, dürfte selbst bei ihm unstrittig sein, wie sein persönliches Engagement in den sozialen Netzwerken beweist.
Zudem: Wen sollte ein Reporter nach der Zustimmung zur Veröffentlichung des Blitzerfotos fragen, wenn unklar ist, wer überhaupt auf dem Foto abgebildet ist?
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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“ 15. November 2014 (hier erweitert)
Quellen: Bild 6.11. „Wird hier Thüringens neuer Landeschef geblitzt?“ und FAZ 7.11. von Claus Peter Müller „Zur Akteneinsicht gebracht“
Die SZ über Lothar Matthäus Ehen: Was ist eine gute Überschrift?
Der Herr der Ringe
Die SZ auf ihrer Panorama-Seite über eine Chronik der fünf Ehen von Lothar Matthäus. Ist dies eine gute Überschrift?
Überschriften sollen nachrichtlich sein, das ist ihre wichtigste Funktion, sagt die Leseforschung. Zu Recht: Leser wollen ihre knappe Lese-Zeit nicht mit Suchen vergeuden, sondern durch Überschrift und Foto schnell entscheiden, ob sie ein Beitrag interessiert – oder ob es sinnvoller ist weiterzublättern.
Schön darf, ja soll die Überschrift auch sein, aber nicht verspielt. „Feuilletonistisch“ schwärmen gerne Redakteure, wenn sie dichten, aber den Leser nicht informieren. Das beliebteste Spiel der verkannten Dichter ist die Anspielung an Film- oder Buchtitel, die jeder kennt (eben: „Der Herr der Ringe“) oder die Alliteration (gleicher Laut oder Buchstabe bei jedem Wort-Anfang). Ein berühmtes Beispiel aus der Bildzeitung vom 8. April 2006:
Klinsi killt King Kahn
Also: Nachrichtlich und sprachlich schön – das ist die perfekte Überschrift. Im Zweifelsfall geht die Nachricht vor der Schönheit.
Und die SZ-Überschrift „Der Herr der Ringe“? Eigentlich nur schön, aber nicht nachrichtlich. Schaut man aber auf den gesamten Beitrag, ist die Überschrift perfekt: Zu sehen sind fünf Bilder von Matthäus mit seinen Frauen; die Nachricht übermitteln die Bilder.
Am Rande sei das schönste Matthäus-Zitat erwähnt (nach dem Ende der vierten Ehe):
Manchmal schaut man dann schon in den Spiegel und denkt: Was ist das für eine Welt? Was für eine schmutzige Welt!
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Quelle: SZ 20.9.2014
Ice-Bucket-Challenge: Darf sich ein Redakteur von einem Politiker im Wahlkampf einladen lassen?
Wahlkampf in Thüringen. 16.000 Zuschauer im Erfurter Stadion warten auf den Anpfiff des Ost-Derbys gegen Dresden in der Dritten Liga. Am Rande des Rasens steht Bodo Ramelow, Spitzenkandidat der Linken, mit einem roten „Linken“-T-Shirt; rechts und links von ihm stehen auf zwei Hockern Rot-Weiß-Balljungen mit Eiskübel. Ein künftiger Ministerpräsident, möglicherweise, schüttet sich nicht selber Eiswasser über den Kopf.
Wir sind bei der Eiswasser-Wette, dem Ice Buckett Challenge, in den USA erfunden, um Geld für die kaum erforschte Nervenkrankheit ALS zu besorgen. Wer nicht Eiswasser über seinen Kopf kippt, zahlt hundert Dollar; Bill Gates hat sich beteiligt, Mark Zuckerberg und Bild-Chefredakteur Kai Diekmann (der einen „gewissen Christian Wulff“ und seine Frau nominiert haben soll). Nicht reagiert haben Joachim Löw, Angela Merkel und Wladimir Putin.
Auch das gehört eben zum Ritual der Wette: Bodo Ramelow nennt drei Menschen, die seinem Vorbild folgen sollen. Darunter ist sein „spezieller Freund“, der Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, gegen den er im Wahlkampf unzählige Tweets, Retweets, eine Unterlassungserklärung verfasst hat und reichlich Missfallens-Bekundungen erlassen.
Soll ein Chefredakteur (oder auch jeder andere Redakteur) über dies Stöckchen im Wahlkampf springen? Wird er dann nicht Teil des Wahlkampfs? Macht er sich nicht lächerlich vor seiner Leserschaft einer seriösen Zeitung? Oder ist er einfach ein Spielverderber? Einer, der alles zu ernst nimmt?
„Kann er nicht digital“, twittert einer, als meine Antwort nicht rechtzeitig kommt. Man muss, nach den Regeln, innerhalb von 24 Stunden eiskübeln. Meine Antwort an Ramelow:
Sie können mich nicht einladen: ich bin Journalist, kein Wahlkämpfer. Ich kämpfe weder für sie, noch für andere.
Ramelow ist indigniert und grummelt, ich hätte das Ganze nicht verstanden und sollte mal Wikipedia lesen. Meine Antwort:
Wiki lesen: „Ein Internet-Phänomen, von vielen ausgenutzt, sich selbst in Szene zu setzen.“
Übrigens: Die Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis lehnte auch ab: „Ich spende lieber still und leise.“
Hanns Joachim Friedrichs sprach den legendärer Satz, im Handbuch auf Seite 176 zu finden:
Einen guten Journalist erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.
Den beiden schließe ich mich an, ebenso:
Mittlerweile schwappt die Eiskübel-Welle weiter, ohne dass noch großartig auf diesen ernsten Hintergrund hingewiesen wird. Bei der aktuellen Flut an Eiswasser in sozialen Netzwerken bekommt man den Eindruck, es werde nur noch Wasser geschüttet, um sich ins Gespräch zu bringen. […] So wird aus einer Idee, die eine ernste Angelegenheit humorvoll verpackt, ein verwässertes Internet-Phänomen, das von vielen letzten Endes nur ausgenutzt wird, um sich selbst in Szene setzen.
Tanja Morschhäuser: Verwässertes Internet-Meme. Frankfurter Rundschau, abgerufen am 23. August 2014.
Diekmann hat bei Wulff-Frühstück nicht angebliche Rotlicht-Vergangenheit der Gattin angesprochen, so Diekmann
Veränderte Überschrift
@KaiDiekmann korrigierte in einem Tweet:
@pjraue BEI JENEM FRÜHSTÜCK spielte das Thema in der Tat keinerlei Rolle! Heisst nicht, dass es nicht eine andere Gelegenheit gab!
Die ursprüngliche Überschrift lautete: „Diekmann hat mit Wulf nicht über angebliche Rotlicht-Vergangenheit der Gattin gesprochen, sagt Diekmann“
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Was geschah beim Frühstück im Schloss Bellevue, als Bundespräsident Wulff Bild-Chefredakteur Diekmann zu Kaffee und Toast eingeladen hatte – damals wohl noch ein Herz, aber ohne Seele? Die Berliner Morgenpost lauschte und schrieb nach dem Wulff-TV-Auftritt bei Maybrit Illner:
Wer seine Urlaube mit Top-Wirtschaftsleuten verbringt, wer Amt und Freundschaften bis zur Unkenntlichkeit vermischt, der ist eine dubiose öffentliche Figur. Und wenn Kai Diekmann bei einem privaten Frühstück im Schloss Bellevue die neue Ehefrau Bettina Wulff auf ihre angebliche Rotlichtvergangenheit anspricht, dann wäre spätestens das der Moment gewesen, den Mann sofort vor die Tür zu setzen. Warum hat Wulff damals kein Rückgrat gezeigt?
Diekmann antwortet kurz vor Mitternacht per Twitter:
@KaiDiekmann: Ganz einfach, liebe @morgenpost: Ich habe das Thema bei jenem Frühstück gar nicht angesprochen.
Worüber haben die Drei denn gesprochen? Die FAZ hatte Wulffs Mailbox-Nachricht auf Diekmanns Handy veröffentlicht – ist jetzt die Süddeutsche an der Reihe, Diekmanns Gedächtnisprotokoll des Frühstücks im Bellevue zu drucken?
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Quellen: Morgenpost 25.7.2014 / Tweet Diekmann
Interview-Eklat (2) – Spiegel-Reporter erzählt vom Wulff-Gespräch: Es hat einige Male vor dem Abbruch gestanden
„Ich war eine Provokation“ steht auf dem Titel des neuen Spiegel, das auf einem Gespräch mit Ex-Bundespräsident Christian Wulff basiert, dessen Autorisierung lange fraglich war. So erzählt Spiegel-Reporter Peter Müller in einem Video auf Spiegel-Online. Wird es üblich, dass ein Interview, vor allem ein hart geführtes, begleitet wird von einem „Making of“? Also einem Bericht des Redakteurs, wie schwierig die Autorisierung war? Diese Berichte, einseitig von Natur aus, werden ja nicht autorisiert.
Gerade hat Markus Wiegand im Wirtschaftsjournalist erzählt, wie schwierig die Autorisierung eines Weimer-Interviews war (siehe dazu den Blog „Elite der Journalisten sind Weicheier“).
Offenbar missfällt immer mehr Reportern die deutsche Eigenart, Interviews autorisieren zu lassen. Sie beneiden ihre amerikanischen und britischen Kollegen, die – wie die New York Times – prinzipiell nicht autorisieren lassen. Doch hat der deutsche Sonderweg einen großen Vorteil: Politiker und andere Funktionäre sprechen frei und üben nicht vorher Phrasen und Textbausteine wie bei den unsäglichen TV-Erklärungen.
Vor wenigen Tagen erzählte Katrin Göring-Eckardt bei einem Redaktionsbesuch in Erfurt: Sie habe sich vor dem Interview mit einem angelsächsischen Journalisten gut vorbereitet und alle möglichen Sätze im Kopf bereitgelegt. Allerdings habe der Journalist von sich aus einer Autorisierung zugestimmt: „Ich weiß, dass Sie hier andere Sitten haben.“
Im Wulff-Interview, an dem auch Chefredakteur Büchner teilnahm (als einziger auf dem Foto grimmig schauend), beklagt Wulff verschiedene Spiegel-Titel, die Verrohung des Diskurses, Häme, Diffamierung und Denunziationen. Er verlangt härtere Regeln und Strafen des Presserats.
Kai Diekmann, Bild-Chefredakteur, weiß noch mehr. Er twittert:
Warum hat es so lange gedauert, das Interview mit Wulff zu veröffentlichen? Ist doch schon vor über 5 Wochen geführt worden…
Elend und wenig Glanz im Sportjournalismus: „Die Sache ist durch“
Was macht aus einem Sportreporter einen guten Journalisten? Wenn er keine dämlichen Fragen stellt! Wenn er sein Urteil über ein Spiel nicht dem Trainer ins Gesicht soufliert – und noch mühsam ein Fragewort anschließt: „Oder?“?
„Die Sache ist durch – oder?“, meinte der junge ZDF-Reporter Jochen Breyer im Angesicht von Jürgen Klopp, nachdem Borussia Dortmund gerade hoch in Madrid verloren hatte. Das ist eine Suggestivfrage, die ein Journalist nur in hoher Not nutzt – wenn er beispielsweise einen Politiker in die Enge treiben will, um ihm endlich die Wahrheit zu entlocken.
„Doofe Frage“, meint Bild-Kult-Briefeschreiber Franz-Josef Wagner und rammt den ZDF-Reporter gleich in Grund und Boden: „Ein grinsendes Milchbärtchen, der sein Mikro hält wie einen Babyschnuller… und erst einmal anfangen sollte bei Blindekuh und Federball.“
Der FAZ-Redakteur Tobias Rüther, zehn Jahre älter als der ZDF-Reporter, kritisiert wie sein Bild-Kollege: „Im Vollbesitz des Mikrofons weidete sich Jochen Breyer an der Wehrlosigkeit Klopps.“
Rüther zielt aber mit seiner Kritik ins Grundsätzliche: Welches Selbstverständnis haben die Sportjournalisten im Fernsehen?
Die fünf Minuten vom Mittwochabend zeigten wieder einmal den kaum zu ertragenden Opportunismus im Fernsehsportjournalismus: Wenn es gut läuft, siegen die Moderatoren und Kommentatoren immer schön mit, wenn es schlecht ausgeht, wissen sie aber ganz genau, woran es gelegen hat. Das ist eine Machtfrage.
Das ist das Prinzip des Boulevards: Wer mit uns im Aufzug nach oben fährt, fährt mit uns auch wieder nach unten. So prinzipiell konnte Franz-Josef Wagner nicht kommentieren.
Bild-Kolumnist Alfred Daxler heute (5. April) hat in „Nachgehakt“ sein Archiv geöffnet und die schönsten Trainer-Reaktionen auf dumme Journalisten-Fragen zelebriert:
„Dann interview dich doch selbst!“ (Jürgen Klopp)
„Haut‘s euch in Schnee!“ (Ernst Happel)
„Sie (Journalisten) denken nur von der Tapete bis zur Wand!“ (Max Merkel)
„Schleich di mit deinem Kasperl-Sender…“ (Franz Beckenbauer)
Und wie reagierte Jürgen Klopp auf die Frage des ZDF-Reporters? Mit einer Gegenfrage: „Wie könnte man mir Geld überweisen für meinen Job, wenn ich heute hier stehen würde und sagen würde: Das ist durch?“
Und wie reagierte der ZDF-Reporter Breyer gegenüber Bild? „Das war eine dämliche Frage.“
Am Ende waren es doch zwei Profis, der Klopp und der Breyer.
Quellen: Bild 4. und 5. April, FAZ 4. April
BILD wird zur APO: Was Journalismus in einer Großen Koalition leisten muss
Man kann die Nase rümpfen, sich abwenden – weil die Bildzeitung es macht. Aber das Boulevard-Blatt zeigt heute auf der Titelseite, wer immer die wahre Opposition in der Republik ist – und erst recht in einer Großen Koalition, in der es praktisch keine Opposition im Parlament mehr gibt: Die Journalisten.
Eine Demokratie funktioniert durch eine Kontrolle, die den Namen verdient – denn Macht neigt dazu, sich selbst zu begnügen, immer mehr Macht zu sammeln und Kritiker abzuwehren. Diese Kontrolle üben Journalisten aus in unabhängigen Zeitungen und Magazinen.
Überhöhen wir uns nicht? Werden wir nicht übermütig mit Bild an der Spitze?
Nein! Erinnert sei an das Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts:
In der repräsentativen Demokratie steht die Presse zugleich als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung.
Richten wir uns darauf ein, zwischen den Stühlen zu stehen – ungemütlich, aber mächtiger als die Mini-Opposition im Bundestag!
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Ausführlicher Auszug aus dem Spiegel-Urteil von 1966 in der neuen Auflage des Neuen Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus im Kapitel 4 (Seite 21)
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