Die Eisbar-Knut-Affäre: Müssen Journalisten eine Sperrfrist befolgen?
Verstößt eine Redaktion, wenn sie die Sperrfrist nicht beachtet, gegen die „journalistische Sorgfalt“? Diesen Vorwurf erheben renommierte Wissenschaftler des „Forschungverbunds Berlin“ gegen die Berliner Zeitung und den Berliner Kurier und beschweren sich beim Presserat.
Worum geht’s? Am Montag, 24. August 2015, erzählten Wissenschaftler aus Berlin, woran Eisbär Knut gestorben sei; sie gaben vorab Informationen weiter unter der Bedingung, bis zur Pressekonferenz drei Tage später nichts zu veröffentlichen. Die beiden Berliner Zeitungen berichteten allerdings schon am Montag auf ihren Internet-Seiten und am Tag darauf in der Zeitung.
Die Wissenschaftler sehen darin einen Bruch „international gültiger Regeln in der Wissenschaftskommunikation“ und „publizistischer Grundregeln“. Die Zeitungsredakteure erhielten Hausverbot, durften an der Knut-Pressekonferenz nicht teilnehmen und bekommen ein halbes Jahr lang keine Informationen mehr. Chronologie der Ereignisse aus Sicht der Wissenschaftler hier. Wissenschaftsorganisationen wie die Präsidenten der Leibniz- und Helmholtz-Gemeinschaft protestierten bei Aufsichtsrat und Vorstand der „DuMont-Schauberg“-Mediengruppe:
Wir sind bestürzt über das Verhalten zweier Zeitungen aus der Mediengruppe M. DuMont Schauberg, die durch Alfred Neven DuMont zu großem Ansehen gelangt ist und sich für uns stets durch seriösen und qualitätsvollen Journalismus ausgezeichnet hat. Da zum Zeitpunkt des Embargobruchs das o.g. wissenschaftliche Manuskript noch nicht veröffentlicht war, bestand für unsere Wissenschaftler die akute Gefahr, dass das Manuskript von der Nature Publishing Group als bereits veröffentlicht zurückgewiesen wird. Die jahrelange Forschung unserer international renommierten Arbeitsgruppen wäre damit entwertet worden.
„Fehler machen wir alle mal, man kann sie aber korrigieren“, so bewerten die Forscher den kurzfristigen Bruch der Sperrfrist durch den Fernsehsender rbb und Focus Online, die ihre Berichte aus der Mediathek und Internet wieder löschten – Focus mit der redaktionellen Bemerkung:
Ein anderes Medium hat die Sperrfrist für die Berichterstattung gebrochen. FOCUS Online wird sich daran halten und veröffentlicht am 27. August zum offiziellen Ende des Embargos ausführliche Informationen zu Knuts Todesursache.
Der Begriff „Embargo“ für Sperrfrist, den die Wissenschaftler hier nutzen, ist in der Schweiz gebräuchlicher, in Deutschland weitgehend unbekannt.
Der Presserat sieht den Bruch der Sperrfrist offenbar als ethisch irrelevant an und strich die Richtlinie 2.5 im Jahr 2007; offenbar berufen sich die Wissenschaftler deshalb bei der Beschwerde auf die Sorgfalts-Pflicht – und da bin ich schon gespannt, wie der Presserat das löst, denn mit Sorgfalt hat der Bruch überhaupt nichts zu tun, die Fakten stimmten ja.
Sie alte Sperrfrist-Richtlinie des Presserats lautete:
Sperrfristen, bis zu deren Ablauf die Veröffentlichung bestimmter Nachrichten aufgeschoben werden soll, sind nur dann vertretbar, wenn sie einer sachgemäßen und sorgfältigen Berichterstattung dienen. Sie unterliegen grundsätzlich der freien Vereinbarung zwischen Informanten und Medien. Sperrfristen sind nur dann einzuhalten, wenn es dafür einen sachlich gerechtfertigten Grund gibt, wie zum Beispiel beim Text einer noch nicht gehaltenen Rede, beim vorzeitig ausgegebenen Geschäftsbericht einer Firma oder bei Informationen über ein noch nicht eingetretenes Ereignis (Versammlungen, Beschlüsse, Ehrungen u.a.). Werbezwecke sind kein sachlicher Grund für Sperrfristen.
Es ist eine Frage des Vertrauens. So schreibt die Leibniz-Gemeinschaft auch, sie sende vorab Studien an Journalisten, „damit diese sich in der Planung ihrer Berichterstattung darauf einstellen und Artikel recherchieren und vorbereiten können“. Sperrfrist gilt also als ein Service – auf Vertrauen.
Und wie reagieren die Redaktionen? Ein „DuMont“-Sprecher schiebt – laut Bülent Ürük im Kress Report – die Schuld auf die Lokalredaktion, die mit gängigen Regeln nicht vertraut sei, und die Wissenschaftler selber, weil die nicht nur Wissenschafts-Redakteure eingeladen habe. Im Hausverbot sieht der Unternehmenssprecher einen Angriff auf die Grundsätze der Pressefreiheit.
Brigitte Fehrle, Chefredakteurin der Berliner Zeitung, verwies laut Kress Report auf den harten Wettbewerb im Berliner Zeitungsmarkt.
Wie gehen andere Länder mit der Sperrfrist um? Während sich englische und amerikanische Zeitungen etwa über die Autorisierung von Interviews in Deutschland wundern, achten sie strikt auf die Einhaltung von gemeinsam vereinbarten Sperrfristen. Der spektakulärste Fall einer Sanktion ereignete sich am Ende des Zweiten Weltkriegs und zerstörte eine US-Reporter-Karriere:
Edward Kennedy, der Leiter des Pariser AP-Büros, berichtete am 7. Mai 1945 von der Kapitulation Deutschlands, so dass die New York Times titeln konnte: „The war in Europa is endet!“ Allerdings hatte Präsident Truman eine Sperrfrist verhängt – offenbar mit Rücksicht auf Stalin, der die Kapitulation in Berlin als seine Leistung herausstellen wollte. Zudem hatte General Dwight D. Eisenhower auf die dienende Rolle der Journalisten verwiesen: Ihr seid „auxiliary staff officers“!, also Hilfsarbeiter, um den Krieg zu gewinnen durch „objektive“ Berichterstattung. Die Amerikaner haben immer schon gerne die Journalisten in ihre Interessen eingebettet.
Die AP feuerte Edward Kennedy, der den Rest seines Reporter-Lebens verbittert in einer Lokalzeitung zubringen musste – nicht ohne 1948 dem Atlantic Magazin zu sagen: „Ich würde es wieder tun.“
Erst 2012 entschuldigte sich der AP-Präsident Tom Curley in einem Vorwort zu den Memoiren Ed Kennedys, die seine Tochter Julia nach seinem Tod herausgegeben hatte: „Ed Kennedy’s War: V-E Day, Censorship, and the Associated Press“.
„Es war ein schrecklicher Tag für die AP“, sagte Curley in einem Interview, „wir haben es in der schlechtest möglichen Weise gemacht. Kennedy hat alles richtig gemacht: Er war wirklich ein Held.“
Ethik nach dem Absturz (4): Es gibt respektable Gründe, den Namen des Kopiloten zu nennen
„Absurd“ nennt FAZ-Onlinechef Mathias Müller von Blumencron die Diskussion über die Namens-Nennung des Kopiloten des German-Wings-Flugs 4U9525. „Die ganze Diskussion darüber ist merkwürdig und wird außer in Deutschland auch nirgendwo geführt“, sagt er in einem W&V-Interview.
Absurd war die Diskussion, weil viele Medien wortreich begründeten, warum der Name genannt oder eben nicht genannt wurde. War dies quasi das Gegenstück zum Eskalationsjournalismus? Statt lautstarker Versuche, mit mehr oder weniger wichtigen Informationen große Resonanz zu erzeugen, die anbiedernde, fast peinliche Erklärung, warum man etwas so oder so sieht?
Auf die Frage von Volker Schütz: „Gehört zu dem von Ihnen beschworenen Qualitätsjournalismus auch die volle Namensnennung?“ antwortet Blumencron:
Selbstverständlich. Der Mann hat 149 Menschen in den Tod gerissen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer dieser Mann war. Denn nur seine Biografie kann uns helfen, diesen Irrsinn zu verstehen. Und dabei helfen, dass wir die Mechanismen verbessern, um eine Wiederholung zu verhindern.
Blumencron geht auf den Vorwurf ein, Medien bauschen auf, suhlen sich in der Sensation, eskalieren:
Bei der Berichterstattung über dieses Ereignis gab es nichts zum Eskalieren. Diese Tat selbst ist eine der größten vorstellbaren Eskalationen. Selbst wenn ich mich dem Ereignis ganz nüchtern nähere, und nichts anderes ist angemessen, entfalten die Berichte eine ungeheuerliche Wucht. Und das ist für viele Leser verstörend: Die Wirklichkeit ist kaum auszuhalten.
Aber wie sollen wir umgehen mit den Lesern, die sich einmischen in unsere Debatten, die Medien beobachten wie nie zuvor, die kritisieren und verstören:
Das bedeutet: Journalisten müssen manchmal erklären, warum sie wie berichten. Das ist gut so, das ist nicht anbiedernd. Man darf allerdings keinesfalls das Gefühl erzeugen, permanent über sich selbst zu philosophieren. Unser Geschäft ist die Aufklärung über den Gang der Welt, nicht über den Gang einer Redaktion.
(W&V 16.4.)
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Das Dart-Center: Wachsendes Bewusstsein für Ethik
Es lohnt für uns Journalisten ein Blick ins „Dart-Center“, in dem sich Psychologen und Journalisten um traumatische Erfahrungen kümmern: Wie gehen Journalisten mit traumatisierten Menschen nach einer Katastrophe um? Wie erkennen sie Traumata? Wie gehen Journalisten mit ihren eigenen Traumata um?
Auf ihrer Homepage stellen die Dart-Center-Experten das neue Phänomen fest:
Die Berichterstattung der Tage direkt nach dem Unglück zeichnet sich auch dadurch aus, dass Medienkritiker fast zeitgleich mit der akuten Berichterstattung schon zu Achtsamkeit und zum differenzierten Umgang mit den Informationen und Angehörigen mahnten. In den sozialen Medien wurde der Absturz selbst fast genauso leidenschaftlich besprochen, wie die Berichterstattung über den selben.
Das „Dart Center für Journalismus und Trauma“ kommt zu dem Ergebnis: „Der Germanwings-Absturz war nicht unbedingt “ein Absturz des Journalismus” war, sondern auch ein Zeichen für ein wachsendes Bewusstsein für Ethik in der Berichterstattung.“
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Hatte der Co-Pilot gute Absichten?
Ein ungewöhnliches Argument finde ich in einem Kommentare auf persoenlich.com: War der Copilot „vielleicht war er sogar in der Meinung ,gut‘ zu handeln?“ Deshalb könne man den Co-Piloten ein Opfer nennen.
Ein Kommentator entgegnete: „‚Gut‘ zu handeln“ – wie krank ist das? Damit kann man alles entschuldigen. Hitler war dieser Meinung, Stalin, Breivik. Alle meinten es nur gut.“
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Beim 11. September nannten wir die Namen der (muslimischen) Attentäter
Warum haben wir bei dem Absturz ein Problem, den Namen zu nennen? fragt Wolfgang Kretschmer auf Facebook:
Erinnert sich noch jemand an die Terroranschläge auf das World Trade Center? Damals hatte niemand in keiner Redaktion ein Problem damit, die bald darauf bekannten Klarnamen der Attentäter abzudrucken, deren Hauptakteure Studierende in Deutschland waren.
Warum handeln wir bei vergleichbaren Katastrophen unterschiedlich?
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BILD und der Absturz
Zum Abschluß sei Bild-Chefredakteur Kai Dieckmann zitiert, der mit Julian Reichelt die Berichterstattung von Bild rechtfertigt, sie „für völlig selbstverständlich und absolut zwingend hält“. Auch wenn wir anderer Meinung sind als Dieckmann, finde ich es respektabel, dass sich Dieckmann äußert und seine Gründe ausführlich darlegt. Man muss schon sehr überzeugt von der eigenen Rechtschaffenheit sein, um sie nicht wahrnehmen und diskutieren zu wollen:
Argument 1: Es war ein Ritualmord von historischem Ausmaß
Nach Erkenntnissen der ermittelnden Staatsanwaltschaft hat Andreas Lubitz „die Zerstörung des Flugzeugs bewusst eingeleitet“ und somit 149 mit in den Tod gerissen – ermordet. Er hat selbst gewählt, ein Verbrechen von historischen Ausmaßen zu begehen. Er ist ein Amokläufer, der mehr Menschen auf dem Gewissen hat als jeder Einzeltäter der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Seine Waffe war keine Pistole, kein Gewehr, sondern – wie bei den Terroristen des 11. September – ein Passagierflugzeug. Er hat seinen Opfern nicht mal die „Gnade“ eines schnellen Todes gewährt, sondern sie qualvollen acht Minuten Sinkflug in den Tod ausgesetzt. Wenn man versucht zu erahnen, was diese acht Minuten für die Menschen an Bord bedeutet haben müssen, kann man das durchaus als grausam, als Folter, als Ritualmord bezeichnen.
Argument 2: Der größte Verbrecher des Jahrhunderts
Wir haben es mit einem Mann aus der Mitte unserer Gesellschaft zu tun, der als Figur des Grauens, als bisher größter deutscher Verbrecher des (jungen) 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird. Die Aufgabe von Journalismus ist es, Geschichte zu erkennen, zu dokumentieren, zu erzählen, während sie entsteht. Das ist zwar deutlich schwieriger als der Rückblick, wenn alle historischen Fakten bekannt sind, aber es ist der Kern unseres Berufs.
Argument 3: Menschen, auch Amokläufer , haben Namen und machen Geschichte
Wir halten es für legitim, die Hauptbeteiligten von historischen Ereignissen beim Namen zu nennen. Der Amokläufer von Erfurt hieß Robert Steinhäuser, der Amokläufer von Winnenden hieß Tim Kretschmer. Die Geiselgangster von Gladbeck hießen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski. Geschichte wird von Menschen gemacht. Menschen haben Namen. Namen sind Geschichte.
Argument 4: Personen der Zeitgeschichte haben ein Gesicht
Wir glauben auch, dass es richtig ist, den Täter Andreas Lubitz zu zeigen. Als Person der Zeitgeschichte muss er – auch im Tod – hinnehmen, dass er mit seiner vollen Identität, seinem Namen und auch seinem Gesicht für seine Tat steht.
Wir machen Andreas Baader, Mohammed Atta und Anders Behring Breivik nicht unkenntlich. Und genau so wenig tun wir es mit Andreas Lubitz, dessen Name der französische Staatsanwalt in einer dramatischen und historischen Pressekonferenz vor der Weltpresse buchstabierte.
Argument 5: Psychische Krankheit macht einen nicht weniger historisch
Natürlich war Andreas Lubitz psychisch krank. Wer nicht psychisch krank ist, entschließt sich nicht zu einer solchen Tat, aber das macht Andreas Lubitz nicht weniger historisch.
Argument 6: Fast alle großen Medien nennen den Namen
Der überwältigende Anteil traditioneller Medien auf der ganzen Welt hat dieselbe Entscheidung getroffen wie wir. Darunter ausnahmslos alle Medien, die den journalistisch-ethischen Standard unseres Berufes seit Jahrzehnten prägen: Der Guardian, die BBC, die New York Times, die Washington Post, CNN, die Nachrichtenagentur Reuters, das Wall Street Journal, der Stern in Deutschland. Wir sagen damit nicht, dass wir so handeln, weil andere so handeln. Wir kommen nach langen inner-redaktionellen Debatten nur zu derselben Entscheidung wie unsere Kollegen weltweit.
Argument 7: Social Media nennt millionenfach den Namen
Sowieso ist es abwegig zu glauben, dass die traditionellen Medien in Zeiten von Social Media Informationen kontrollieren, zurückhalten könnten. Der vollständige Name Andreas Lubitz wurde seit gestern über 120.000 Mal getwittert und ist ein weltweiter Trend. Auf Google gab es gestern allein in Deutschland eine Million Suchanfragen zu „Andreas Lubitz“. Die Vorstellung, wir könnten auch nur ansatzweise Einfluss darauf nehmen, ob der Täter idenifizierbar ist oder nicht, ist schlicht absurd.
Resumee: Es war richtig, den Namen zu nennen
Nach unserem journalistischen Selbstverständnis kann es nur eine Antwort auf die Frage geben, ob Menschen, die historisch Großes leisten und historisch Schreckliches anrichten, mit ihrer vollen Identität dafür stehen und einstehen sollten: Ja.
Pulitzer 2015: Die beste US-Zeitung ist eine lokale!
Auch wenn es sich in Deutschland noch nicht herumgesprochen hat: Die meiste Kraft und die größte Leidenschaft finden wir in Lokalredaktionen. In den USA hat eine Lokalzeitung aus dem Süden den begehrtesten Journalistenpreis gewonnen, den Pulitzer-Preis. The Post and Courier aus Charleston in South Carolina, einem Staat mit gerade mal doppelt so vielen Einwohnern wie in Thüringen.
Der Redaktion war aufgefallen, dass in zehn Jahren dreihundert Totenscheine für Frauen als Unfall, Selbstmord oder natürlicher Tod ausgestellt waren. Die Vermutung der Redaktion ging in eine andere Richtung: Sehr oft häusliche Gewalt, von Behörden vertuscht. So entstand der Beitrag „Bis dass der Tod uns scheidet“ und eine heftige, auch politische Debatte über den Tag hinaus.
Selbst die New York Times, die die meisten Pulitzer abräumte, erwähnt zuerst das Südstaaten-Lokalblatt, das eine Auflage von 85.000 hat, und dann erst die drei Preise der eigenen Zeitung. Auch andere Lokalblätter gehören zu den 14 Preisträgern wie The Buffalo News mit herausragenden Karikaturen oder St. Louis Post mit Fotos von Verzweiflung und Wut nach den Todesschüssen eines Polizisten auf einen schwarzen Jugendlichen..
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Quelle: dpa-AFX, 21. April 2015
Interview-Eklat (2) – Spiegel-Reporter erzählt vom Wulff-Gespräch: Es hat einige Male vor dem Abbruch gestanden
„Ich war eine Provokation“ steht auf dem Titel des neuen Spiegel, das auf einem Gespräch mit Ex-Bundespräsident Christian Wulff basiert, dessen Autorisierung lange fraglich war. So erzählt Spiegel-Reporter Peter Müller in einem Video auf Spiegel-Online. Wird es üblich, dass ein Interview, vor allem ein hart geführtes, begleitet wird von einem „Making of“? Also einem Bericht des Redakteurs, wie schwierig die Autorisierung war? Diese Berichte, einseitig von Natur aus, werden ja nicht autorisiert.
Gerade hat Markus Wiegand im Wirtschaftsjournalist erzählt, wie schwierig die Autorisierung eines Weimer-Interviews war (siehe dazu den Blog „Elite der Journalisten sind Weicheier“).
Offenbar missfällt immer mehr Reportern die deutsche Eigenart, Interviews autorisieren zu lassen. Sie beneiden ihre amerikanischen und britischen Kollegen, die – wie die New York Times – prinzipiell nicht autorisieren lassen. Doch hat der deutsche Sonderweg einen großen Vorteil: Politiker und andere Funktionäre sprechen frei und üben nicht vorher Phrasen und Textbausteine wie bei den unsäglichen TV-Erklärungen.
Vor wenigen Tagen erzählte Katrin Göring-Eckardt bei einem Redaktionsbesuch in Erfurt: Sie habe sich vor dem Interview mit einem angelsächsischen Journalisten gut vorbereitet und alle möglichen Sätze im Kopf bereitgelegt. Allerdings habe der Journalist von sich aus einer Autorisierung zugestimmt: „Ich weiß, dass Sie hier andere Sitten haben.“
Im Wulff-Interview, an dem auch Chefredakteur Büchner teilnahm (als einziger auf dem Foto grimmig schauend), beklagt Wulff verschiedene Spiegel-Titel, die Verrohung des Diskurses, Häme, Diffamierung und Denunziationen. Er verlangt härtere Regeln und Strafen des Presserats.
Kai Diekmann, Bild-Chefredakteur, weiß noch mehr. Er twittert:
Warum hat es so lange gedauert, das Interview mit Wulff zu veröffentlichen? Ist doch schon vor über 5 Wochen geführt worden…
Studie: Wer sich redaktionellen Inhalt bezahlen lässt, gefährdet seine Glaubwürdigkeit
Wer in einem Artikel redaktionellen und werblichen Stoff vermischt, verwirrt seine Leser zumindest auf Internet-Seiten. Das ist das Ergebnis einer US-Studie, für die 542 US-Internet-Nutzer zwischen 18 und 65 Jahren dreizehn Fragen beantworten mussten.
Das sind die Ergebnisse der Content Strategy-Studie:
1. Die eine Hälfte weiß nicht, was „sponsored content“ bedeutet. Die andere Hälfte meint: Werbekunden bezahlen für den Artikel oder das Video oder nehmen zumindest Einfluss.
2. Zwei Drittel fühlt sich betrogen, wenn ein redaktioneller Artikel gesponsert wird.
3. Gut die Hälfte vertraut nicht dem Inhalt eines gesponserten Artikels.
4. Knapp zwei Drittel meint, eine Nachrichtenseite mit gesponsertem Inhalt verliert insgesamt ihre Glaubwürdigkeit.
5. Je höher das Bildungsniveau, desto misstrauischer sind die Leser. Über fünfzig Prozent der High-School-Absolventen klicken auf einen gesponserten Artikel, aber nur 20 Prozenz mit Universitäts-Examen. Das könnte zumindest Zeitungen wie New York Times oder Wall Street Journal zu denken geben.
6. Wenn Werbung sein muss, dann lieber Werbebanner, das sagen 57 Prozent.
Dabei sind „Native Ads“ ein Milliardengeschäft in den USA mit stetig steigender Tendenz. „Content Strategy“ meint denn auch abschließend zu der Studie: Gesponserter Inhalt liegt nicht wie ein toter Fisch im Wasser. Es ist vielmehr Zeit, es richtig zu machen.
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Quellen: Content Strategy und „mmedia.de“ vom 14. Juli 2014
Der Fall Mollath: Stilisierung eines Opfers statt sorgfältiger Recherche
So gut kann Lokaljournalismus sein: Die Redaktion des Nordbayerischen Kurier schwimmt gegen den Strom im „Fall Mollath“ und macht das, was guten Journalismus ausmacht: Sie geht zurück zu den Quellen – und stellt Fragen, die sich andere nicht stellen. Zu lesen sind sie in einer Online-Dokumentation des Kuriers „Der Fall Mollath“, erstellt nach dem Vorbild des „Snowfalls“-Features der New York Times (ein umfangreiches, gut gegliedertes Dossier mit Text, Video, Podcast und Foto).
Der Kurier erzählt die Geschichte einer Ehe, an deren Ende man oft nicht entscheiden kann: Wer hat Recht? Wer hat Schuld? Sicher ist nur: Die Frau erscheint in den meisten Medien als die Eiskalte, die Böse – dabei hat keiner mit ihr gesprochen. Sicher ist auch: Sie erzählt eine völlig andere Geschichte. Das beweist nicht, dass sie Recht hat; aber es beweist: Die Geschichte des Mannes ist nur ein Teil der Geschichte – und bringt den Opfer-Kult ins Wanken.
Der Kurier fragt auch: Warum hat der Mann die Deutungshoheit? Warum ist er unzweideutig das Opfer, zudem ein Opfer staatlicher Willkür? Was spricht dagegen:
> Sechs Gutachter aus verschiedenen Städten;
> Mollaths eigene schriftliche Äußerung von 2006 „Ich leide an einer schweren psychischen Krankheit“;
> die Weigerung Mollaths, mit seinem Pflichtverteidiger und dem vom Gericht bestellten Psychiater zu sprechen;
> die Anklage, er sei gemeingefährlich, weil er Freunden seiner Frau Reifen so zerstochen habe, dass sie erst während der Fahrt die Luft verlieren.
Das beweist nichts, aber lässt Raum für Zweifel an der Opfer-Rolle.
Was fehlt im Dossier des Kurier: Warum stilisieren fast alle Medien den Gustl Mollath als Opfer, die Frau und den Staat als die Bösen? Warum sind selbst investigative Journalisten so unkritisch – und stellen nicht die Fragen, die ein gut recherchierenden Journalist stellen muss?
Das medienkritische Kapitel sollte der Kurier unbedingt noch anfügen.
FACEBOOK:
Joachim Braun, 6. Juli 2014
Lieber Paul-Josef Raue,
der Hinweis auf die fehlende kritische Auseinandersetzung mit der Medienberichterstattung ist richtig. Das war aber nicht die Aufgabe der Kollegen.
Ich hatte mir das Thema Rudeljournalismus und einseitige Recherche im Fall Mollath selber vor einem Jahr mal angetan – wohl wissend um die Reaktionen: Nestbeschmutzer! Wichtigtuer! Wie kann man nur so negativ über die hochangesehene Süddeutsche Zeitung schreiben? Was bilden die in Bayreuth sich da ein?
Trotzdem würde ich es jederzeit wieder so machen: http://ankommen.nordbayerischer-kurier.de/2013/06/24/wie-die-mainstream-medien-im-fall-mollath-manipulieren/
Antwort Paul-Josef Raue, 6. Juli 2014
Lieber Joachim, auch wenn Du über den Rudeljournalismus schon mal geschrieben hast, so gehört das Thema in Euren Snowfall hinein. Das ist ja die Idee des Snowfall: Nicht nur alle Medienformen, sondern auch der komplette Inhalt. Gerade weil der Kurier so eindrucksvoll die Recherche-Fragen stellt, gehört als Abschluss dazu: Warum haben nicht alle die Fragen gestellt, auch die Hochangesehenen? Und die Reaktionen passen doch gut dazu: Nur Mut!
Schirrmachers letzter Tweet – @fr_schirrmacher
Früher sammelte die Welt letzte Worte, heute kann jeder nachschauen – und den letzten Tweet entdecken. Das war der letzte von „frankschirrmacher“, wenige Minuten vor Mitternacht in der Nacht seines plötzlichen Todes:
11.06.14 23:49
Bilanz des Krieges gegen den Terror: Der Irak fällt in die Hände von Leuten, die selbst AlKaida zu extrem sind. theguardian.com/world/2014/jun…
Der englische „Guardian“ war wohl die letzte Lektüre des großen Journalisten aus Frankfurt:
world news
Who are Isis? A terror group too extreme even for al-Qaida
The Islamic State of Iraq in Syria has a reputation for being even more brutal than the main jihadi group of inspiration
Die letzte Magazin-Lektüre galt Wired, dem Kult-Magazin des Silikon Valley: „Googles allsehender Satellit mit großem Potential fürs Gute und Böse“. Da las er die Frage, die auch seine Frage war: „Was bedeutet das Recht auf Vergessen, wenn Google dich überall sehen kann?“
Der FAZ-Herausgeber Schirrmacher twitterte viel, in der Regel knapp ein halbes Dutzend am Tag. Er las regelmäßig Heise-Online, Golem.de, die New York Times, den Spiegel, den Economist, die Süddeutsche und seine eigene Zeitung. Er las Olaf Scholz, Peter Sloterdijk, Sascha Lobo und Jürgen Habermas. Und manchmal beschäftigte er sich neben Richard Strauß und krautreporter , neben Al Gore und Snowden auch mit Nachrichten, die eigentlich keine waren für einen Intellektuellen wie ihn:
@fr_schirrmacher: Aha, die Tagesschau verspricht, dass der gestern ausgefallene Wetterbericht heute nachgeholt wird.
Er war, tröstlich, auch ein ganz normaler Mensch. Dennoch wird es mindestens eine Dissertation geben, die in seinem Tweet-Vermächtnis Schirrmachers Schlüssel zur Welt suchen wird.
„Mehr Licht“ sollen Goethes letzte Worte in Erwartung des Todes gewesen sein. Der „Krieg gegen den Terror“ war in der Tat Schirrmachers letzter Tweet. Ein Zufall vor einem plötzlichen Tod? ein Vermächtnis? Nein, doch eher ein Zufall.
Was wären Zeitungen ohne den Verrat? (Zitat der Woche)
Ohne Verrat, ohne zum Verrat bereite Zeitungen taugt die beste Regierung nichts.
Willi Winkler in der SZ vom 31. Mai zu einem Kommentar der New York Times (Online): Michael Kinsley, „Die globale Überwachung“ von Glenn Greenwald besprechend, hatte sich gegen Snowden positioniert und der Regierung allein die Entscheidung zugewiesen, Geheimnisse bekannt zu machen. Das sei nicht Aufgabe und Recht der Presse. Kinsleys Begründung: Niemand hat die New York Times gewählt.
Margaret Sullivan ist Public Editor des NYT, eine Art Ombudsfrau („Mittler zwischen Zeitung und ihren Lesern“): Sie tadelte die Redaktion wegen der einseitigen Rezension des Buchs.
Lass ich mein Interview autorisieren? Ja, es wird besser
Wir lassen keine Zitate mehr autorisieren!, verkündet Jill Abramson, die Chefredakteurin der New York Times. Ist das klug? Gar ein Vorbild für deutsche Zeitungen?
Nein, und es ist in der Regel eine Frage des Respekts und eine Frage der Qualität. Wenn ich meinem Gast anbiete, er könne Interview oder Zitat gegenlesen, dann sind die Chancen größer als das Risiko. Ich schenke meinem Gast Vertrauen und hoffe auf sein Vertrauen. Er erzählt mehr als einer, der um jeden Satz fürchten muss; er vergisst in vielen Fällen das Diktiergerät und ignoriert meinen Block.
Wenn ich jemanden aufs Glatteis führen will, dann muss er schon reichlich dumm oder verwegen sein – oder er wird übervorsichtig. Die Chance, so jemanden zu überlisten, liegt unter einem Prozent.
Die Qualität eines Interviews liegt nicht in der Enthüllung und dem Jubelschrei: Ich habe ihn überführt! Die Qualität eines Interviews liegt in der schönen Formulierung, in der feinen Entwicklung eines roten Fadens, in der Erklärung einer komplizierten Sache, in der Zeichnung einer Persönlichkeit, im zugespitzten Disput (wobei ein cleverer Gast scharfe, aber respektvolle Fragen schätzt, weil sie ihm die Chance zu einer klaren, aber auch scharfen Replik öffnet).
Das Lesen eines guten Interviews macht Spaß und bringt Gewinn. Nach einem guten Interview versteht der Leser entweder eine Sache oder einen Menschen besser.
Das geht aber meist nur, wenn ich selber nach einem guten, oft auch langen Gespräch zum Nutzen meiner Leser manipulieren darf; wenn ich das Wichtigste oder Unterhaltsamste an den Anfang stelle, obwohl es erst am Ende des Gesprächs gefallen ist; wenn ich alles kürze, oft das meiste, weil es wenig interessant ist; wenn ich zuspitzen und meine Fragen neu formulieren will.
Ich mache meinen Gast stark, und ich mache mich stark. So ist es nur fair, wenn ich meine Manipulationen dem Gast zur Kontrolle gebe mit dem Recht auf Änderung. Ich kämpfe um jeden Satz, wenn mir seine Änderungen nicht gefallen, weil sie den Charakter des Gesprächs fälschen. Am Ende des Kampfs – und ein Interview ist ein Kampf – entscheide ich, ob ich die Änderungen akzeptiere oder nicht.
Das Handelsblatt hatte nach einem Interview mit einem Banker den Kampf aufgegeben, aber nicht komplett: Es veröffentlichte nur die Fragen. Das war aber mehr journalistischer Hochmut als Aufklärung. Der Banker musste ja nicht antworten, und wahrscheinlich war er sich schon der Brisanz seiner Antworten bewusst und hatte Furcht vor den Folgen.
Bei einem Politiker wäre die Verweigerung ehrlicher Antworten allerdings von Bedeutung: Er hat dem Volk, das er vertritt, Rechenschaft zu geben, er hat zu erklären, und zwar verständlich und ohne Ausweich-Manöver. Ihn entlarvte die Liste der Fragen – ohne Antworten.
Ein weiterer Grund, ein Interview oder Zitat autorisieren zu lassen: Ich stelle sicher, dass es stimmt – gerade nach Gesprächen mit Wissenschaftlern oder Spezialisten, die Kompliziertes zu erklären haben. Der Redakteur liegt schnell daneben, wenn er verständlich sein will, wenn er Schweres einfach macht. Sicher werden Gespräche mit Wissenschaftlern oder Chefärzten nicht leicht, wenn sie ihre Fachausdrücke retten wollen und ihren guten Ruf bei den Kollegen; aber auch da gilt: Kämpfen für den Leser, der ein Recht hat, alles zu verstehen.
In den meisten Regionalzeitungen, erst recht in Lokalredaktionen sind die Fragen nach der Autorisierung eh recht theoretisch: Es gibt nur wenige Interviews und darunter noch zu viele banale – weil die Redakteure den Aufwand scheuen, ihnen die Routine fehlt und ein Training. Wenn sie im Lokalen ein Interview führen, dann oft ein kurzes zur Sache: Wie sind die neuen Öffnungszeiten im Zoo? Wann öffnet das Bürgerbüro auch am Abend? Wie werden die Anliegerbeiträge berechnet?
Meist sind die Antworten so hölzern, dass ein Bericht spannender zu lesen wäre als ein Interview. Zudem entstehen zu viele Interviews am Telefon oder sogar per Email. Beim schriftlichen Interview lade ich den Gast förmlich zum PR-Jargon ein; in der Tat werden viele Antworten in den Presseabteilungen geschrieben und vom Minister oder Bürgermeister noch nicht einmal vor dem Abschicken geprüft.
Es ist immer von Vorteil, wenn ich meinem Gast in die Augen schauen kann, sehe, wie sein Körper spricht – aber er auch mich beobachten kann.
Henning Noske, der Braunschweiger Lokalchef der Braunschweiger Zeitung, hat aus der Not des Lokalredakteurs eine Tugend gemacht: Das 5-Minuten-Gespräch, das auch im Blatt so genannt wird. Er sucht sich einen Gast aus, der etwas zu sagen hat oder prominent genug ist, er überlegt sich genau seine Fragen, hakt auch nach, sagt zuvor dem Gast, dass es keine Autorisierung geben wird, glättet nur die Ähs und Öhs und offensichtlichen Versprecher – und bekommt ein schnelles und in der Regel gut lesbares Interview.
(zu: Handbuch-Kapitel Das Interview)
Geschichten erzählen! So lernen wir viel besser
Wir lernen ja viel besser durch Geschichten als durch Argumente… Schließlich bin ich Journalist. Das Konkrete liegt mir eher als das Abstrakte.
David Brooks über sein Buch „Das soziale Tier“ in einem Interview der FAS (24. Juni 2012). In dem Buch beschreibt der Redakteur der New-York-Times, was Wissenschaftler über den Menschen herausgefunden haben. Statt Theorien zu erklären erzählt er in dem Buch die Geschichte von Harold und Erica: „Es geht um die Macht und die Wichtigkeit von Emotionen. Man braucht Figuren, in deren Geschichten sich diese Macht widerspiegelt.“
(zu: Handbuch-Kapitel 32-33: Reportage)
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