Was ist eine investigative Recherche?
Ein gesellschaftlich wichtiges Thema hartnäckig verfolgen, gegen Widerstände recherchieren und verständlich präsentieren – das ist für das „Netzwerk Recherche“ die ideale Recherche, ist journalistische Aufklärung im besten Sinne im Gegensatz zu einem erfolgreichen Scoop.
So kritisiert das „Netzwerk“ die Vergabe des Henri-Nannen-Preises in der Kategorie „Investigative Recherche“ an die Bildzeitung wegen der Berichte, die zum Rücktritt des Bundespräsidenten Wulff führten. Der Jury des Nannen-Preises fehlt laut „Netzwerk“ offenbar zum wiederholten Mal ein klares Verständnis für die journalistischen Kriterien.
In einer Pressemitteilung des Netzwerks ist weiter zu lesen:
„Investigativ arbeiten“ heißt nicht, wie die Jury offenbar glaubt, eine möglichst skandalträchtige Schlagzeile zu produzieren oder von anderen Medien möglichst oft zitiert zu werden. Das sind allenfalls Begleiterscheinungen.
Die Aufdeckung der Hintergründe um den Privatkredit des Bundespräsidenten Christian Wulff durch die „Bild“-Zeitung war verdienstvoll und richtig. Dennoch war sie nach den oben genannten Kriterien nicht die beste investigative Leistung des vergangenen Jahres.
Wenn der Henri-Nannen-Preis seinem Selbstverständnis als wichtigster deutschsprachiger Journalistenpreis in Zukunft noch gerecht werden will, muss er seine Entscheidungsfindung ändern. Er sollte sich dabei am Pulitzer-Preis der USA orientieren.
Ähnlich wie beim Nannen-Preis wählen in den USA zunächst fachlich qualifizierte Vorjurys diejenigen Artikel aus, die in die engere Wahl kommen. Die Hauptjury, die anschließend über die Vergabe entscheidet, besteht aber nicht wie in Deutschland aus 15 Chefredakteuren und Prominenten, sondern aus meist sieben Fachleuten pro Kategorie (beispielsweise erfahrene investigative Journalisten und frühere Preisträger).
Über der Fachjury sitzt beim Pulitzer-Preis zwar noch ein Board, dass sich in der Regel aber an das Votum der Fachjury hält und nur in Ausnahmefällen eine andere Entscheidung trifft. Sowohl die nominierten Beiträge als auch die Zusammensetzung der Jury sind bis zur Bekanntgabe der Gewinner geheim, um Einflussnahme und Lobbying zu verhindern.
Dieses Verfahren führt dazu, dass beim Pulitzer-Preis Fachleute entscheiden und nicht Generalisten nach Gefühlslage oder Proporzdenken wie viel zu oft beim Henri-Nannen-Preis.
(zu: Handbuch-Kapitel 17-18 „Wie Journalisten recherchieren“)
„Journalismus ist Wahrheit zum Zeitpunkt des Andrucks“
Zeitung und Kunst ist das Thema einer sehenswerten Ausstellung im Berliner Gropius-Museum nahe des Checkpoint-Charly, die bis zum 24. Juni zu besichtigen ist. Ein Bummel durch die Ausstellung soll zu einem Besuch verführen:
Das Martin-Gropius-Museum liegt mitten in Berlin, ist Nachbar des Schreckens, der sich auf einigen hundert Metern versammelt hatte: Die Nazis folterten in den Zentralen von Gestapo und SS; heute ist hier die „Topographie des Terrors“ zu finden, eine Ausstellung, die zeigt, wie man ein Volk gewaltsam unterdrücken kann. Entlang des Museums verlief die Mauer, auch ein Instrument des Schreckens, das nur noch an wenigen Stellen zu sehen ist wie am nahen Checkpoint-Charly, wo sich Touristen mit Schauspielern in US-Uniformen fotografieren lassen.
Inmitten des Schreckens steht der Renaissance-Bau, vor gut 130 Jahren gebaut, eine friedliche Insel, der Kunst gewidmet. Wer in diesen Tagen das Museum besucht und in den großen Lichthof tritt, sieht eine große Druckmaschine, auf der mit Blei-Lettern noch zu Wendezeiten die Parteizeitungen gedruckt wurden. Aus der Maschine wachsen Sonnenblumen, drumherum geht der Besucher auf Buchstaben aus Blei, die wie Samen dahingeworfen wurden, und durch Bleirollen, die an Filmrollen erinnern, mit denen vor Erfindung des Digitalen die laufenden Bilder auf die Leinwand geworfen wurden.
Wer nicht weiß, welche Schau ihn erwartet, ahnt es bei diesem Anblick: Es geht um die Medien, noch genauer: um die Zeitung, um „Art and Press“, wie die Ausstellung genannt wird, um Kunst und Presse, um „Kunst – Wahrheit – Wirklichkeit“. Die Installation mit der Druckmaschine und den Sonnenblumen hat Anselm Kiefer eigens für die Ausstellung geschaffen und „Die Buchstaben“ genannt. Der Schüler von Joseph Beuys, 1945 geboren, hat ein für ihn ungewöhnlich friedliches Werk geschaffen: Blumen blühen aus Druckmaschinen. So friedlich bleibt es nicht in der Ausstellung.
Der chinesische Künstler Ai Weiwei, in seiner Heimat kujoniert, zeigt eigenartig geformte Eisenstangen. Was haben sie mit der Zeitung zu tun?
Die Antwort ist verblüffend einfach: Über die Eisenstangen wurde nie in chinesischen Zeitungen berichtet. Sie sind Zeichen des Schweigens in einer Diktatur.
Die Eisenstäbe stammen aus einer Schule in Beichuan, in deren Trümmern bei einem Erdbeben 2008 tausend Schüler und Lehrer sterben mussten. Der Einsturz der Schule war Folge von verpfuschten Bauarbeiten, bei denen sich keiner an die Auflagen gehalten hatte.
In westlichen Zeitungen wäre darüber ausführlich geschrieben, wäre die Frage nach der Verantwortung gestellt worden, die Korruption beim Namen genannt. Was die chinesischen Zeitungen nicht schrieben und nicht schreiben durften, macht der Künstler zum Thema – und gibt den Toten, die dem Vergessen zugedacht waren, ihre Würde zurück.
Eine Diktatur erfahren und erlitten hat auch Farhard Moshiri, 1963 im persischen Shiraz geboren; heute lebt er in Teheran und Paris. Er scheint in der Ausstellung mit der Zensur zu spielen: Ein Kiosk ist zu sehen, ein „Kiosk der Kuriositäten“, in dem 500 Zeitschriften ausgestellt sind, aber nicht aus Papier, nicht gedruckt, sondern 500 mit der Hand geknüpfte Teppiche, auf denen das Titelbild von persischen Magazinen zu sehen ist, deren Buchstaben und Sinn uns rätselhaft bleiben; meist sind aber westliche Magazine zu sehen, von „Gala“ mit Cameron Diaz oder der französischen „Elle“ oder einer Zeitschrift, die festliche Haarschnitte zeigt, oder der politischen „Newsweek“ mit einem Flugzeug, das am 11. September in einen der Zwillingstürme rast.
„Sarkastischer kann man die Mechanismen der Globalisierung nicht formulieren“, schreibt Walter Smerling, der künstlerische Leiter, im Katalog. „Moshiri präsentiert uns ein Alltagsbild seiner Heimat, in der Konsum- und Wunschvorstellungen geweckt werden, deren Verwirklichung aber aufgrund der politischen, religiösen und rechtlichen Verhältnisse undenkbar, in bestimmten Fällen sogar strafbar ist.“
Was ist die Wahrheit? In einer Diktatur ist die Frage einfach zu beantworten: auf jeden Fall nicht das, was in der Zeitung steht. Aber in einer Demokratie ist, im Umkehrschluss, nicht einfach alles wahr, was in der Zeitung steht.
So wird die Wahrheit zum zentralen Thema der Ausstellung. Kai Diekmann, Chefredakteur der Bildzeitung, sagt in einem Gespräch über die Wahrheit des Journalismus:
„Wir können nur Ausschnitte der Wirklichkeit zeigen. Und wir sind auch immer nur so klug, wie der Tag es zulässt. Journalismus kommt von ,Jour‘, und auf dieses Rad ist man geflochten. Selbst die gründlichste Recherche kann nicht immer verhindern, dass später neue Informationen auftauchen, die eine Geschichte in ein völlig anderes Licht tauchen. Journalismus zeigt immer nur die Wahrheit zum Zeitpunkt des Andrucks.“
Kai Diekmann und die Bildzeitung haben „Art and Press“ gefördert und im Blatt über Wochen, meist über eine halbe Seite hinweg, die Bilder der Ausstellung nebst einem Experten-Artikel gezeigt. Denn – „Die Kernkompetenz von ,Bild‘ ist es, Geschichten in Bildern zu erzählen“, sagt Kai Diekmann, „Künstler tun das Gleiche. Sie wissen um die Kraft der Bilder.“
Ein anderer Förderer der Ausstellung ist Jürgen Großmann, der schwergewichtige Chef des Energie-Konzerns RWE. Für ihn kreist die Frage nach der Wahrheit der Presse um die Kontrolle der Medien: „Weil Künstler unabhängig sind, können sie die Medien eher kritisieren und infrage stellen. Sie sind ein intelligentes Korrektiv zur Macht der Medien. Von ihnen können wir lernen, wie man sich gegen zu große Einflussnahme der Presse zur Wehr setzt.“
Bummeln wir durch die Ausstellung, in der 56 Künstler ihre Werke zeigen, die alle in den vergangenen fünfzig Jahren entstanden sind oder eigens für „Art and Press“ erstellt wurden:
Aufregend ist eine 38-teilige Serie des vor zwei Jahren gestorbenen Sigmar Polke: „Original + Fälschung“. Nicht nur in der Kunst gibt es Fälscher, sondern auch in den Medien. Bilder werden hier wie dort manipuliert, Tatsachen verdreht oder der Blick wird in die Irre geleitet.
Zu betrachten sind nicht nur 24 Bilder von Polke, sondern auch 14 „Kommentarbilder“, auf denen er die Zeitungsausschnitte zeigt, die ihm die Anregung gegeben haben. So entsteht, wie Walter Smerling sagt, „eine Beziehung zwischen künstlerischer Produktion und der Arbeit des Künstlers. Die Lügen der Bilder werden durch die vom Künstler gewählte Kombination von Zeitungsmeldung und Kunstwerk zum eigentlichen Thema.“
In eine Art Mediengefängnis, das sie „Denkräume“ nennt, führt die Amerikanerin Barbara Kruger. Auf dem Fußboden geht der Besucher über eine Collage mit Meldungen aus Lokalzeitungen, die Immigration in Deutschland thematisieren: „Familien von Amts wegen zerrissen“ oder „Fatale Migrationspolitik“. In fetten Buchstaben, in tiefes Grün getaucht, sind einzelne Wörter herausgehoben: Rache, Willkommen oder Hass. Auf den vier Wänden stehen in schnörkelloser Schrift plakative Aussagen wie „NICHTS GLAUBEN“ und „Hütet euch, in die Pose des abgeklärten Zuschauers zu verfallen, denn das Leben ist kein Schauspiel, ein Meer von Leid ist keine Bühne, ein Mensch, der schreit, ist kein tanzender Bär.“
Im Krieg stirbt zuerst die Wahrheit. Der Künstler macht sie wieder lebendig – wie der in Düsseldorf lehrende Markus Lüpert, der das brennende „Dubrovnik“ während des Balkankriegs zeigt: Die schöne mittelalterliche Stadt am Mittelmeer, zum Weltkulturerbe erkoren, ist zu sehen und mittendrin eine gefaltete „Süddeutsche“, die wie ein Schiff in die Stadt sinkt, zu lesen die Schlagzeile „Dubrovnik in Flammen“.
Unübersehbar und unübersehbar politisch und provozierend sind die bunt flackernden LED-Schriftbänder der Amerikanerin Jenny Holzer. Zu lesen sind Protokolle von Verhören, die amerikanische Militärs mit Verdächtigen führten im sogenannten Anti-Terror-Krieg. Da wurde manipuliert und gefoltert – als wäre es das Demokratischste von der Welt. Die Laufbänder sind attraktiv – und geraten so in Widerspruch zu ihrer kritischen Botschaft, schreibt Peter Iden im Katalog. „Es ist aber auch gerade dieser Gegensatz, der die Künstlerin beschäftigt und den die Arbeiten thematisieren.“
Mit dem 1926 in Nürnberg geborenen und heute in London lebenden Gustav Metzger beenden wir den kleinen Rundgang durch eine überaus sehenswerte Ausstellung: Metzgers Installation nimmt einen großen rechteckigen Raum ein. In der Mitte ist eine Glaskabine aufgestellt, wie s im Prozess gegen Adolf Eichmann im Jerusalemer Gerichtssaal.
An einer Wand stapeln sich Zeitungsstapel bis zur Decke, an der anderen Wand steht ein Transportband, auf dem die Stapel zur Auslieferung vorbereitet werden – wie ein Gleichnis für die von Eichmann geplanten Transporte in die Gaskammern –, an der dritten Wand stehen drei Ortsnamen: Jerusalem – New York – Port Bou.
Port Bou ist ein Ort nahe der spanischen Grenze, an dem sich der jüdische Philosoph Walter Benjamin das Leben nahm auf der Flucht vor den Nazis. Benjamin hatte über den Angelus Novus, den neuen Engel, geschrieben, einer Zeichnung von Paul Klee nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs.
Der Engel starrt mit aufgerissenen Augen, sieht, wie sich Trümmer auf Trümmer häufen:
„Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
(aus der Thüringer Allgemeine“ vom 5. Mai 2012 / Foto Raue: Besucher betrachten Fotografien von Julian Schnabel)
(zu: Handbuch-Kapitel 48 „Wie Journalisten entscheiden“)
Der Weltuntergang 2012
„Der Weltuntergang 2012 findet nicht statt“ steht auf einer Bauchbinde in Packpapier-Anmutung, die das Katholische Bibelwerk um die neue Ausgabe ihrer Zeitschrift „Bibel und Kirche“ geschwungen hat. Das Heft widmet sich dem Thema „Bilder-Macht. Die Johannesapokalypse“.
Ein „Zwischenruf“ im Heft macht klar: Der abgesagte Weltuntergang bezieht sich nicht auf die Bibel, sondern auf den Maya-Kalender. Der Astronom Florian Freistetter weist nach, dass der Weltuntergang am 21. Dezember keine Glaubenssache ist, sondern einfach falsch – was er schlüssig beweist.
Der Rest ist esoterischer Wind. Gleichwohl wird wohl vor Heiligabend nicht nur die Bildzeitung daraus so manchen Aufmacher stricken.
Für Journalisten lohnt diese Spezial-Lektüre, um die Wirkung von Sprachbildern zu ergründen: Die Johannes-Offenbarung als Untergrund-Literatur, in der Rom als reiche Hure und gieriges Raubtier auftritt – ohne dass die Zensoren es verstanden.
(zu: Handbuch-Kapitel 17-18 Wie Journalisten recherchieren)
Journalisten als Künstler – einfach provokant
Zum Nachdrehen empfohlen: Ein Reporter der Bildzeitung stellt in der Kunstmesse „Art Cologne“ ein selbst gemaltes Bild aus – „Das ist KUNST“ steht mit dahin geschmierten roten Acryl-Buchstaben auf dem Gemälde, dazu ein paar gelbe Kringel und signiert mit „Mike B.“.
Ermöglicht hat die Aktion ein befreundeter Galerist, der das Bild in die Messe schmuggelte. Bildzeitungs-Reporter Bischoff notiert, wie ihm ein Maler Respekt zollt („provokant“) und eine Kunststudentin das Werk auf mehrere Tausend Euro taxiert. (Bild-Bundesausgabe 20. April 2012)
(zu: Handbuch-Kapitel 32 „Die Reportage“ und 55-56 „Der neue Lokaljournalismus / Service und Aktionen“)
Wie Günter Grass von der Waffen-SS schreibt
Günter Grass‘ Mitgliedschaft in der Waffen-SS wird nach seiner harschen Israel-Kritik wieder zum Thema – wie schon 2006, als er erstmals davon erzählte in seinen Jugend-Erinnerungen „Vom Häuten der Zwiebel“. „Warum schwieg er 60 Jahre lang?“, fragt noch einmal Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende der Springer-AG im Kommentar der Bildzeitung vom 5. April. Er fährt fort: „Beim ,Häuten der Zwiebel‘ ist er jetzt ganz innen angekommen. Und der Kern der Zwiebel ist braun und riecht übel.“
Ein Blick lohnt in seine Autobiografie „Vom Häuten der Zwiebel“. Was er von der Waffen-SS berichtet hat, ist eifrig diskutiert worden. Nur – wie hat Grass erzählt?
„Während einer Pause, schon wieder auf dem Rückzug, bin ich einem Mädchen hinterdrein, das – hier bin ich sicher – Susanne heißt und mit seiner Großmutter aus Breslau geflüchtet ist. Jetzt streichelt das Mädchen mein Haar. Mir war Händchenhalten erlaubt, mehr nicht. Das ereignet sich aufregend im heilen Stall eines zerschossenen Bauernhauses. Ein Kalb schaut zu.“
Dies ist meine Lieblingsstelle in „Vom Häuten der Zwiebel“, aus dem die meisten nur eine winzige Passage kennen: Die Revision der Lüge, Grass sei mit 17 Jahren nicht Flakhelfer geworden, sondern Panzerschütze bei der Waffen-SS.
Zu lesen ist die SS-Beichte dreizehn Seiten vor der Episode mit Susanne. Schon der Sprachstil zeigt, wie schwer sich der Dichter mit der Erinnerung an die Waffen-SS tut.
Zum Vergleich: Die Susanne-Episode fließt, die Schilderung der zärtlichen Szene im zerschossenen Bauernhaus wird im Kopf des Lesers zu einem kleinen Film. Selbst bei einem langen Satz mit 28 Wörtern gerät der Leser nicht ins Stocken.
Die SS-Episode dagegen holpert und wird mit einem verschachtelten Satz eingeleitet. Man muss ihn zweimal lesen, um ihn zu enträtseln:
„Nur zu behaupten und deshalb zu bezweifeln bleibt, daß mir erst hier, in der vom Krieg noch unberührten Stadt, genauer, nahe der Neustadt, und zwar im Obergeschoß einer großbürgerlichen Villa, gelegen im Ortsteil Weißer Hirsch, gewiß wurde, welcher Truppe ich anzugehören hatte.“
Grass verirrt sich in diesem Satz, den Germanistik-Professoren gern als seinen unverwechselbaren Stil rühmen. Aber der Leser spürt, wie der Dichter sich windet, das Verstehen erschweren will. Oder ist es einfach schlechter Stil?
„Erst hier wurde mir gewiß“, das ist der Hauptsatz. Doch zwischen dem „hier“ und dem „gewiß“ schiebt er 23 Wörter mit Ortsschilderungen, die an dieser Stelle keinen interessieren – denn es geht um den Eintritt in die Waffen-SS.
In dem 480 Seiten starken Buch denkt Günter Grass auf knapp zwei Seiten über den Eintritt in die Waffen-SS nach. Aber nicht Günter Grass fragt nach dem „Warum?“, vielmehr entschwindet er in ein nebulöses „Zu fragen ist:“
„Erschreckte mich, was damals im Rekrutierungsbüro unübersehbar war, wie mir noch jetzt, nach über sechzig Jahren, das doppelte S im Augenblick der Niederschrift schrecklich ist?“
Ein Deutschlehrer würde diesen Satz rot unterstreichen als grammatisch fehlerhaft. Was will der Dichter sagen? Das doppelte S war ihm, dem Jugendlichen, schrecklich?
Nein, „eher“ – in der Tat schreibt Grass: „eher“ – „eher werde ich die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen haben“. Und: „Die doppelte Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig.“
Und später? „Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen.“
Und er fügt an, es liest sich, als wolle Grass nach Mitleid heischen:
„Doch die Last blieb, und niemand konnte sie erleichtern.“
Grass wird seine Erinnerung an die Waffen-SS los, so wie er seine SS-Wehrmachtsjacke losgeworden ist (von der er vierzig Seiten weiter erzählt):
Mit einem Obergefreiten flieht Grass in den letzten Kriegstagen. Sein Kamerad sagt ihm:
„Wenn uns der Iwan doch noch hopsnehmen sollte, biste dran, Junge, mit deinem Kragenschmuck. So was wie dich knallen die einfach ab. Genickschuß und fertig.“
Der Obergefreite organisiert eine normale Wehrmachtsjacke ohne Einschussloch oder Blutflecken. „Nun, ohne Doppelrune, gefiel ich ihm besser. Und auch ich ließ mir die angeordnete Verkleidung gefallen. So fürsorglich war mein Schutzengel.“
Günter Grass erzählt auf fast fünfhundert Seiten seine Jugend – und die besteht nicht nur aus zwei Runen. Wenn er erzählt, ist er ein großartiger Erzähler, bildreich und verführerisch wie in der kleinen Episode von Susanne, die sein Haar streichelt, oder von dem frommen Jungen im Arbeitsdienst, den sie „Wirtunsowasnicht“ nennen – weil er sich weigert, ein Gewehr anzufassen; eines Tages holen sie ihn ab und bringen ihn ins KZ.
Nur wenn Grass schwadroniert, quält er den Leser, wenn er das Bild von der zu häutenden Zwiebel strapaziert (wer häutet schon eine Zwiebel?), wenn er den schwer verständlichen, schwer verdaulichen Nobelpreis-Dichter spielt.
„Selbst wenn mir tätige Mitschuld auszureden war, blieb ein bis heute nicht abgetragener Rest, der allzu geläufig Mitverantwortung genannt wird“, schreibt Grass am Ende seiner SS-Episode. „Damit zu leben ist für die restlichen Jahre gewiß.“
An diese Gewissheit erinnerte sich Günter Grass offenbar nicht, als er sechs Jahre nach seiner Autobiografie sein Israel-Gedicht schrieb und Journalisten in Deutschland des „Hordenjournalismus“ bezichtigte.
(Der Text folgt der Kolumne „Gedanken zur Zeit“, erschienen am 19. August 2006 in der Braunschweiger Zeitung)
(zu: Handbuch-Kapitel 12 „Durchsichtige Sätze“)
BvB-Trainer Klopp im Zitat der Woche
„Es gab Zeiten, da wurde auch mal gelacht. Aber das ist mit euch (Journalisten) nicht mehr möglich. Da wird jede Kleinigkeit aufgebauscht.“
Jürgen Klopp, Trainer von Borussia Dortmund, über ein Foto, unter anderen in der Bildzeitung, auf dem Biene Emma, das BvB-Maskottchen, am Mannschaftsbus der Bayern zu sehen ist – angeblich urinierend. Quelle: sid, 13.4.2012
(zu Handbuch-Kapitel 35 „Der Boulevard-Journalismus“)
Mediengetrommel gegen „das Internet“ nervt
„Warum denn überhaupt zwischen digitaler und medialer Öffentlichkeit unterscheiden?“, fragt Raphael Raue, Philosoph und der Designer dieser Seite, in einem Kommentar, der hier besonders hervorgehoben sein soll:
„Das Internet ist doch mittlerweile ebenso ein gewichtiger Teil unseres Lebens, wie es Zeitungen, Stammtische und Meinungsverschiedenheiten in Versammlungen sind. Diese Unterscheidung macht doch einfach keinen Sinn mehr. Ebensowenig wie es „das Internet“ gibt, gibt es doch auch nicht „die Medien“. Die Bild ist nicht zu vergleichen mit Geo oder dem Goldenen Blatt. TV Spielfilm will etwas anderes als die Süddeutsche. Eine Regionalzeitung etwas anderes als Cicero oder die Titanic.
Die Medien sind ein ebenso nutzloser Überbegriff wie das Internet. Twitter, Facebook, Blogs sind die Ansammlung eine ebenso großen Komplexität wie Zeitungen, Magazine und Einwurfsendungen. Viel Müll dabei und etwas Glanz.
Was sich geändert hat sind die Lernpraxen, die man braucht um Müll und Glanz zu uneterscheiden. Reichte es mal, die „richtige“ Zeitung zu abonnieren, muss man auf Twitter, Facebook und Blogs eben sehr viel genauer auswählen. Und die Grundlage, um dort informiert zu sein, sind meist eben doch noch „Medien“. Also Spon und Konsortien. Aber der Mix verschiebt sich. Auch die Art der Informationsaufnahme verschiebt sich. Aber dadurch verschiebt sich nichts hin zu einem Entweder-oder.
Mediengetrommel gegen „das Internet“ nervt tatsächlich, aber nicht weniger die mit einigem Antrieb wöchentlich durchs Dorf getriebenen Säue, mit denen man sich online beweisen versucht, dass man doch etwas erreichen kann. Kann man, dafür braucht man keine Kampagnen. Man brauchte auch nicht die Wulff-Demission, um zu wissen, dass Bild eindeutig Einfluss auf Politik und öffentliche Meinung hat. Und auch das hat genervt.
Vielleicht wäre es deshalb ratsam, wegzukommen von einem Streit, der in sich weder weiterführt, noch irgendein unterscheidendes Argument überhaupt hervorbringen kann – und sich hinzuwenden zur Überlegung, was mediale richtige mediale Praxen sind und welche eben nicht richtig sind. Kampagnen sind es wohl weniger. Meinungen sind wichtig, auf Twitter, Blogs und in Leitartikeln. Sie müssen aber als solche gekennzeichnet sein. Fakten und Tatsachen sind richtig und wichtig, können aber auch keine Kampagne rechtfertigen etc. Daraus entstehen doch die eigentlichen Probleme.
Dem Streit zwischen Netz und Medien liegt eine vollständig falsche Prämisse zugrunde: das Internet ist ein Medium. Ist es nicht! Und deshalb kann es auch kein besseres oder schlechteres oder irgendwie unterscheidbares Medium sein. Denn das Internet ist ein Medium des Mediums. Alle bisher bekannten Medien sind in ihm aufgehoben. Radio, Fernsehen, Print, Stammtisch, Pranger, Forum, Marktplatz etc. Das Internet ist auch kein Werkzeug mehr, es ist vielmehr ein Teil von uns geworden. Das Stichwort hier wäre: extended mind.
Eine wissenschaftlich mittlerweile recht fundierte Position, die in ihren Anfängen auf Heidegger und Husserl zurückgeht, zeigt auf, dass Werkzeuge zu Alltäglichkeiten und so zu uns selbst werden, die wir auch unsere Alltäglichkeiten und Gewohnheiten sind. Das Internet ist eine solche alltägliche Gewohnheit. Wir nutzen auch nicht mehr den Computer, um ins Internet zu gehen, sondern sind es ständig, mit Computer, Smartphone, Tablet, Netbook und Laptop. Wir sind (fast) immer online, und das Internet ist schon lange kein Medium mehr, das wir nutzen, denn diese Reflexion ist in der alltäglichen Gewohnheit aufgelöst.“
Zitat der Woche: „Der Chefredakteur von BILD ist verrückt“
Aus dem Brief von Franz Josef Wagner an das „BILD-Girl von Seite 1“ und Chefredakteur Kai Diekmann:
Wäre ich ein Gärtner, würde ich sagen, Du warst mein Forsythien-Strauch. Oft hatte ich Angst, dass Du dich erkältest, so nackt warst Du.
BILD will kein Girl AUF Seite 1 mehr drucken. Ich denke, der Chefredakteur von BILD ist verrückt. Wie kann er das Mädchen der Träume verbannen. Das Mädchen, das Eis lutscht, das in der Sonne lacht, im Meer plantscht.
Lieber Chefredakteur, mir fehlt dieses Mädchen auf Seite 1, das lebt, liebt.
(zu: Handbuch-Kapitel 35 „Der Boulevardjournalismus)
Leser kippen das BILD-Girl von Seite 1
Was Leserbeiräte so alles bewirken können! „Viele Frauen – auch in den BILD-Leserbeiräten – hatten es sich immer gewünscht“, schreibt die Bildzeitung am Frauentag und verbannt das nackte Girl ins Innere des Blatts. Die Bildzeilen bleiben also, die „Bild“ als Gaga-Kult lobt:
„immer schräg, an den Haaren herbeigezogen, aberwitzig“.
(zu Handbuch-Kapitel 35 „Boulevardjournalismus“ und Kapitel 56 (Leserkonferenzen)
Kommentare zu: Medien und Christian und Bettina Wulff
Die Medien und den Rücktritt des Bundespräsidenten thematisieren nur wenige Kommentatoren. Auf der Titelseite des Samstag-Feuilletons der FAZ greift Michael Hanfeld, nach achtzig Zeilen „Ende einer Hetzjagd?“, eine sensible Frage auf: Warum beschäftigte sich selbst die Bildzeitung nicht mit Frau Wulff und ihrer Vergangenheit?
„Von ehrverletzenden Gerüchten über Bettina Wulff, die man bei einer Google-Suche im Internet sofort angezeigt bekommt, war, wenn wir es richtig überblicken, in der deutschen Qualitätspresse nirgends zu lesen, nicht einmal in der „Bild“-Zeitung. Blogs hingegen sind voll davon. Und hingedeutet darauf hat niemand anderes als Wulff selbst – in seinem Interview mit ARD und ZDF.“
Im englischen oder amerikanischen Boulevard wäre die Vergangenheit der First Lady schnell ein Thema gewesen, vielleicht als Pretty-Woman-Story, vielleicht als Skandal. Niedersächsische Zeitungen wussten schon davon zu Zeiten, als Wulff Ministerpräsident in Hannover war. Sie brachten nichts darüber trotz der Verärgerung, dass Wulff seine Trennung, Scheidung und neue Freundin exklusiv über „Bild“ öffentlich gemacht hatte.
Michael Hanfeld verteidigt, nach einigen Seitenhieben, die Recherche-Leistung der deutschen Zeitungen: „Es sind ohne Zweifel Pharisäer unter uns. Es gibt auch keinen Grund, zu jubeln. Doch eine Presse, die ihre Arbeit ernst nimmt, kann auf Recherchen und auf die entsprechenden Berichte und Kommentare nicht verzichten. Den Gegenstand dafür hat Christian Wulff produziert. Er hat sich politisch selbst zerstört.“
Dass auch Zeitungsleser die Medien genau beobachten, zeigt ein Leserbrief aus Gotha, den die „Thüringer Allgemeine“ in der Dienstag-Ausgabe (21.2.2012) veröffentlicht:
„Unfraglich hat sich Christian Wulff mehr als ungeschickt und in keiner Weise auf dieses Amt vorbereitet verhalten. Wahrscheinlich sollte man die Stellenbeschreibung für das Amt des Bundespräsidenten bis ins Detail präzisieren. Denn wer immer auch bereit sein sollte, für dieses Amt zu kandidieren, muss wissen, dass es für ihn keine Privatspäre und keinen Datenschutz geben wird.
Er muss wissen, dass der große Bruder, die Presse, ihm ständig über die Schulter schaut und auch die kleineste Verfehlung in Vergangenheit und Gegenwart bis ins Detail zu recherchieren vermag. Und die Macht der letzteren ist nicht zu unterschätzen, denn wer mit uns im Fahrstuhl hochfährt, fährt auch wieder mit uns runter, lautet eine eiserne Regel der Klatschpresse.“
Positiv über die Leistung der Journalisten urteilt auch Kurt Kister, der Chefredakteur der „Süddeutschen“, im Leitartikel am Samstag:
„Die Medien übrigens, vor allem die Printmedien, haben in der Angelegenheit Wulff im Großen und Ganzen jene Rolle gespielt, die sie spielen sollten: Es waren professionelle Journalisten, die jene hundert Kleinigkeiten, aber auch die paar sehr relevanten größeren Dinge herausgefunden und veröffentlicht haben. Gewiss, auch dabei gab es Fehler. Übertreibungen und Bizzarrerien wie etwa einen Reime schmiedenden FAZ-Herausgeber oder die Vielzahl der posaunierenden Kollegen, die ein Bobbycar für 30 Silberlinge hielten und jeden Tag dreimal Wulffs Rücktritt forderten.
Ohne die manchmal auch in Sackgassen führende Recherche und durchaus auch das Räsonieren der Journalisten aber hätten die Kontrollmechanismen so versagt, wie sie über Jahre hinaus in Niedersachsen nicht funktioniert haben.“
(zu: Handbuch-Kapiteln 2-3 „Die Journalisten“ und 91 „Recherche“)
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