Alle Artikel mit dem Schlagwort " Kontrolle der Mächtigen"

AP-Chef: Regierung muss Journalisten vor Abhör-Aktion warnen

Geschrieben am 24. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.

Die amerikanische Regierung soll die Verfassung achten, vor allem die Pressefreiheit beachten, statt sie auszuhöhlen, schreibt AP-Chef Gary Pruitt im Blog seiner Nachrichtenagentur. Er reagiert auf das Abhören gegen AP-Journalisten im vergangenen Monat.

Pruitt stellt fünf Forderungen auf, um die Pressefreiheit dauerhaft zu sichern:

1. Das US-Justizministerium muss die Presse vor Abhör-Aktionen warnen und anhören, bevor es sich Zugriff auf ihre Aufzeichnungen verschafft.

2. Gerichte müssen sicherstellen, dass die Gewaltenteilung ebenso strikt eingehalten wird wie die Verfassung und journalistische Rechte nicht durch die Selbstermächtigung der Exekutive untergraben werden.

3. Die Richtlinien, die besagen, dass Journalisten keiner Auskunftspflicht unterliegen, müssen an die modernen Kommunikationsformen wie Mails oder SMS angepasst werden.

4. Zur Durchsetzung dieser journalistischen Schutzrechte brauchen wir ein strenges Bundesgesetz.

5. Das Justizministerium muss eine Vorschrift erlassen, die auch künftige Regierungen verpflichtet, keinen Reporter zu kriminalisieren, nur weil er seinen Job macht.

(Zusammenfassung und Übersetzung: Felix Voigt)

AP beruft sich auf den ersten Zusatz der US-Verfassung, verabschiedet im Dezember 1791:

Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.

Der Kongress darf kein Gesetz machen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung um die Beseitigung von Missständen zu ersuchen.

(Übersetzung: Wikipedia)

Off the record! Wenn Politiker die Bürger täuschen und Journalisten mitspielen

Geschrieben am 8. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.

„Nur ein Hintergrund-Gespräch!“ „Off the record!“ „Sie dürfen mich nicht zitieren!“ So schützen sich Politiker und andere Mächtige, indem sie ihre Informationen und Botschaften öffentlich machen – und sich gleichzeitig verstecken. Im AP-Blog wird daran erinnert, dass in den meisten Demokratien explizit das Recht auf freie Veröffentlichung garantiert wird. Wenn ein Politiker nicht als Quelle einer Nachricht bekannt werden will, täuscht er die Bürger. Daraus folgert AP:

Vertraulichkeit ist nur sinnvoll, wenn der Informant um seinen Arbeitsplatz bangen muss oder gar um sein Leben. Das ist aber nur selten der Fall.

So sind AP-Mitarbeiter verpflichtet zu fragen, das Treffen als nicht-vertraulich einzustufen. Gelingt das nicht, müssen sie entscheiden, ob sie gegen die Regel verstoßen – wenn die Information wichtig und glaubwürdig ist.

So viel Freiheit gewährt der deutsche Pressekodex nicht. Er bestimmt in Ziffer 5 (Berufsgeheimnis): „Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren“ und lässt in einer Richtlinie nur als Ausnahmen zu:

Vertraulichkeit kann nur dann nicht bindend sein, wenn die Information ein Verbrechen betrifft und die Pflicht zur Anzeige besteht. Vertraulichkeit muss nicht gewahrt werden, wenn bei sorgfältiger Güter- und Interessenabwägung gewichtige staatspolitische Gründe überwiegen, insbesondere wenn die verfassungsmäßige Ordnung berührt oder gefährdet ist.

Im AP-Blog geht es zudem um die Praxis von Präsident Obama, im Weißen Haus nur seine eigenen Fotografen arbeiten zu lassen – damit nur die Fotos in die Welt rausgehen, die dem Präsidenten gefallen. AP verbreitet diese Fotos nicht.

Zudem erinnert Michael Oreskes in dem Blog an die Abhör-Affäre: Das Justizministerium ließ AP-Reporter heimlich überwachen:

The importance we place on being allowed to gather the news without interference was given a great deal of attention after it was revealed last month that the Justice Department had thrown an investigative drift net over the phone records of some of our reporters and editors to identify their sources. We protested, vehemently. As AP CEO Gary Pruitt said, this was an unprecedented intrusion and chilled our ability to gather news. The case was unusual, but our position flowed from the work we do each day to assure access to the workings of governments all around the world.

Eine vorbildliche Recherche: Offshore-Leaks der SZ

Geschrieben am 5. April 2013 von Paul-Josef Raue.

„Offshore-Leaks“, die Serie der Süddeutschen, ist, abgesehen vom Serientitel, ein Vorbild für alle Reporter:

  1. Die Quellen sind genannt: Eine anonyme Festplatte, die per Post gekommen ist; darauf sind Dokumente, die auf den Servern zweier Firmen gesammelt wurden: Portcullis („Fallgitter“), ein Finanzdienstleister auf den Cook-Inseln, und CTL, Commonwealth Trust Limited, auf den Britischen Jungferninseln.
  2. Die Überprüfung der anonymen Quellen übernehmen seriöse Zeitungen – und in Deutschland auch der NDR – wie die Washington Post, der Guardian, Le Monde.
  3. Die meisten Personen werden zu Vorwürfen befragt, wie der Nachlassverwalter von Gunter Sachs, oder die Sprecher von Banken, wie der Deutschen Bank; die meist abwiegelnden Erklärungen werden veröffentlicht ebenso wie das Schweigen.So fällt auch das Fehlen der Quellen auf, meist bei Vorwürfen gegen internationale Prominenz wie die Tochter des philippinischen Diktators Marcos; da behilft sich die Redaktion mit einer unbeantworteten Frage („Stammt das Geld aus dem unrechtmäßigen Vermögen des Vaters?“) und dem Hinweis, die Behörden auf den Philippinen wollen prüfen.
  4. Die Geschichte ist verständlich, meist sehr gut geschrieben. Die Autoren verschanzen sich nicht hinter dem Argument „komplexe Materie“, sondern entwirren nach dem ehernen Journalisten-Grundsatz: Quälen muss sich der Redakteur, nicht der Leser.
  5. Grafiken helfen, Zusammenhänge zu verstehen. Aber das ist der einzige Nachteil der SZ-Serie: Die Grafiken sind meist wirr, nur schwer zu enträtseln – und haben keine Bildzeile, also keine Lesehilfe („Wie muss ich die Grafik lesen?“).

Zur Kommentierung wird dann der Poet der Redaktion geladen, der in einem großen moralischen Eintopf „Offshore“ mit der Armut in Deutschland verknüpft, mit Hartz IV und dem Grundgesetz. Wie überwältigt Heribert Prantl von der Fleißarbeit seiner Kollegen war, zeigen allein schon die Sprachbilder und Substantive im ersten Absatz seines Leitartikels: Schöpfungen Gottes, Palmen, weiße Strände, Idylle, Sehnsucht, Verklärung, Badetuch, Tresore, Paradies, Geldmagnet, Gier. Wie gesagt – so viel Phantasie in einem einzigen Absatz!

Wie bei fast allen Skandalen, die von Journalisten recherchiert werden, stellt sich die Frage nach der Moral: Dürfen wir Material nutzen, das illegal oder sogar mit krimineller Energie beschafft wurde, oder von moralisch zwielichtigen Typen kommt?

Ja, weil das Material nur den Anlass zur Recherche gibt. Nur was der Redakteur auch belegen kann durch eigene Recherche, das kommt an die Öffentlichkeit – die ein Recht darauf hat, in die Kulissen der Macht zu schauen.

Im „Handbuch des Journalismus“ ist im Kapitel 17 „Die eigene Recherche“ zu lesen:

Hartnäckigkeit und Fleiß bringen nicht immer den Lohn, manchmal spielen eher unmoralische Motive die Hauptrolle, damit der Moral zum Siege verholfen wird. Hätte nicht der Spiegel einem Informanten eine horrende Summe bezahlt, so wüssten wir immer noch nicht, auf welche Weise sich die Chefs der ,Neuen Heimat‘ bereichert haben.

Kein Reporter hatte sich geplagt, sondern ein gekränkter Angestellter der ,Neuen Heimat‘ sein Wissen zu Geld gemacht. Weniger Gekränktheit beim Angestellten oder weniger Geld beim Spiegel, und die Öffentlichkeit hätte die Wahrheit vermutlich nie erfahren.“

Leser fragen zur Wulff-Affäre: Waren Journalisten übereifrig?

Geschrieben am 1. April 2013 von Paul-Josef Raue.

Lange hielt die Mehrheit der Deutschen Christian Wulff die Treue und kritisierte die Journalisten, sie organisierten eine Kampagne gegen den Präsidenten. Nachdem die Ermittlungen offenbar wenig ergiebig waren, schreibt ein Leser der Thüringer Allgemeine an den Chefredakteur:

Dabei habe ich noch nicht vergessen, mit welchem Eifer auch Ihre Leute hier bei der Sache waren.

Der Leser reagiert auf einen Bericht am 18. März: „Ermittlungen gegen Wulff sollen eingestellt werden“:

Wenn Herr Wulff tatsächlich wegen eines Freundschaftsdienstes in der Größenordnung von 800 Euro aus dem Höchsten Staatsamt gedrängt worden ist, so ist das eine tief beschämende Angelegenheit.

Den Leserbrief habe ich in meiner Samstags-Rubrik „Leser fragen“ beantwortet (30. März):

Sie haben Recht, wenn Sie den Ausgang der Ermittlungen gegen den früheren Bundespräsidenten Wulff eine „tief beschämende Angelegenheit“ nennen. Nur – für wen beschämend?

Zuerst für die Staatsanwaltschaft: Sie wusste, dass ein Ermittlungsverfahren gegen den Präsidenten seinen Rücktritt provozieren würde. Dabei hatte sie offenbar kaum Beweise und nur windschiefe Indizien.

Nun ist ein Oberstaatsanwalt, der die Ermittlungen anordnet, an Weisungen gebunden – im Gegensatz zu einem Richter, der völlig frei in seinen Entscheidungen ist. Der damals zuständige Justizminister Busemann in Hannover war ein Parteifreund von Christian Wulff, mit dem er in Niedersachsen sogar gemeinsam am Kabinettstisch gesessen hatte.

Die Staatsanwälte halten heute Christian Wulff immer noch verdächtig der „Bestechlichkeit bzw. Bestechung“, bieten aber gleichzeitig an, der Verdächtige könne sich schuldig erklären und freikaufen – wie in hunderttausend und mehr Fällen in jedem Jahr. Will Wulff seine Unschuld beweisen, lässt er es auf einen Prozess ankommen.

Sie suggerieren auch eine Mitschuld unserer Zeitung und offenbar der Journalisten insgesamt. In der Tat sind einige Medien übers Ziel hinausgeschossen, aber vergessen wir nicht Wulffs Halbwahrheiten vor dem Parlament in Hannover und zu seinen Krediten, die Erpressungs-Versuche gegen Journalisten und anderes mehr.

Dieser Präsident hat sich als Präsident moralisch ins Zwielicht gestellt. Es Aufgaben von Journalisten, dies fair zu berichten – ohne die Rolle des Richters einzunehmen; das ist eine andere Gewalt.

Der Anwalt des Staates täte jetzt gut daran, Wulff in Ruhe zu lassen und die Ermittlungen einfach zu beenden. Der Verlust des Amtes, der Ehefrau, des Seelenfriedens und eines Teils des Vermögens reichen als Strafe. Es ist genug.

Nach Thüringer Allgemeine vom 30. März 2013

Facebook-Kommentar von Super Illu-Chefreporter Gerald Praschl: „Treffend analysiert“

Das journalistische Grundgesetz des Respekts: Zehn Regeln (Respekt und Nähe, Teil 2)

Geschrieben am 21. Februar 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 21. Februar 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lokaljournalismus, Presserecht & Ethik.

Der kategorische Imperativ im Lokalen lautet: Respektiere Deine Leser! Das bedeutet nicht, jedem nach dem Munde zu reden. Die Maxime, die Luther nachgesagt wird, ist gut auf den Respekt zu übertragen: Schau dem Volk aufs Maul, aber rede ihm nicht nach dem Mund!

Das ist ein Auszug aus meinem Beitrag in einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung über Lokaljournalismus und Verantwortung. Es ist gerade ins Netz gestellt worden: „Respekt und Nähe“.

Hier der zweite Teil meines Beitrag in der vollständigen Fassung, geschrieben im Februar 2012; Teil 1 befasste sich mit der Berichterstattung zum Amoklauf in Erfurt vor zehn Jahren.

Die Leser der lokalen Zeitung verlangen nach Nähe, gerade weil ihnen die Globalisierung ungeheuer ist und diffuse Ängste auslöst. Die Welt ist für die meisten unbegreiflich.

Die Nähe schließt ein, dass Lokalredakteure über die Menschen, ihre Nachbarn, berichten. Das gelingt nur mit Respekt. Wer mit seinen Lesern lange und ernsthaft spricht, wird diesen Wunsch, ja diese Forderung immer wieder hören: Behandelt uns mit Respekt!

Dieser Respekt beginnt schon beim Machen der Zeitung:
• Die Leser wollen keine verspielten Überschriften, sondern verständliche – um schnell entscheiden zu können, ob sie einen Artikel lesen wollen oder nicht. Führt sie eine Überschrift in die Irre, protestieren sie: Die Redakteure nehmen uns nicht ernst!

• Die Leser wollen eine verlässliche Ordnung in der Zeitung, um sich morgens leicht orientieren zu können. Irren sie durch die Zeitung, protestieren sie: Wir stehen eine halbe Stunde früher auf, um vor der Arbeit die Zeitung zu lesen – und nicht um in der Zeitung mühsam zu suchen, was für uns wichtig ist!

• Die Leser wollen ihren Platz in der Zeitung einnehmen, buchstäblich. Sie fordern unmissverständlich: Lasst uns mitreden! Gebt uns Raum genug, um uns artikulieren zu können – auch wenn es denen oben nicht gefällt!

Noch genauer als „Nähe“ kennzeichnet „Respekt“ die ethische Haltung
eines Lokalredakteurs. Der kategorische Imperativ im Lokalen lautet: Respektiere Deine Leser! Das bedeutet nicht, jedem nach dem Munde zu reden. Die Maxime, die Luther nachgesagt wird, ist gut auf den Respekt zu übertragen: Schau dem Volk aufs Maul, aber rede ihm nicht nach dem Mund!

So ist dieser Entwurf eines Grundgesetzes des Respekts zu verstehen, zu debattieren in den Lokalredaktionen und in allen Leserzirkeln:

1. Respektiere unsere Verfassung, die verlangt: Schreibt alles unverzüglich, glaubwürdig und unbeeinflusst, was die Bürger in einer Demokratie brauchen, um mitwirken zu können.

2. Respektiere unsere Demokratie, deren Fundament die Kontrolle der Macht und der Mächtigen bildet. Fürchte nicht den Unmut der Mächtigen, wenn sie in ihrem Tun genau beobachtet werden; weiche nicht zurück vor ihrem Zorn, wenn sie ertappt werden; meide aber auch die Umarmung und zu große Nähe, die verführen und korrumpieren kann. Warte nicht darauf, dass die Nachrichten kommen, sondern grabe tief nach den Nachrichten, vor allem denen, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollen.

3. Respektiere aber auch die Integrität der Mächtigen, die – wie jeder andere – Anspruch auf Fairness haben, also gründliche Recherche, das Recht zur Stellungnahme, Unterscheidung von Nachricht und Meinung sowie Achtung vor ihrem Privatleben.

4. Respektiere die professionellen Regeln – also Achtung vor der Wahrheit, Wahrung der Menschenwürde und wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit -, so wie sie im Pressekodex formuliert sind und vom Presserat kontrolliert werden.

5. Respektiere die Leser mit ihrem Anspruch, verständlich und umfassend informiert zu werden.

6. Respektiere den Wunsch der Leser, in ihrem Staat mitreden und mitwirken zu wollen. Ermutige die Bürger dazu – das ist das Gute, das jeder Journalist tun sollte. Räume den Lesern ausreichend Raum für ihre Meinungen, Anregungen und Kritik ein; verhindere keine Debatten, sondern rege sie an.

7. Respektiere den Wunsch der Leser, auch die Medien und die Redakteure kritisieren und kontrollieren zu wollen. Sei nicht der Oberlehrer, sondern der Partner und Treuhänder der Leser.

8. Respektiere die Gefühle der Leser, wenn Trauer und Leid über sie kommt. Respektiere ihre Weigerung, mit Journalisten zu sprechen und ihr Gesicht zu zeigen. Zerre nichts in die Öffentlichkeit, was ihr Leid, auch verschuldetes, noch leidvoller macht.

9. Respektiere die Ahnungslosigkeit von unerfahrenen Lesern, die oft weder die Wirkung ihrer Zitate noch die Tragweite ihres Handelns richtig einschätzen können.

10. Respektiere nicht nur die Leidenschaft der Menschen für ihre Heimat, sondern teile sie mit ihnen. Pflege eine kritische Nähe, die den Lesern zeigt: Es ist gut, hier zu leben, aber wir kritisieren, damit es noch besser wird.

 

(zu: Handbuch-Kapitel 55 Der neue Lokaljournalismus + 48-49 Ethik + 53 Was die Leser wollen)

Chefredakteur in Thüringen über Sexismus: „Küsschen, Küsschen“

Geschrieben am 16. Februar 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 16. Februar 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, B. Die Journalisten, Presserecht & Ethik.

Hans Hoffmeister, Chefredakteur der Thüringischen Landeszeitung (TLZ) , hat in seiner Samstag-Kolumne einige Fälle von Sexismus geschildert, so die aufdringliche Annäherung eines  Manager:

Ein namhafter Kaufhaus-Boss schickte seine eigene Ehefrau vor, um eine TLZ-Redakteurin fragen zu lassen, ob sie mit ihm schlafen wolle. Als es rauskam, schenkte er ihrem Mann ein Gummibärchen.

Hoffmeister erzählt auch vom  Auftritt  Dieter Althaus‘, Ex-Ministerpräsident in Thüringen, bei einem CDU-Landes-Parteitag in Eisenach, „wo er dem vorn neben ihm sitzenden Silvergirl so überschwänglich für die gute Organisation dankte, dass die ganze wahrscheinlich schon bierselige Männerhorde im Saal ,Küsschen, Küsschen‘ grölte, worauf er sie schnappte und ihr tatsächlich einen langen, scharfen Kuss verpasste. Zum Gaudi der Gemeinschaft.“

In der TLZ gibt  Hoffmeister auch „Verhaltensmaßregeln“, wie sie für seine Redakteurinnen gelten:

An der Bar, immer schon Ort der Kontaktanbahnung dieser oder jener Art, kann eine Frau bei verbalen Übergriffen, bei Grenzüberschreitungen, drei Schritte zurücktreten, den Politiker zu einem Kurzgespräch unter vier Augen zur Seite bitten und gesichtswahrend Klarheit schaffen.

 

 

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Das komplette „Schlüsselloch“  der THÜRINGISCHE LANDESZEITUNG vom  29. Januar .2013:

Patriarch hat ausgedient

Die Debatte um den Sexismus und der Blick zurück

Von Hans Hoffmeister

Haben wir in Thüringen mit dieser Debatte was zu tun? Aber ja! Seit etwa einer Woche geht es hin und her um die Äußerung des Spitzenpolitikers Rainer Brüderle, des Gesichts der FDP , gegenüber einer Redakteurin. Thema war des nachts an der Bar deren Körbchengröße, also das, was man gemeinhin Zoten-Inkontinenz nennt.

Durfte der das? War das eine Äußerung noch im Grenzbereich, nämlich um genau zu sein, dass die Oberweite der Dame in einem Dirndl durchaus Platz hätte? Worauf sie sich wohl sehr sachlich wehrte und er, der ihr auch noch eine Tanzkarte verkaufen wollte, offenbar nicht aufhören mochte.

Ein Jahr später hat sies nun enthüllt, nachdem Brüderle, inzwischen allenthalben ein ältlicher und faltiger Dödelgescholten, bei der notleidenden FDP als die große Nummer bestätigt wurde. Da sei die Frage erlaubt: Ist das nicht eigentlich dann auch so etwas wie Altersdiskriminierung?

Ist es angemessen, dass Parteifreund Wolfgang Kubicki (auch) ein solches Gespräch für vertraulich und somit geschützt, dazu noch für natürlich erklärt? Dass die FDP ansonsten tagelang gar nichts dazu zu sagen hat? Nur Silvana Koch-Mehrin, die langjährige FDP-Frau für Europa, blond und schön, aber leider vom Blitzstrahl der Plagiatsvorwürfe schwer getroffen, sprach Klartext:

Die FDP ist das Schlusslicht, wenn es darum geht, Gleichberechtigung in der eigenen Partei zu leben.

Ja, natürlich haben wir auch hier zu Lande mit dem Thema was zu tun. Was gab s nicht alles an Machotum. Wir erinnern uns dabei zuerst an die gängige Christinchen -Herabsetzung von Frau Lieberknecht, die Bernhard Vogel eingeführt hatte.

Wir erinnern uns an die in der TLZ wiederholt so genannte Erfurter Bussi-Gesellschaft, die vielen angejahrten Herren aus diesen zahlreichen Klubs, die zeitweise von der Umgebung jüngerer, fröhlicher Frauen halböffentlich so angetan waren, dass die Ehefrauen gar einen Umgangsboykott ausriefen. Wo ein jahrelang in vorderster Front agierender, ansonsten tadelloser, namhafter, hoch­renommierter Kaufhaus-Boss seine eigene Ehefrau vorschickte, um eine TLZ-Redakteurin fragen zu lassen, ob sie mit ihm schlafen wolle. Als es rauskam, schenkte er ihrem Mann ein Gummibärchen…

Wo sich erst spät und zögerlich die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass solche und andere Nummern gar nicht gehen.

Wir erinnern uns an den Auftritt des (wow!) Dieter Althaus bei einem kleinen CDU-Parteitag in Eisenach, wo er dem vorn neben ihm sitzenden Silvergirl so überschwänglich für die gute Organisation dankte, dass die ganze wahrscheinlich schon bierselige Männerhorde im Saal
Küsschen, Küsschen grölte, worauf er sie schnappte und ihr tatsächlich einen langen, scharfen Kuss verpasste. Zum Gaudi der Gemeinschaft.

Was ihm dennoch schlecht bekommen sollte: Im Eichsfeld sprach sich das rum, und dort mögen sie das schon gar nicht. Schließlich schoss ein Gerücht ins Kraut und schlug immer weitere Wellen, so dass er es auf einerBild -Titelseite meinte dementieren zu müssen. Das war natürlich die denkbar beste Weiterverbreitung eben dieses Gerüchts…

Hang zum Weiblichen (und umgekehrt) hat immer sehr die Fantasie zu Nachwendezeiten beschäftigt. Das Image half ihm und der CDU politisch: so ein dynamischer, sportlicher, gesunder,jungenhafter Politiker… Doch er vermochte es nie, richtig glaubwürdig die Grenze zu ziehen. Er hatte einfach keine Idee davon.

Wobei: Dass Redakteurinnen (und Redakteure) auch gern neben Politikern Platz nahmen, sich so gar geehrt fühlten, das kann man sich heute eigentlich gar nicht mehr in dieser Art vorstellen. Aber das gab’s.

Und noch immer nutzten diesen Wunsch nach Nähe zur Macht nicht nurPolitiker, sondern auch schon mal Wirtschaftsführer aus. Der eine verschenkte ein Kompliment: Sie ist aber auch eine angenehme Erscheinung gegen den Preis zurückwirkender Nettigkeit . Der andere schenkte einer anderen ein Osterei gegen den Preis eines (hoffentlich) genehmen Interviews. Welche Redakteurin (und welcher Redakteur) hat so etwas noch nicht erlebt?

Wenn die Frontfrau Zimmermann, früher FAZ, später Mitteldeutsche Zeitung, in der damals üblichen nächtlichen Chefredakteursrunde des Ministerpräsidenten neben Bernhard Vogel Platz nehmen durfte (auf der anderen Seite neben IHM saß der Frauen-Freund MDR-Landesfunkhaus-Direktor Kurt Morneweg), dann platzte sie schier vor Ego und belehrte die Runde im Wettbewerb mit TA-Lochthofen den ganzen Abend über.

Vogel brauchte eigentlich kaum noch was zu sagen: Morneweg vollendete sonor und klug seine halben Sätze, und Zimmermann spielte stacheldrahtig die CDU-Agitatorin. Und Regierungssprecher Hans Kaiser hatte stets mit erhobenem Kinn die Übersicht über das Agitationsprogramm, während sein Auge mit Wohlgefallen auf der Szene ruhte. Zeiten waren das! Die Zeiten sind vorüber.

Heute halten längst Frauen (und Männer) zumal in der Zeitungsbranche
Abstand. Regierungs-, Minister- oder sonstige Sprecher (es soll von ihnen um die 200 in Thüringen geben), die tatsächlich und dennoch Einflusszonen für ihre Chefs zu schaffen versuchen, sind entweder blöd oder sollten ihren Job wechseln. Oder beides.

Vogels stets angestrebte Übernähe wurde schon damals jedenfalls von der TLZ als übel empfunden. Denn Übernähe hatte den Preis mehr oder weniger verdeckter Forderungen, und seien es nur gefällige Kommentare, Erwartungen, die natürlich kaum je erfüllt wurden. Mit der Folge von Verärgerung und Abstrafung im Gegenzug. Ein normaler Machtkampf, mochte man meinen. Doch normal war das nicht.

Heute können sich Frauen wehren. Damals ging das nicht immer. Schnell stand sie als Zicke oder blaustrumpfige Altjungfer in der Ecke.

Was sollte die TLZ-Redakteurin tun, der der Jenaer Mitarbeiter der Net-Zeitung ein Verhältnis mit dem Thüringer Kulturstaatssekretär und Weimarer Ex-Unirektor andichtete, was schnell die ganze Stadt und das halbe Land wussten? Es handelte sich um eine simple Verwechslung. Was partout nicht zu vermitteln war, man hätte denn den Althaus gemacht und per Dementi das Gerücht noch weiter verbreitet.

Klar, sie müsste klagen! Das tat sie. Doch die Pressekammer des Landgerichts war ähnlich hilflos wie heute noch immer, wenn es um Schmähungen im Netz geht: So sexistisch Beschuldigte können sich schon juristisch kaum durchsetzen. Die Verhandlung ging so: Der Richter fragte, wo denn der Schaden sei? Wie viele Klicks? Sie hatte plötzlich die Beweislast für die Folgen eines Gerüchts, dessen Opfer sie doch war und das längst durch aller Munde ging. Und sie verlor tatsächlich das Gerichtsverfahren. Am Ende durfte sie auch noch die Rechnung bezahlen.

Doch es gilt auch dies: An der Bar, immer schon Ort der Kontaktanbahnung dieser oder jener Art, kann eine Frau bei verbalen Übergriffen, bei Grenzüberschreitungen, drei Schritte zurücktreten, den Politiker zu einem Kurzgespräch unter vier Augen zur Seite bitten und gesichtswahrend
Klarheit schaffen. Sich Notizen zu machen und ein Jahr später rachedurstig zu versuchen, den mittlerweile zum mutmaßlichen FDP-Retter Aufgestiegenen aus dem Amt zu kegeln, das hat ein zusätzliches Geschmäckle.

Nicht minder ein Geschmäckle hat es, wenn jüngere Menschen ältere pauschal alstüdelig bis notgeil bezeichnen und sie des notorischen Heranwanzens an junge Dinger bezichtigen.

Eine Beziehung zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau, die vielleicht seine Führungs-, seine Formulierungsstärke, seine Erfahrung, seine analytische Kraft, seine Bedachtsamkeit, seinen ausgeprägten Schutzinstinkt und vielleicht auch das graue Haar schätzt siehe Franz Müntefering, Peter Röhlinger oder Willy Brandt ist so selten nicht. Alte Männer haben was, das weiß man doch!

Und es ist meist mit einem großen Glück verbunden, wenn solch einem Mann so eine 15 Jahre, vielleicht noch jüngere Frau, die auch noch lächeln kann, an seinem Lebensabend beschert wird. Sich über solches Glück zu erheben, hat auch etwas Diskriminierendes. Zwischen Männern und Frauen hat sich das Verhältnis in den vergangenen Jahren grundlegend geändert.

Der Patriarch, dessen Großvater noch mit Pickelhaube ging, der Prinzipal mit Gönnertum, wird heute präpotent und breitbeinig gescholten. Er ist out. Es ist gut und richtig, dass dies bei Gelegenheit des Rainer Brüderle nochmals in der aktuellen, überraschend breiten, neuerlichen Aufschrei-Debatte wieder einmal öffentlich vorgeführt und betrieben wird. Sie hält uns, den Herren über 60, zu Recht den Spiegel vor.

Wann beginnt journalistisches Kesseltreiben gegen Politiker?

Geschrieben am 10. Februar 2013 von Paul-Josef Raue.

Manchmal irritiert mich die Selbstgerechtigkeit unserer Zunft: Zu viele klopfen sich auf die Schultern, ja rühmen sich, die Ministerin Schavan fertig gemacht zu haben. Ist es Aufgabe von Journalisten, Politik zu machen, Minister zu stürzen?

Sicher haben Journalisten Macht, vor allem die Macht und die Pflicht, zu recherchieren und den Mächtigen auf die Finger zu schauen und zu klopfen. Wir schreiben im Handbuch dazu im Kapitel „Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht“:

Über Verfehlungen von Politikern lässt sich sagen: Die Presse hat so viele aufgedeckt, dass vermutlich kein hohes Risiko besteht, Verstöße gegen das Recht oder den politischen Ehrenkodex könnten lange unter der Decke bleiben. Zuweilen scheint eher die umgekehrte Sorge berechtigt: dass ihre Macht einige einflussreiche Journalisten dazu verführt, gegen einen Politiker auch wegen einer Lappalie ein Kesseltreiben zu veranstalten.

Ein Kesseltreiben beginnt, wenn

– die Verfehlung nicht ausreichend recherchiert ist (etwa im Fall Schavan: Warum lässt die Uni Düsseldorf keinen externen Gutachten zu? Warum hat die Universität vor Jahrzehnten nicht ausreichend bei der Promotion geprüft?)

– die Verfehlung lange zurückliegt.

Dazu mein Leitartikel zum Schavan-Rücktritt, geplant für die Thüringer Allgemeine 11. Februar 2013 mit dem Titel „Die Gnade des Vergessens“:

Wissen Sie noch, welche Dummheiten Sie mit 25 gemacht haben?

Joschka Fischer zum Beispiel gehörte der Gruppe „Revolutionärer Kampf“ an, die Gewalt als Mittel der Politik gutheißt; er marschierte bei Demonstrationen mit, die in Straßenschlachten endeten.

Joschka Fischer wurde Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.

Annette Schavan war eine fromme junge Frau, die auch Theologie studierte, mit 25 Jahren promoviert wurde mit einem Thema über die Bildung des Gewissens; danach wählte sie katholische Bischöfe zu ihren Arbeitgebern.

Annette Schavan wurde auch Ministerin der Bundesrepublik; sie trat am Sonntag zurück, weil sie mit 25 nicht gewissenhaft gearbeitet haben soll.

Das sind zwei Politiker-Schicksale in Deutschland zu einer Frage, die nicht nur in der Politik gestellt wird: Wie lange dürfen uns unsere Fehler vorgeworfen werden? Wann soll, ja muss das Vergessen beginnen?

Das Bürgerliche-Gesetzbuch nennt als Frist für Verjährung drei Jahre; es gibt einige Ausnahmen. Diese Frist ist vor einem Jahrzehnt radikal verkürzt worden – um aus einer rachsüchtigen Gesellschaft eine tolerante zu machen.

Im Strafrecht darf ein Totschläger nach zwanzig Jahren mit Verjährung rechnen; nur wer mordet, ist von der Gnade des Vergessens ausgeschlossen.

So weit sind unsere Gesetze. Wie weit sind wir, die Bürger eines freien Landes? Müssen wir die Kunst des Vergessens noch lernen?

(zu: Handbuch-Kapitel 3 Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht + 48-49 Presserecht und Ethik)

Joachim Braun: Ein junger Wilder wird Chefredakteur des Jahres

Geschrieben am 27. Dezember 2012 von Paul-Josef Raue.

Joachim Braun ist ein ungewöhnlicher Chefredakteur: Kein Manager, dem Zahlen wichtiger sind als Recherchen; kein Presseclub-Dauergast, der die Welt erklärt; kein Liebling der Mächtigen in der Provinz, auch wenn sie ihn umarmen wollen. Joachim Braun ist Chefredakteur des Nordbayrischen Kurier in Bayreuth, ist Regional-Chefredakteur des Jahres – und feiert heute Geburtstag (27. Dezember).

Braun plädiert für eine strikt journalistische Haltung

Das alte Sowohl-als-auch, wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass, zählt nicht mehr. Journalisten müssen sich bekennen, müssen Orientierung geben, Hintergründe aufarbeiten, darstellen und vor allem: Sie müssen Klartext schreiben. Nur so bekommen sie Relevanz und erreichen ihre Leser auch emotional.

So steht es in seinem Blog „An(ge)kommen in Bayreuth“, eine ebenfalls ungewöhnliche Chronik eines Chefredakteurs, der vom ersten Tag an notierte und öffentlich machte, was ihm in der Redaktion und in der Stadt auffällt und missfällt.

So machte er sich nicht überall beliebt – auch nicht bei allen in seiner Redaktion, vor allem nicht bei jenen, die – so steht es in seinem Blog – „immer noch glauben, sie hätten in den vergangenen 25 Jahren alles richtig gemacht,

  • weil ihnen die Abonnenten nicht davon gelaufen sind,
  • die soziale Netzwerke standhaft ablehnen, weil sie glauben, sie verrieten dort ihre Ideale,
  • die eine Schulverbandsversammlung 60 Zeilen lang ins Blatt hieven, obwohl sie der Text nicht interessiert,
  • denn: Das haben wir schon immer so gemacht.

Dazu passt eines der Lieblings-Zitate von Braun, das er in einem Interview mit Jürgen Klopp, dem Meistertrainer von Borussia Dortmund, gelesen hat:

Sollten wir einen finden, den ich nicht mehr motivieren kann – der wäre hier auch nicht mehr so glücklich.

Der regionale Chefredakteur des Jahres, den eine Jury des Medium Magazin  wählt, kommt am Ende einer langen Liste von Journalisten, die unsere eitle Zunft als die wahren Journalisten preist: Dreimal FAZ, einmal Spiegel, Welt und dpa, je einmal WDR und ZDF.  Mit der Provinz will man sich nur am Rand ein wenig schmücken, wenn man sich feiert „unterstützt von der Metro group und otto group“.

Die Jury- Begründung für Joachim Braun ist jedoch vorzeigbar:

Er steht für einen unerschrockenen Journalismus, wie man sich ihn nur wünschen kann in einer Region: Gradlinig und kantig scheut er keine Konfrontation mit der Obrigkeit (was u.a. 2012 dazu führte, dass der Bayreuther Oberbürgermeister nicht wiedergewählt wurde). Ebenso wenig scheut er sich davor, alte redaktionelle Zöpfe abzuschneiden (z.B.Vereins- und Honoratioren-Berichterstattung). Er selbst geht mit gutem Beispiel voran und gibt mit seinem kritischen Blog „An(ge)kommen in Bayreuth“ täglich die journalistische Haltung vor, die er auch von seiner Redaktion erwartet.

Da ist allerdings noch ein Rest von Verachtung der Provinz zu lesen: Vereinsberichterstattung als alter Zopf, der abzuschneiden ist – als ob der Bürger, der sich engagiert und selbst organisiert, unserer Gesellschaft schadet. Da wird Lokalberichterstattung gerühmt, nur wenn sie Skandale entdeckt und Bürgermeister absägt – als Provinz-Spiegel sozusagen.

Diese Kopf-ab-Mentalität ist nicht Brauns Sache. Er mag seine Leser, er mag den  Stolz der Menschen auf ihre Heimat, er mag die Provinz, aber nicht das Provinzielle. In seinem Blog ist zu lesen:

Um’s klar zu stellen: Der Nordbayerische Kurier ist weder CSU noch SPD, weder rechts noch links, weder für noch gegen Festspielhaus. Er ist ausschließlich der Wahrhaftigkeit verpflichtet und damit seinen Lesern.

Bei allem Übermut, der Joachim Braun bisweilen überfällt, ist das die rechte Haltung. Glückwunsch,  lieber Joachim Braun!

(zu: Handbuch-Kapitel 2-4 Die Journalisten + 55 Der neue Lokaljournalismus)

 

Kein Grund für linksintellektuelle Schwermut: Das Zeitungssterben fällt aus

Geschrieben am 24. November 2012 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 24. November 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lokaljournalismus.

„Die allermeisten Verlage stehen grundsolide da“, schreibt Chefredakteur Armin Maus im Samstags-Essay der Braunschweiger Zeitung über die Insolvenz der Frankfurter Rundschau und das Ende der Financial Times Deutschland. Wie stark Zeitungen seien, werde verschwiegen, weil es schlecht ins Untergangsszenario passe. Stattdessen könne man viel Unfug vom „Zeitungssterben“ lesen.

Selbst eine gut gemeinte Titelgeschichte in der Zeit, in der viel Kluges über Qualität und Verantwortung zu lesen ist, war überschrieben: „Wie guter Journalismus überleben kann“. Diese Schlagzeile transportiert ein Bild, das in seiner pathetischen Schwarzfärbung vom Hang des linksliberalen Intellektuellen zur Schwermut zeugt.

Maus kritisiert Medienwissenschaftler, Experten und Politiker und bescheinigt ihnen ein Niveau zwischen Nostradamus und Radio Eriwan, wenn sie aus unterschiedlichen Geschichten die eine vom Zeitungssterben bastelten:

  • Medienwissenschaftler, hochgebildete Intellektuelle, sprechen über eine Realität, die sie mangels praktischer Erfahrung nur aus zweiter Hand kennen.
  • Experten, deren Geschäftsmodell auf der These beruht, die Verlage machen ohne sie alles falsch, rezensieren vom Turme herab.
  • Politiker, die die These vertreten, Tageszeitungen seien „ja nicht mehr so wichtig“.

Armin Maus stellt die Erfolge der Tageszeitungen heraus, die zu den wichtigen Faktoren des öffentlichen Lebens gehöre:

  • Nirgendwo sonst in Europa gibt es eine vergleichbare Vielfalt. Deutschland spiegelt sich in seinen Regional-Zeitungen.
  • 47 Millionen Menschen lesen in Deutschland täglich Zeitung.
  •  Leser schätzen die Unabhängigkeit der Redaktionen. Die Staatsferne, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk für sich reklamiert, ist bei den Zeitungen Realität.
  • Die Tageszeitung genießt bei den Bundesbürgern höchstes Vertrauen, liegt weit vor der „Tagesschau“.
  • Das Vertrauen gilt auch für junge Leute, die sich in beachtlicher Zahl weigern, „keine Zeitung mehr zu lesen“, obwohl es allenthalben von ihnen behauptet wird.
  • Die Zahl der Leser, die ein Abonnement bezahlt, ist leicht rückläufig. Nimmt man allerdings die Reichweiten der Internetangebote der Verlage dazu, sieht das Bild schon anders aus. Denn auch Leser, die keine Papierzeitung wünschen, schätzen die Informationen, die ihnen eine unabhängige Redaktion anbietet.
  • Als Werbeträger haben die Zeitungen unbestreitbar an Boden verloren. Aber es gibt zum ersten Mal eine intensive Zusammenarbeit der wichtigsten Verlage, die die Schaltung bundesweiter Kampagnen erleichtert.
  • Zeitungshäuser – Springer allen voran – sind auf dem Weg zum Multimedia-Anbieter.

(zu: Handbuch-Kapitel „Welche Zukunft hat der Journalismus“ + 53-57  Die Zukunft der Zeitung)

Ude (2): Die hohe Kunst des Lokaljournalismus

Geschrieben am 19. November 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 19. November 2012 von Paul-Josef Raue in Lokaljournalismus, Presserecht & Ethik, Recherche.

Wenn Münchens Oberbürgermeister verstehen will, was seine Verwaltung schreibt, schaut er in den Lokalteil der Zeitungen: „Ich verstehe viele Vorlagen nicht. Aber seriösen Zeitungen gelingt es, den wesentlichen Inhalt zu vermitteln.“ Das eine, die Leistung der Lokaljournalisten, sei eine Kunst; das andere, die Verwaltungssprache, ein Milieu-Schaden.

So sprach Christian Ude bei der Lokaljournalismus-Konferenz des Netzwerk Recherche in München (9. November 2012). Daraus abzuleiten ist die Forderung an die Lokaljournalisten: Übersetze die Verwaltungssprache in ein verständliches Deutsch, damit es nicht nur der Oberbürgermeister verstehen kann, sondern jeder Bürger deiner Stadt!

Eine weitere Kunst, die Lokaljournalisten beherrschen, lobte Ude: Aus einer neunstündigen Sitzung das Wesentliche zu destillieren. „Wir profitieren davon!“ – und meinte mit „wir“ die Politiker. Auch daraus kann man eine Forderung formulieren.

Eine dritte Kunst hob Ude hervor: „Als Korrespondent in Südamerika ist es völlig wurscht, was sie schreiben, im Lokaljournalismus muss jede Zahl und jeder Vorname stimmen, zumindest bei einem Stadtrat. Die öffentliche und soziale Kontrolle ist nirgends so enorm wie im Lokaljournalismus.“ Daraus folgert Ude: „Das hohe Selbstwertgefühl der Lokaljournalisten ist durchaus berechtigt.“

So lassen sich die Ude-Regeln der Lokaljournalisten-Kunst formulieren:

1. Schreibe so, dass dich jeder versteht, sogar der Oberbürgermeister!
2. Hole das Wesentliche aus jeder langen Sitzung, aus jeder Versammlung heraus!
3. Recherchiere sorgfältig, weil dich jeder kontrollieren kann!

Eine vierte Regel fügte er an: Kontrolliere die Mächtigen! Sei Wächter der Demokratie! Diese Regel formulierte Ude als Kompliment: „Man muss Lokaljournalisten fürchten!“

Die Wächterfunktion sei notwendig, denn – so Ude – „alle Menschen jeglicher Couleur neigen zum Machtmissbrauch, wenn sie nicht von außerhalb kontrolliert werden.“ Zu schreiben, was verschwiegen werden soll, sei die vornehme Aufgabe der Lokaljournalisten.

Wie er selber einmal in seiner Jugend wenig sorgfältig, aber dennoch erfolgreich gewesen war, erzählte er vor hundert Gästen im Restaurant der Süddeutschen Zeitung:

Ich habe eine Musikkritik in der SZ geschrieben, ohne dabei gewesen zu sein. Ich hatte keine Lust, bin ins Textarchiv gegangen, habe mir eine entsprechende Kritik von Joachim Kaiser angesehen, die besten Passagen abgeschrieben – und mir stattdessen einen unvergesslichen Abend im Biergarten gegönnt.

Der Konzertverein hat sich bedankt: „Der Kritiker hat mit viel Herzblut geschrieben.“ Die Plattenfirma hat meine Kritik aufs nächste Plattencover gesetzt.

Die Macht des Lokaljournalisten erlebte Ude bei den großen Studenten-Demonstrationen 1968, bei denen die Schätzungen der Teilnehmer zwischen Polizei und Zeitung immer stark differierten – bis eines Tages der Polizeichef auf Ude zukam und ihn fragte: „Wären Sie mir 3000 einverstanden?“

Der Lokaljournalismus ist für Ude kein Sprungbrett nach oben, er ist schlicht der folgenreichste Journalismus, der Ernstfall, wo es auf jedes Wort ankommt. „Nirgendwo ist die publizistische Wirkung so erfolgreich.“

Ude plädierte für Seriosität und Hintergründigkeit gerade im Lokaljournalismus: „Ich wundere mich, wie viele Journalisten sich auf den Wettlauf um Aktualität einlassen, statt auf Qualität und Ausführlichkeit zu setzen. Der recherchierende Journalist wird immer wichtiger – und deswegen sage ich es auch in Anwesenheit der Geschäftsführung.“

(zu: Handbuch-Kapitel 48-49 Presserecht und Ethik + 55 Der neue Lokaljournalismus + 3 Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht)

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