Lange Sätze, kurze Sätze und das Drei-Sekunden-Gesetz
Es geht nicht darum, ob Sätze lang sind oder kurz. Es geht darum, ob wir sie beim ersten Lesen leicht verstehen. Wer gelesen werden will, sollte sich darum bemühen.
Lange Sätze müssen nicht unverständlich sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch.
Lange Sätze können auch schön sein – beispielsweise in Caroline Emckes preisgekrönter Afrika-Reportage, die ich in diesem Blog gelobt habe. Sie schrieb 120 Wörter in einem Satz: Nur kurze Hauptsätze.
Kurze Sätze können unverständlich sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist gering.
Auf dem Schild vor einem Rathaus steht:
Vor vor dem Rathaus unbefugt vorfahrenden Kraftfahrzeugen wird gewarnt.“
Der Satz ist kurz, aber schwer verständlich. Dagegen sind die ersten Sätze der Bibel kurz und leicht verständlich:
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.
Wenn man die Erschaffung der Erde in kurzen Sätzen schildern kann, dann auch eine Trauerfeier in Freiburg.
Heinz W.Pahlke schreibt in seinem Sprachrand-Blog: Ein Satz mit 208 Wörtern kann zwar einen Durchschnittsleser überfordern, aber keinen Leser des FAZ-Feuilletons.
Das sieht der Psychologie-Professor Ernst Pöppel anders, und er begründet das mit wissenschaftlicher Erkenntnis:
Wir haben ermittelt, dass es in allen Bereichen, die wir untersucht haben, die merkwürdige universelle Konstante von ein paar Sekunden gibt. Wir sprechen von einem Operationsbereich von maximal zwei bis drei Sekunden, der mit menschlichem Willen nicht verlängert werden kann…
Satzkonstruktionen liegen in diesem Zeitbereich. Dieses Phänomen gilt für alle Sprachen dieser Welt, so dass wir sagen können: Diese Rhythmik ist eine universelle Konstante.
Auf die Frage, ob diese Konstante auch auf die Poesie zutreffe, antwortete der Psychologe:
Interessanterweise ja. Es gibt Ähnlichkeiten zwischen der temporalen Struktur von Gedichten und der gesprochenen Alltagssprache. Jede Verszeile ist eingebettet in das genannte Zeitfenster…
Unbewusst nutzen die Dichter den Gehirnmechanismus, um optimal Informationen abzubilden.
Dies Interview war 1998 in der Silvesterausgabe der FAZ zu lesen, als sie noch ihr großartiges Magazin beilegte.
Nach Erkenntnis des Wissenschaftlers müsste das Drei-Sekunden-Gesetz auch für FAZ-Leser gelten und nicht nur für Durchschnittsleser; mit Willenskraft allein sei dies Naturgesetz des Lesens nicht zu überlisten. Also müsste es auch für einen „wunderbar poetisch formulierten Nachruf“ gelten, wie Heinz W. Pahlke den 208-Wörter-Satz rühmt.
Der Drei-Sekunden-Regel folgen auch alle SMS-und Twitter-Autoren, die also nicht für den Untergang des Abendlands stehen. Die zehn Gebote beispielsweise passen locker in maximal zehn Tweets: „Du sollst nicht töten“ besteht gerade mal aus 21 Zeichen.
Dies sind die Regeln der Verständlichkeit:
1. Schreibe stets so, dass der Leser nicht länger als drei Sekunden braucht, um eine Information zu verstehen.
2. Ein Satz darf durchaus unbegrenzt lang sein, wenn er gut gebaut ist:
a. Er beachtet die Drei-Sekunden-Regel;
b. er ist gegliedert durch Komma, Semikolon, Doppelpunkt und Gedankenstrich;
c. er besteht aus Hauptsätzen;
d. er lässt nur wenige eingeschobene Nebensätze zu oder einen längeren Nebensatz am Ende;
e. er schiebt höchstens sieben kurze Wörter zwischen Subjekt und Prädikat („der Vater auf einem Schaukelpferd lobt…“), zwischen Artikel und Substantiv („der auf einem Schaukelpferd sitzende Vater„) sowie zwischen das zweiteilige Verb („Der Vater hat seinen gehorsamen Sohn gelobt„);
f. er nutzt wenige Ziffern und keine Klammern, es denn am Ende des Satzes (wogegen ich in dieser Aufzählung unter Punkt e verstoßen habe).
3. Journalisten schreiben so, dass ihr Text beim ersten schnellen Lesen zu verstehen ist. Alles andere überlassen sie Poeten, die für eine Minderheit schreiben wollen.
Ist das Gewissen für Journalisten ein charakterliches Handicap? (Zitat der Woche)
Als Journalist hatte Henning Ritter mit einem charakterlichen Handicap zu kämpfen: Er war nur bereit zu schreiben, was er vor dem strengsten ihm bekannten Gerichtshof, seinem Gewissen, verantworten konnte, und so zögerte er oft, zu der in seinem Gewerbe als notwendig empfundenen Konklusion zu gelangen.
Martin Mosebach über Henning Ritter, der am 23. Juni in Berlin gestorben ist. Der FAZ-Redakteur redigierte die Seite „Geisteswissenschaften“, schrieb Sachbücher über Grausamkeit, Mitleid und sein großes Vorbild Rousseau. Er notierte sich unentwegt seine Gedanken und gab sie 2010 als Buch heraus: „Notizhefte“
Im FAZ-Essay berichtet Mosebach von seinen Begegnungen am Freitagnachmittag im Kaffeehaus, wo Ritter „unter einer Glasglocke der Konzentration“ seine Notizen schrieb. Sollte man vielleicht den Nachrichtenraum in einem Cafe einrichten?
Bei einem der letzten Gespräche mit Mosebach erzählte Ritter, wie er die Nachricht seines Arztes vom nahen Tod aufgenommen habe: „Ich fühlte eine ungeheure Erleichterung – du musst nie wieder schreiben.“
Quelle: FAZ vom 27. Juni „Unbedingter Glaube an die Kraft des Gedankens“
Die Deutsche Meisterschaft des längsten Satzes: 208 Wörter – Wer findet mehr?
Wir sind auf der Suche nach dem längsten Satz in diesem Jahr, der in einer Zeitung gedruckt wurde. Zur Zeit führt der Feuilletonist Gerhard Stadelmaier, der in seinem Text über die Trauerfeier von Walter Jens 208 Wörter in einem Satz unterbrachte (nach der Word-Wörterzählung):
Abgesehen davon, dass Jens im Jahr 1998 zu Mozarts „Requiem“ (KV 626) Zwischentexte, Reflexionen schrieb, die den ewigen protestantischen Aufklärer Jens und Auf-Verbesserung-der-Welt-Hoffer als doch etwas leichtfertigen Um- und Gegendeuter und Verharmloser der gewaltigen katholischen Totenmesse zeigt, die das Jüngste Gericht und die Flammen der Verdammnis und die Sühne für alle Sünden und die Gnadenlosigkeit eines Gottes beschwört, bei dem allein die unberechenbare Gnade liegt; abgesehen auch davon, dass Jens im Jahr 2006, als er zur „Reqiem“-Musik seine „Requiem“-Gedanken vortrug, plötzlich das Vermögen, etwas vorzulesen, verließ, er stockte und stotterte und sich so seine Demenz, an der er über die Jahre ohne Sprache und Gedächtnis hinweg verdämmerte, offenbarte; abgesehen auch davon, dass die Stiftskirche, in der einst die Universität Tübingen gegründet wurde und die sozusagen deren erster öffentlicher Raum war, zum Tübinger Öffentlichkeitsspieler- und Nutzer Walter Jens doch wunderbar passt: Es ist ein seltsam Empfinden, wenn jenseits aller Rhetorik und jedes Meinens und Polemisierens und Kritisierens, jedes Forschens und Ergründens und jeder Buchgelehrsamkeit ein Satz in die vollbesetzte Kirche fährt: „Liber scriptus proferetur“ (Und ein Buch wird aufgeschlagen, treu darin ist eingetragen jede Schuld auf Erdentagen), wo sich dann „solvet saeclum in favilla“ (das Weltall sich entzündet) und „quantus tremor est futurus“ (ein Graus wird sein und Zagen).
Wetten dass der Autor stolz ist auf diesen Satz? Dass er stolz ist, dass ihn nur wenige verstehen? Dass er stolz ist, dass er klüger als alle, die nur kurze Sätze schreiben?
Trotzdem taugt der Satz für jeden Volontärskurs: Wie zertrümmere ich einen Schachtelsatz?
In demselben Text findet sich auch dieser Satz – ohne Semikolon und Doppelpunkt -, der es auf 54 Wörter bringt:
Der Rhetorikprofessor, Schriftsteller, Polemiker, republikanische Redner, Sich-überall-Einmischer, Pazifist, Praeceptor, Germaniae, Akademiepräsident, Homo politicus, Essayist, Linker und Großaufklärungsgrundbesitzer scheint auf dem Zauberberg am Neckar, den er – eine Mischung aus Nathan der Weise, Vater Courage und wenigstens Worte, wenn schon nicht Wirklichkeiten verändernder Prospero – über Jahrzehnte beherrschte, doch irgendwie eine Figur respektvoll anerkannter Vergangenheit zu sein.
Wer hat das Verb im Hauptsatz entdeckt? Es ist „scheint“ – mittendrin, schlapp und unscheinbar muss es sich gegen starke Hauptwörter durchsetzen wie Polemiker, Linker und das 27-Buchstaben-Wort Großaufklärungsgrundbesitzer. Da haben wir den Anwärter auf die Meisterschaft des längsten Wortes auch schon gefunden.
Beide Sätze erschienen in „Das letzte Wort“, FAZ 18. Juni 2013.
Wer entdeckt noch längere Sätze?
Streitgespräch über NSU: Die FAZ-Sonntagszeitung kniff
Provinz-Zeitung aus Thüringen gegen „Qualitätszeitung“ aus Frankfurt – auf dieses Streitgespräch hatte ich mich gefreut. Zwei Redakteure, die offene Briefe geschrieben hatten, sollten sich öffentlich bei der Jahreskonferenz des Netzwerk Recherche streiten. „Da können Sie nicht Nein sagen!“, lockte mich das Netzwerk. Ich sagte spontan zu.
Es sollte um meinen Blog zum NSU-Prozess gehen, der auf einen Offenen Brief des FAS-Redakteurs Schäffer reagierte, gerichtet an das Oberlandesgericht in München. Albert Schäffer schrieb in dem Brief:
Wie soll Öffentlichkeit in einem Verfahren, in dem die Grundfeste unseres Gemeinwesens verhandelt werden, anders hergestellt werden als durch eine Berichterstattung in überregionalen Tageszeitungen und Wochenzeitungen?
Meine Antwort:
Provinzzeitungen sind für Provinzler da, wir schreiben für die Welt. Also stellt Euch in die Ecke, Ihr Lokalzeitungen und Provinz-Redakteure!
Mit Verlaub, geschätzter FAZ-Redakteur, dies ist ein Prozess für die Provinz, vor allem für die ostdeutsche Provinz. Aus Jena kommen die meisten der jungen Leute, die des Terrorismus angeklagt sind; sie sind im Osten aufgewachsen und haben in Thüringen und Sachsen ihre Unterstützer gefunden.
Dem Streitgespräch wollte sich der FAS-Redakteur laut Auskunft der Veranstalter nicht stellen. Immerhin wollte FAS-Redakteur Volker Zastrow zu einer Podiumsdiskussion kommen, musste aber in letzter Minute wegen Krankheit absagen. So kam es ersatzweise zu einer Podiumsdiskussion ohne große Kontroversen:
Hans Leyendecker von der Süddeutschen fand die Reaktionen der Journalisten übertrieben und überzogen, was das Losverfahren des Gerichts betraf. Er mahnte zudem, gerade Rahmi Turan von Sabah (Türkei), die rechtsstaatlichen Regeln des Verfahrens zu achten und für die Leser, auch in der Türkei, erkennbar zu machen – also ohne Vorverurteilung und mit Respekt vor dem Recht der Angeklagten, komplett schweigen zu dürfen.
Ulli Jentsch stellte seinen Blog NSU Watch vor, auf dem sämtliche Protokolle der Gerichts- und Ausschussverhandlungen zu finden sind. Diskussionsleiter Kuno Haberbusch (NDR) lobte diese Arbeit der freien Journalisten, die gut 200 Zuhörer applaudierten lange.
Gespreizte Verben: Hat der Papst dementiert – oder nicht?
Eine der häßlichsten Konstruktionen in der deutschen Sprache findet sich heute auf der Titelseite der FAZ: Das gespreizte Verb. Das Verb – „dementierte“ – steht im ersten Teil des Satzes, die wesentliche Aussage – dementierte „nicht“ – erst 27 Wörter später am Ende des Satzes. Relativ lange wird der Leser in der Erwartung gehalten, der Sprecher des Papstes habe die Korruption im Vatikan dementiert; erst spät wird diese Erwartung revidiert.
Der komplette Satz lautet:
Vatikansprecher Lombardi dementierte das auf der Internetseite der chilenischen Zeitschrift „Reflexion y Liberacion“ veröffentlichte Protokoll des Gesprächs mit sechs Vorstandsmitgliedern des „Verbandes lateinamerikanischer religiöser Männer und Frauen“ (CLAR) in Rom nicht.
Die Spreizung und das mögliche Missverständnis kann der Autor leicht vermeiden, indem er sofort nach dem Verb „dementierte“ das „nicht“ einfügt: „Vatikansprecher Lombardi dementierte nicht das …“
In demselben Text findet sich die Spreizung ein zweites Mal: Ein Nebensatz beginnt mit dem Verb „erhielten“, aber erst 31 Wörter und einen weiteren Nebensatz später klärt der Autor auf: „(erhielten) neue Nahrung“. Der komplette Satz:
Mutmaßungen über homosexuelle Seilschaften in der Kurie waren vom Vatikan bisher nie kommentiert worden, doch erhielten sie im Zusammenhang mit dem weiter unter Verschluss gehaltenen Bericht der drei Kardinäle, die für den Papst Benedikt XVI. die Affäre um die von seinem Schreibtisch gestohlenen Dokumente („Vatileaks“) aufklären sollten, neue Nahrung.
Dieser komplizierte Satz lässt sich leicht entwirren:
Mutmaßungen über homosexuelle Seilschaften in der Kurie waren vom Vatikan bisher nie kommentiert worden: Sie erhielten neue Nahrung durch den Bericht der drei Kardinäle, die für Papst Benedikt XVI. die Vatileaks-Affäre aufklären sollten. Darin geht es um Dokumente, die von seinem Schreibtisch gestohlen wurden; der Bericht wird weiter unter Verschluss gehalten.
Quelle: FAZ 13.Juni 2013 „Korruption und homosexuelle Seilschaft im Vatikan“
NSU-Prozess: Warum es eine ostdeutsche Sicht gibt – oder: Die Neonazis sind noch da!
Im Schwurgerichtssaal A101 sitzt auch Thüringen auf der Anklagebank, weil dies nun einmal das Land ist, aus dem die Täter kamen.
Das schrieb mein TA-Kollege Martin Debes vor einigen Wochen, kurz bevor der NSU-Prozess eigentlich beginnen sollte. Er erntete in unserer Thüringer Leserschaft einige empörte Reaktionen: Wir haben doch mit den Neonazis nichts zu tun; es ist eine Frechheit, uns mit denen in einen Topf zu werfen!
Auch in den Kommentaren nach meinem Offenen Brief an die FAZ klang Unverständnis bis Ärger durch: Was soll denn eine thüringische Sicht? Ist „Kollektivschuld“ nicht eine maßlose Übertreibung?
„Tingtong“ beispielsweise schrieb:
Allerdings finde ich befremdlich, dass Sie auf eine “ostdeutsche Sicht” hinweisen.
Was ist in diesem speziellen Fall (NSU-Morde) das Besondere an dieser “ostdeutschen Sicht”?
Martin Debes kommentierte parallel zu meinem „Offenen Brief“ seinen „Zwischenruf“ für die Zeitung, das ist der montägliche Wochenkommentar des TA-Reporters:
„Was der NSU-Prozess immer noch mit Thüringen zu tun hat und weshalb wir nicht verdrängen sollten, was offensichtlich ist“:
Es geht darum, dass wir nicht neuerlich verdrängen, was doch so offensichtlich ist. Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe wurden zu einer Zeit erwachsen, als nahezu wöchentlich Ausländer in Jenaer Straßenbahnen verprügelt wurden, als Neonazis in Süd- oder Ostthüringen national befreite Zonen ausriefen und CDs mit nationalsozialistischem Liedgut auf vielen thüringischen Schulhöfen zu bekommen waren.
Ich lebte damals, vor 15, 20 Jahren, in dieser Stadt, studierte vor mich hin und schrieb für Zeitungen. Einige Kommilitonen wohnten in Lobeda, da passte man bei Besuchen auf. Ansonsten ging man den Glatzen, die eher selten im Stadtzentrum auftauchten, einfach aus dem Weg.
Bis auf die langen Haare, die ich damals noch besaß, hatte ich wohl nichts an mir, was sie provozierte. Ich war ja Deutscher.
Für eine Weile wohnte ich zwei Häuser neben der Evangelischen Jugendgemeinde, die sich mit einem eisernen Tor gegen die Angriffe der Rechtsextremen schützte und die, zumindest zuweilen, auch nicht zimperlich gegen die Neonazis vorging. In manchen Nächten herrschte in manchen Gegenden Kriegszustand.
Doch die Lokalpolitik, vom Oberbürgermeister bis zum Stadtrat, ignorierte das alles, genauso wie der Rest der Welt. Als der Spiegel eine Geschichte über Jena schrieb, titelte er von der „Hauptstadt der Intelligenz“. Niemand wollte sich das von Lothar Späth und anderen gepflegte Image der Boomtown Jena kaputt machen lassen.
1998 flüchteten die Drei, um in Sachsen Terroristen zu werden. Das war auch ungefähr die Zeit, als die Neonazis ihre Strategie änderten. Ralf Wohlleben, dem auch in München der Prozess gemacht wird, ließ sich in den Ortschaftsrat in Winzerla wählen.
In Alt-Lobeda bezog er eine alte Kneipe und machte sie zum Braunen Haus. Die Gewalt nahm ab, die Präsenz zu. Die NPD etablierte sich.
Der Sohn meiner Schwester, er ist 18, geht ab und an in den „Hugo“ in Winzerla. Der Club wurde vor einigen Jahren neu gebaut, an Stelle der alten Baracke, in der Beate Zschäpe ihre Uwes kennenlernte.
Der Neffe sagt, selten, jedenfalls nicht oft, kämen einige, wenige Rechte vorbei. Sie fielen kaum auf, weder optisch noch sonstwie.
Aber sie sind noch da.
Thüringer Allgemeine vom 6. Mai 2013
Der NSU-Prozess: Offener Brief aus der Provinz gegen die hochmütige FAZ
Sehr geehrter Herr Schäffer,
verehrter Kollege (wenn Sie diese Anrede nicht als Anmaßung verstehen, denn ich schreibe nicht für eine überregionale Zeitung, sondern für eine Provinzzeitung),
Sie schreiben in der FAS zum NSU-Prozess:
Wie soll Öffentlichkeit in einem Verfahren, in dem die Grundfeste unseres Gemeinwesens verhandelt werden, anders hergestellt werden als durch eine Berichterstattung in überregionalen Tageszeitungen und Wochenzeitungen?
Sie erkennen, dass dies Hochmut ist gegenüber den Regional- und Lokalzeitungen, und sie geben dies auch zu:
Das ist kein Dünkel gegen regionale und lokale Zeitungen. Sie haben ihre Stärke und ihre Funktion. Sie bieten hohe journalistische Qualität, die unsere deutsche Zeitungskultur prägt. Aber wie der NSU-Prozess verläuft, wird auch und gerade jenseits der deutschen Grenzen beobachtet. Das Bild, das sich die Welt von Deutschland macht, wird durch die überregionalen Zeitungen bestimmt.
Das ist ein vergiftetes Lob: Provinzzeitungen sind für Provinzler da, wir schreiben für die Welt. Also stellt Euch in die Ecke, Ihr Lokalzeitungen und Provinz-Redakteure!
Mit Verlaub, geschätzter FAZ-Redakteur, dies ist ein Prozess für die Provinz, vor allem für die ostdeutsche Provinz. Aus Jena kommen die meisten der jungen Leute, die des Terrorismus angeklagt sind; sie sind im Osten aufgewachsen und haben in Thüringen und Sachsen ihre Unterstützer gefunden.
Die Menschen in der Ex-DDR, die einer unglaublichen Revolution zum Erfolg verhalfen, sind durch die NSU in den Generalverdacht geraten: Im Osten sei der Nährboden des braunen Terrors! Im Osten lebten die Menschen, welche die Mord-Serie erst möglich machten!
Die Regional- und Lokalzeitungen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg haben intensiv über die NSU und die Neonazis recherchiert, haben viele Details ans Licht befördert. Die Lausitzer Rundschau beispielsweise hat einen der Nannen-Preise gewonnen, weil sie sich den braunen Kämpfern entgegen stellte, sich nicht einschüchtern ließ und weiter recherchierte.
Für solch eine Recherche in der Lausitz braucht ein Lokalredakteur kein klimatisiertes Büro und keinen internationalen Vertrieb: Er braucht Mut, weil die Neonazis seine Gesundheit bedrohen, er braucht Zivilcourage, weil er auch einige seiner Leser überzeugen muss, und er braucht eine Chefredaktion, die ihm den Rücken stärkt.
Wenn die FAZ über den Osten berichtet, dann reitet sie nicht selten auf den Vorurteilen durchs Land, die wir in der Provinz überwinden wollen und auch überwunden glaubten. Ich erinnere mich an eine ganzseitige Reportage in der FAZ, in der ein türkischer Arbeiter aus Rüsselsheim durch den Osten fuhr und in der ihn Ihre Reporterin aufforderte, breit anzuprangern, wie grau, schlimm und abstoßend dieser Teil Deutschlands ist.
Mir graut davor, dass Ihr Bild vom Osten in der Welt verbreitet wird. Es sind die Regionalzeitungen aus Thüringen und Sachsen, die wohl am besten, am genauesten und am fairsten über den Prozess in München berichten können. Wir kennen die Milieus, die Eltern, Verwandten
und Freunde der Angeklagten – und wir schreiben für die Menschen, die in eine Art Kollektivschuld genommen werden.
Ja, Sie haben Recht: Es geht um die Grundfeste unseres Gemeinwesens, die aber nicht für das Ausland verhandelt werden, sondern zuerst für die Menschen in Jena und Eisenach, Zwickau und Oberweißbach und den Rest der Republik.
Die Thüringer Allgemeine wird nicht in „rund neunzig Ländern verbreitet“ wie die FAZ. Sie wird nur von knapp einer Million Menschen in Thüringen gelesen, wenn wir unsere beiden Schwesterzeitungen dazu rechnen, für die wir auch über den Prozess berichten – wie auch für ein paar Millionen Leser im Ruhrgebiet, im Sauerland und am Niederrhein, in Braunschweig und Wolfsburg und in Österreich,wo eine Reihe von Zeitungen um unsere Berichte bittet, weil wir die braunen Terroristen und ihr Umfeld kennen.
Sie, verehrter Herr Schäffer, suggerieren in Ihrem offenen Brief an den Präsidenten des Oberlandesgerichts: Nur überregionale Zeitungen und ihre „erfahrenen Berichterstatter“ können den Lesern „ein vielfältiges Bild verschaffen, können vergleichen, können ihre Schlüsse ziehen“.
Bei allem Respekt vor Ihrer Überheblichkeit: Das können wir in der Provinz auch, und wahrscheinlich in diesem Prozess besser als Sie.
Kommentar per Mail am 10. Mai von
Dr. med.Lutz Langenhan
Sehr geehrter Herr Raue, mit teils ambivalentem Interesse verfolge ich aufmerksam Ihre gelungenen Beiträge mit überregionaler Wertschätzung. Hochmut war im frühen deutschen Wortsinn eine Tugend. Herr Schäffler ist eben schlichtweg arrogant! Hoffentlich erinnern sich die Redakteure der FASZ an ihren Lateinunterricht.
Wie die Ziehung der Lottozahlen: Pressekarten zum NSU-Prozeß
Wir wischen uns die Augen und denken: Das kann doch nur Satire sein – Heute-Show, Scheibenwischer oder Neues aus der Anstalt. Die Anstalt ist ein diesmal Gericht, und die Satire läuft so:
An einem Frühlingsmorgen in München treffen sich ein Richter und eine Aufsichtsperson, gespielt vom Ex-SPD-Chef Hans-Jochen Vogel, zur Ziehung der Lottozahlen, Pardon: zur Ziehung der Pressekarten für den Neonazi-Prozess.
Eine Direktübertragung der Ziehung fand nicht statt, so dass die Frage bleibt: Sind alle Kugeln auch in die Trommel gefallen? Das ist keine abwegige Frage: Vor wenigen Wochen blieben zwei Lotto-Kugeln stecken, trotz notarieller Aufsicht. Die falschen Zahlen wurden verkündet. Ein Gewinner mit sechs Richtigen ging leer aus, weil nochmals gelost werden musste. Zum Trost kam der Gewinner groß in die Bildzeitung.
Wie beim Lotto fand auch im Münchner Gericht die Verkündigung vor laufenden Kameras statt. Man nennt so etwas ein Medien-Ereignis, wohl gemerkt: Nicht der Prozess-Auftakt, sondern die Presse-Lotterie.
So etwas kann die beste Satire nicht leisten. Das unwürdige Schauspiel fand wirklich statt – im Münchner Oberlandesgericht. Aus Ärger über ein Urteil des Verfassungsgerichts verschob das Gericht den Prozess und verordnete eine Lotterie. Dabei wäre das Verfassungsgericht schon zufrieden gewesen, hätte man drei Stühle für türkische Journalisten in den Saal 101 gestellt.
Große Medien mit internationaler Bedeutung wie die FAZ oder die „Welt“ sind durchgefallen, politisch unauffällige wie „Brigitte“ oder „Radio Lotte“ aus Weimar sind dabei. Das Gericht in München hat eine der großen Prinzipien unseres Rechtsstaats lächerlich gemacht: Die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren. So viel Häme hat unsere Demokratie nicht verdient.
Leitartikel der Thüringer Allgemeine für den 30. April 2013 (unredigiert)
Journalist – ein Traumberuf ohne Festanstellung
Online! Online! Online! Nein, am Lehrplan der Deutschen Journalistenschule hat sich grundlegend nichts geändert:
Eine Nachricht ist eine Nachricht, ein Kommentar ist ein Kommentar, ganz gleich, für welches Medium man arbeitet.
sagt Jörg Sadrozinski, Leiter der Journalistenschule und Ex-Chef von tagesschau.de, in einem FAZ-Interview . Was ist neu im Lehrplan?
- Selbstvermarktung von freien Journalisten, weil nur noch 30 Prozent der Abgänger eine feste Stelle bekommen;
- Tipps zur Gründung von Redaktionsbüros;
- Online-Technik (CMS), denn „ohne Technik geht im Journalismus nichts mehr“.
Immerhin bewerben sich jedes Jahr noch 1500 junge Leute für einen der 45 Plätze an der Schule, ein Viertel weniger als vor einigen Jahren. Also, sagt Jörg Sadrozinski, „Journalist ist nach wie vor ein Traumberuf“.
Es gibt laut Sadrozinski viele Freie, die gut leben können; die meisten arbeiten ein Drittel ihrer Zeit in einer Nachrichtenredaktion, ein Drittel an Buchprojekten, ein Drittel an Magazingeschichten.
Auf die Frage von Julia Löhr, ob es ihm weh tue, wenn Journalisten PR machten und für Unternehmen arbeiteten, kommt die Antwort „relativ gelassen“:
Wichtig ist, dass sie ihren Job gut machen, also präzise recherchieren, verständlich schreiben und mit Begeisterung bei der Sache sind. Die Kundenmagazine einiger großer Unternehmen unterscheiden sich in ihrem Anspruch und ihrer Aufmachung kaum von den klassischen Publikumszeitschriften. Das ist mitunter richtig guter Journalismus.
Quelle: FAZ, Beruf und Chance, 27. April 2013
Anton Sahlender hat auf Facebook kommentiert:
Eine Nachricht ist zwar eine Nachricht, aber ihre Online-Präsentation, ihre Sprache und ihr Aufbau sollten in vielen Fällen wohl anders aussehen. An dem, was j
journalistische Sorgfalt betrifft, darf sich nichts ändern…*
Ich denke, es lohnt sich auch über eine Veränderung der „Ansprache“ in meinungsbetonten Beiträgen ernsthaft nachzudenken.
Wissenschaft: Wer muss sich quälen? Der Leser oder der Autor?
Dürfen Wissenschaftler kompliziert schreiben und so Distanz zum Bürger schaffen? Bei einem Germanisten-Kolloquium in Hannover bejahte dies offenbar der Berliner Germanist Steffen Martus und unterstrich laut FAZ-Bericht, „dass die Gegenstände der Forschung naturgemäß schwierig seien und die schwierige Sprache dieser Tatsache geschuldet sei“.
Wilhelm Krull, der Generalsekretär der Volkswagen-Stiftung, will dagegen die Verständlichkeit fördern und Bewerber für ein Stipendium ermutigen, „ohne spezielle Antragsprosa und Fachjargon die Ziele ihrer Forschung aufzuschreiben“. (FAZ,17. April 2013: „Medienkulturlehrerbildung oder Dienst am Text?“)
Krulls Forderung, verständlich zu schreiben, folgt der Forderung im „Handbuch des Journalismus“: Nicht der Leser muss sich quälen, sondern der Schreiber. Der Journalist übersetzt Kompliziertes in einfache Sprache, findet den roten Faden durch ein Labyrinth.
Wer Politik für die Bürger macht (und das soll in einer Demokratie so sein), wer also das Volk vertritt, muss auch vom Volk verstanden werden. Wenn es einem Politiker nicht gelingt oder er absichtlich vernebelt, dann schafft der Journalist Klarheit.
In der Wissenschaft, erst recht in der Germanistik, ist es ähnlich: Die Bürger bezahlen die Forschung und wollen wissen, wie die Forscher ihre Welt und ihren Alltag verändern. Im besten Fall wollen sie mitreden – und das setzt voraus, dass die Bürger verstehen, was die Experten treiben.
Zur Qualitäts-Debatte ein Kuriosum am Rande: Die FAZ schrieb am 17. April im Feuilleton in einer Überschrift: „Die Londoner Buchmesse flüchtet sich in Qualität.“
Eine Flucht in die Qualität? Nein, es ist ein handwerklicher Fehler: Die FAZ nutzte ein Zitat, auch sinnwidrig – denn es bezog sich auf Amazon und nicht auf die Buchmesse.
FACEBOOK-Kommentar:
Raphael Raue:
Eine vernünftige Forderung. Allein mir fehlt der Glaube daran, dass es tatsächlich möglich ist, Komplexitäten jederzeit soweit zu reduzieren, dass sie gemeinhin verständlich sind. Reduktion bleibt eben Reduktion. Und das ist nicht die einzige Aufgabe von Wissenschaft. Und Wissenschaft darauf zu reduzieren würde Wissenschaft in ihren Grundfesten abschaffen, eben in jeglicher Hinsicht sinnlos sein zu dürfen; sicherlich ohne dieses Privileg immer in Anspruch nehmen zu müssen ;)“
Antwort:
Wissenschaftler untereinander können (und müssen wohl auch) Komplexes komplex beschreiben, um eine Genauigkeit zu erreichen, die für Laien schwer verständlich ist. Da dürfen sie selbstverständlich auch eine Spezialsprache nutzen, um von allen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft genau verstanden zu werden.
Am Ende müssen Wissenschaftler jedem verständlich machen, was sie tun – auch auf die Gefahr hin,nicht mehr hochpräzise zu sein. Die Menschen in einer Demokratie müssen erfahren, wer die Gene manipuliert und warum er es tut usw.
Henning Noske per Facebook:
Die besten Wissenschaftler können buchstäblich in Bildern und Geschichten sprechen. Sie profitieren davon auch für ihre wissenschaftliche Arbeit. Die besten Journalisten erzählen in Bildern und Geschichten. So wird ein Schuh draus.
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