Starke Medien sind besser als starker Staaat
Je länger sich die Unternehmen dem öffentlichen Druck widersetzen, desto größer wird der Druck des Gesetzgebers einzugreifen.
Norbert Lammerts Satz heißt im Umkehrschluss: Wir brauchen starke Medien, die Konzerne beobachten, ob sie ihre Unternehmen gut führen. Gerade bei der Wirtschaft ist intensive öffentliche Kontrolle notwendig, weil sie keiner Kontrolle durch allgemeine Wahlen unterliegen.
Und daraus ist zu folgern: Öffentlicher Druck ist nur möglich, wenn die Medien viele Menschen erreichen und wenn Journalisten unabhängig und professionell arbeiten.
Norbert Lammert (CDU), Bundestagspräsident, hielt die Festrede bei der Konferenz „10 Jahre Deutscher Corporate Governance Kodex“ in Berlin. (Quelle: FAZ, 15.6.2012 „Lammert gegen Piech: Ein Außerirdischer, für den Vorgaben nicht gelten“)
(zu: Handbuch-Kapitel 3 „Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht“)
„Herr Schirrmacher, worüber regen Sie sich auf?“
Es gehört zum Plan eines Interviews, dass der Interviewer fragt und der Gast antwortet. Ein FAZ-Herausgeber wechselt die Seiten, wird gefragt, worüber er sich aufrege – und antwortet mit einer Frage: „Das ist die erste Frage? Überraschend.“
Überraschend ist: Eine Frage als Antwort. Der Journalist, der sonst die Fragen stellt, kommt aus seiner Rolle nicht heraus. Er akzeptiert den Seitenwechsel nicht: Katrin Göring-Eckhardt, Grüne und Bundestags-Vizepräsidentin, stellt im Zeit-Interview die Fragen, zwei Journalisten antworten (neben Schirrmacher der Zeit-Chefredakteur di Lorenzo).
Zudem: Die Antwort bleibt auch in der autorisierten Fassung stehen. Es ist kaum anzunehmen, dass die Politikerin die vorläufige Druckfassung des Interviews geschrieben hat; da wird ein Redakteur geschrieben und der Chefredakteur die Regie geführt haben.
Und: Was meint Katrin Göring-Eckardt, wenn sie auf Schirrmachers Frage hin feststellt: „Das war der Plan.“ War so die Absprache? Und selbst wenn es so ist: Warum steht es so in der autorisierten Fassung? Und warum wird das Spiel dem Leser nicht näher erklärt?
Aber: Trotz (oder gerade wegen) des überraschenden Einstiegs lohnt die Lektüre des drei Seiten langen Interviews „Am Medienpranger“ (Die aktuelle Zeit 15 vom 24. Mai 2012, Dossier).
(zu: Handbuch-Kapitel 26 „Das Interview“)
Wer ist ein guter Kritiker?
„Die Texte sind lebensnah, der Autor hat ein Herz“, so schreibt die FAZ über ihren Filmkritiker Michael Althen, der, nicht einmal 50 Jahre alt, im vergangenen Jahr gestorben ist.
Was macht den Zauber seiner Texte aus? Wer einen Film gesehen hat und die Kritik liest, sagt sich: „Woran liegt es, dass er über Erfahrungen und Empfindungen schreibt, von denen ich dachte, ich wäre mit ihnen allein?“ (FAZ vom 12. Mai)
Was wäre ein weniger guter Kritiker? Einer der „nur in den Betrieb, ins jeweilige Milieu hineingesprochen hätte“.
Selbst die Künstler mochten seine Texte. So sitzen Autoren, Regisseure und Schauspieler in der kleinen Jury, die den Althen-Preis für Kritiker vergeben wird, den die FAZ stiftet. „Es geht um Kritik, die nicht unbedingt recht haben will, um Kritik, die sich die eigenen Gefühle nicht mit wasserdichten Begriffen vom Hals hält, um Kritik, die vom Bewusstsein lebt, dass analytische Schärfe und Wahrhaftigkeit der Emotion einander nicht ausschließen.“
Um von Althen zu lernen, wäre es gut, wenn es ein Buch mit seinen besten Kritiken gäbe. Das Taschenbuch „Warte, bis es dunkel ist“ ist vergriffen. Zu lesen sind darin so schöne Sätze wie diese:
„Das Kino ist keine Wunschmaschine, sondern vor allem eine Folterbank. So lange man jung ist, lässt es uns von all jenen Wünschen träumen, die wir uns erfüllen können, wenn wir erst mal alt genug sind. Kaum ist man erwachsen, schürt es die Sehnsucht nach einer Jugend, die wir so leider nie erlebt haben. Im Kino ist man entweder zu alt oder zu jung, zu reich oder zu arm – oder zu deutsch, um etwa amerikanisch zu sein oder französisch.“
(zu: Handbuch-Kapitel 47 „Newsdesk und Ressorts (Die Kultur)“)
„Blut, Schweiß und Tränen haben im Druck nichts verloren“ (Zitat der Woche)
Für einen Kreativen sind Ideen das einzige Kapital… Was mich ärgert, ist die Behauptung, ein Urheber leiste nicht mehr als bloßes Remixen. Bei Illustrationen macht die Verschiebung einer Linie um einen Zentimeter nach rechts oder links oft den entscheidenden Unterschied aus. Das kostet viel Mühe, die aber nicht sichtbar werden darf.
Außer der Idee ist das Wichtigste bei meiner Arbeit deshalb, alle Spuren der Anstrengung zu verwischen und das Ergebnis federleicht aussehen zu lassen, spontan. Blut, Schweiß und Tränen haben im Druck nichts mehr verloren.“
Der Berliner Illustrator Christoph Niemann, 1970 in Waiblingen geboren, in einem Porträt von Andreas Platthaus (FAZ, Bilder und Zeiten, 5. Mai 2012). Niemann zeichnet neben anderen für den New Yorker, die New York Times und die Financial Times.
(zu: Handbuch-Kapitel 40ff„Layout“)
Was ist ein journalistischer Selbstversuch? Gene basteln
Ist der journalistische Selbstversuch eine neue Form der Recherche und Reportage? In der FAS vom 29. April erzählen drei Journalisten, wie sie in der Ecke ihres Berliner Büros mit Genen experimentierten – so wie es offenbar immer mehr Amateure weltweit probieren, in ihrer Küche oder den legendären amerikanischen Garagen.
Die Journalisten als Biohacker können preiswert Erbgut kaufen; die Maschine, gebraucht, kaufen die Journalisten für 240 Euro.
- Wieviel Schaden können Amateure anrichten?
- Besteht das Unbehagen über die Unregulierbarkeit der Gentechnik zu Recht?
Diese Fragen wollen die Journalisten Hanno Charisius, Richard Friebe und Sascha Karberg beantworten, deren Recherche von der Bosch-Stiftung unterstützt wird.
Im Editorial wirft Jörg Albrecht die Frage auf: Wie weit dürfen Journalisten den Status des Beobachters und Kommentators verlassen und selber ins Geschehen eingreifen?
Der „Selbstversuch“ orientiert sich an der „teilnehmenden Beobachtung“ der soziologischen Feldversuche. Er ist aber mehr als Beobachtung, er ist eine besonders gründliche Recherche, aufwändig, aber lohnend.
Wer kennt ähnliche journalistische Selbstversuche? Wer hat so etwas schon selber gemacht oder darüber berichtet?
(zu: Handbuch-Kapitel 17-18″Wie Journalisten recherchieren“)
Wie viel Breivik darf sein? Die Journalisten zweifeln
Der Bürger ist mündig, er kann und muss sich selber eine Meinung bilden – auch wenn es um so schreckliche Inszenierungen geht wie die des Massenmörders Anders Breivik im Osloer Gericht. Diese Souveränität des Bürgers gehört zum Selbstverständnis der Aufklärung, die den modernen Staat ermöglichte – mit der Pressefreiheit als stabilem Fundament.
Mit welchem Recht verschließen Journalisten ihren Lesern wichtige Informationen, die sie brauchen, um sich eine Meinung bilden und mitwirken zu können in einem Staat, der ihr Staat ist (und nicht der Staat der Journalisten)?
Auch die Aussagen von Anders Breivik klären auf. „Sie sind ein Impfstoff gegen derartige Ideen“, sagt ein norwegischer Anthropologe. Und die norwegische Boulevardzeitung Verdens Gang spricht von der „Demaskierung einer erbärmlichen Gestalt“, wenn man ihn vor Gericht sieht und hört (FAZ 19.4.2012)
Gleichwohl bleibt die Frage für Journalisten: Was ist eine wichtige Information? Wie wirken Bilder des Massenmörders mit erhobener Faust, groß auf eine Zeitungsseite gezogen?
Meike Oblau vom „Westfalenblatt“ in Bielefeld verweist auf ein Stopp-Zeichen in ihrer Zeitung:
„In eigener Sache: Anders Behring Breivik wollte den zweiten Verhandlungstag dazu nutzen, seinen Anschlag zu rechtfertigen. Aus Rücksicht auf die Gefühle der Angehörigen der Opfer und um dem Täter nicht ein Forum für die Verbreitung seiner wirren Gedanken zu bieten, bemüht sich das WESTFALEN-BLATT um eine zurückhaltende Prozessberichterstattung. Dabei war es uns wichtig, auf wörtliche Zitate des Täters weitgehend zu verzichten. Zudem wollen wir keine Fotos zeigen, auf denen provozierende Gesten Breiviks zu sehen sind. Die Redaktion“
„Dagbladet“ ist vorbildlich in der Aufklärung ihrer Leser: Die Redakteure analysieren das „Manifest“ von Breivik, entdecken fehlerhafte Zitate und entdecken sogar von Breivik angegebene Quellen, die es gar nicht gibt (SZ 19.4.2012). Ist das der ideale Weg?
Die Vorfahren der Digital-Natives
Jack Tramiel, Erfinder des Commodore 64, der zwanzig Millionen mal verkauft wurde, war ein Überlebender des KZ Auschwitz und des Arbeitslagers Hannover-Ahlem. Die FAZ nennt die jungen Nutzer des Computers die „Generation C 64“, die „Vorfahren der digital Natives“.
Jack Tramiel starb am Ostersonntag, 8. April, in Kalifornien.
FAZ 11. April 2012, Seite 31
(zu: Handbuch-Kapitel 5 „Die Internet-Revolution)
FAZ kehrt zu den „Zigeunern“ zurück
In den deutschen Zeitungen vermeiden es nahezu alle Journalisten sorgsam, „Zigeuner“ zu schreiben; der Begriff gilt als diskriminierend. Bei den meisten wird es Einsicht sein, bei den übrigen die Furcht vor einer Rüge des Presserats oder dem Zorn des Chefredakteurs.
Die FAZ nutzt mittlerweile wieder die Bezeichnung „Zigeuner“, wenn sie beispielsweise über die Unruhen in Ungarn berichtet. In einem Interview mit dem ungarischen Innenminister wechselt sie sogar die Begriffe, schreibt mal von „Roma“, mal von „Zigeunern“.
Auf der Medienseite vermeiden die FAZ-Redakteure die Bezeichnung „Zigeuner“, wenn sie über die Klagen gegen die Schweizer „Weltwoche“ berichten. Diese hatte ein Titelbild gebracht, auf dem ein Junge mit einer Pistole zu sehen ist: „Die Roma kommen: Raubzüge in der Schweiz“. Die Klagen beziehen sich auf die generalisierende Überschrift, in der alle Roma als Kriminelle dargestellt werden. Debatten löst auch das Titel-Foto aus, das nicht in der Schweiz, sondern 2008 auf einer Müllhalde im Kosovo entstanden ist.
In Deutschland hatte der „Zentralrat Deutscher Sinti und Roma“ vor zehn Jahren eine heftige Debatte ausgelöst, als er erstmals eine Sammelbeschwerde beim Presserat eingereicht hatte mit Beispielen von vermeintlich diskriminierenden Artikeln in deutschen Tageszeitungen. Der Zentralrat gibt die Sammelbeschwerde stets am 7. Dezember ab und erinnert so an den Jahrestag eines Erlasses des Nazi-Innenministers Frick: Bei Straftaten von Juden ist in der Presse die Rassenzugehörigkeit hervorzuheben.
Der Presserat hat einige Rügen ausgesprochen, wenn es keinen sachlichen Grund gab, in Polizeiberichten auf die Roma hinzuweisen. Eine der Rügen ging 2009 an die „Offenbach Post“, die in einem Bericht über Frauen „südländischen Aussehens“ geschrieben hatte, sie seien „alle einwandfrei einer Volksgruppe zuzuordnen, deren Namen eine Zeitung heute nicht mehr schreiben darf, weil sie sich damit garantiert eine Rüge vom Presserat einhandelt“.
Das ist laut Presserat eine „ironisch-herabsetzende Umschreibung“.
(zu: Handbuch-Kapitel 49 „Wie Journalisten entscheiden sollten“ und Service B. „Medien-Kodices“, hier Pressekodex Ziffer 12, Seite 368)
Das politische Gedicht: Leberkäs Hawaii
Günter Grass hat das politische Gedicht aufgeweckt, sogar die FAZ-Redakteure dichten jetzt, sogar auf ihrer Politik-Seite 2, sogar Satire ist erlaubt – links oben in der Rubrik „Fraktur“.
„dass ein gericht / zum beispiel leberkäs hawaii / wenn es besonders gut gelungen ist / auch ein gedicht / genannt werden kann / sagt schon viel aus / über die unklarheit / und die unwahrheit / des gedichtbegriffs“
Das FAZ-Gedicht, dreiteilig und 63 Zeilen lang, trägt keine Autorenzeile, nur bescheiden ein Kürzel am Ende (tifr.). Der Redakteur zitiert darin den chilenischen Filmregisseur Raul Ernesto Ruiz Pino mit dem schönen Satz, es sei Aufgabe des Dichters, in einen dunklen Raum zu gehen und dort einen Wasserfall zu bauen.
Jetzt gehen sogar die Redakteure in einen dunklen Raum. Wie gut, dass die FAZ-Redakteure noch in keinem Großraum arbeiten, sondern in ihren Mönchszellen, die sie bei Bedarf verdunkeln können:
„wäre vielleicht der leberkäs hawaii / auch ein richtiges gedicht, / wenn man ihn nicht nur / erbrechen, sondern auch / umbrechen könnte?“
(zu:Handbuch-Kapitel 38 „Die Satire“)
Ein Lob der Provinz: „Die Erde ist keine Heimat“
Die FAZ rehabilitiert die Provinz: „Nicht nur in der Literatur spielt die Heimat wieder eine Rolle“, kündigt die Redaktion auf der Titelseite der Osterausgabe einen Beitrag im Feuilleton an (das sich sonst so gerne über den Provinz-Journalismus amüsiert). Sandra Kegel nennt auch den Grund, warum „Heimat“ so urdeutsch klingt:
„Mehr als fünfhundert souveräne Königreiche zerteilten einst den deutschen Sprachraum in Provinzen ohne eine Hauptstadt im Zentrum. Heimat bedeutete also schon immer eher eine Provinz.“
Vielleicht entdeckt bald das Feuilleton auch den Lokaljournalismus, der sich bei den meisten Regionalzeitungen längst nicht mehr als Weichzeichner einer Idylle versteht. Die Redaktionen haben erkannt, was Sandra Kegel in der neuen Literatur entdeckt:
„Das Verlangen nach scharf umrissenen Grenzen, präziser Ortskenntnis und Beherrschung des Dialekts scheint umso heftiger zu sein, je mehr uns die Globalisierung den Boden unter den Füßen wegzureißen droht.“
„Die Erde ist keine Heimat“, so endet der Artikel mit einem Satz von Josef Bierbichler.
(Zu: Handbuch-Kapitel 55„Der neue Lokaljournalismus“)
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