Noch einmal: „Solidarität mit der Ukraine“
„Solidarität mit der Presse in der Ukraine zeigen, die jeden Tag unter massivem Druck zu leiden hat und oft vollkommen isoliert ist“ – das ist die Begründung, warum die Verleger und Chefredakteure der Welt sich im September in der Ukraine treffen (schon einmal in diesem Blog am 17. Mai). Nach Protesten mit Verweisen auf die Boykott-Drohungen zur Fußball-EM in der Ukraine schreibt Jacob Mathew, der WAN-IFRA-Präsident, einen Brandbrief (in Auszügen):
Mit der Ausrichtung unserer Jahresveranstaltung in der ukrainischen Hauptstadt bieten wir der ukrainischen Presse die Gelegenheit, mit der internationalen Zeitungscommunity ins Gespräch zu kommen, von internationalen Best-Practice-Fallbeispielen zu profitieren und Weiterbildungsmöglichkeiten wahrzunehmen. Überdies versichern wir den Kollegen mit unserer Veranstaltung unsere moralische Unterstützung.
Wie schon bei Wladimir Putin beim Kongress und Editors Forum 2006 in Moskau werden wir die Möglichkeit haben, unser Anliegen direkt an Präsident Viktor Janukowitsch zu richten, der den Kongress und das Forum eröffnen wird.
Wer in Moskau dabei war, wird sich an die Eröffnungsfeier im Kreml sicherlich erinnern. Dies war eine einmalige Gelegenheit, um mit Putin persönlich über die Missstände im Hinblick auf die Pressefreiheit in Russland zu sprechen.Wenn Herausgeber von Zeitungen, Chefredakteure und Journalisten aus der ganzen Welt zu ihrem jährlichen Gipfeltreffen zusammenkommen, dann ist das eine hervorragende Gelegenheit, um die Probleme im Zusammenhang mit der Pressefreiheit in der Ukraine in den Fokus globaler Aufmerksamkeit zu rücken und Druck auf die Verantwortlichen auszuüben.
(zu: Handbuch-Kapitel 5 „Die Internet-Revolution“ (Das Internet wirbelt die Mächtigen durcheinander) und einem ungeschriebenen Kapitel „Journalisten in der unfreien Welt“)
Das öffentliche Urteil: Erst scharf, dann milde
Heute, wo so viel mehr als früher transparent und öffentlich ist, vergisst man schnell; die Gesellschaft der scharfen Verurteilung ist zugleich eine milde Gesellschaft.
Thomas Schmid, Ex-Welt-Chefredakteur, nach einem Gespräch mit Norbert Röttgen, der „so tief gestürzt wie kaum einer zuvor“.
(zu: Handbuch-Kapitel 3 „Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht“)
„Niederlagen stählen nur, wenn es nicht zu viele werden“
Der Satz liest sich wie ein Kommentar zum ewigen Zweiten, zu Bayern München. Er ist aber von Willy Brandt, dem Namensgeber des neuen Berliner Flughafens. Die Berliner Zeitung hatte zu dem Debakel der um Monate verschobenen Eröffnung einige Zitate von Willy Brandt gesammelt:
Willy Brandt erklärt die Welt:
Wer nur vier oder fünf Flaschen Wein im Keller hat, hat relativ wenig, wer aber vier oder fünf Flaschen im Kabinett hat, hat relativ viel.
Niederlagen stählen, aber nur, wenn es nicht zu viele werden.
Man kann nie so kompliziert denken, wie es plötzlich kommt.
Berliner Zeitung, 12. Mai 2012
Kriminelle bedrohen Lokalredaktionen – etwa in Uelzen
In der Lausitz bedrohten Neonazis die Rundschau-Lokalredaktion in Spremberg, um Berichte zu verhindern. Im niedersächsischen Uelzen verfolgten die Familienangehörigen einer fünfköpfigen Jugendbande die Lokalredaktion der „Allgemeinen Zeitung“ – etwa mit der Drohung „Das war dein letzter Artikel“. So sollten Berichte über den Gerichtsprozess verhindert werden.
Der DJV in Niedersachsen verlieh der Uelzener Redaktion „für ihr Standhalten“ den „Preis für journalistische Courage“. Für die Braunschweiger Zeitung führte Cornelia Steiner ein Interview mit Chefredakteur Andreas Becker (BZ 8. Mai 2012):
Herr Becker, wenn von Journalisten-Verfolgung die Rede ist, denkt man an Diktaturen, aber nicht an Uelzen mit seinen 34000 Einwohnern.
Wir Lokaljournalisten sind in Deutschland täglich versuchter Einflussnahme etwa durch politische Entscheidungsträger ausgesetzt. Aber dass Leib und Leben bedroht werden, ist wirklich außergewöhnlich.Was genau ist geschehen?
Die Mitglieder der Douglas-Bande haben versucht, Schutzgelder zu erpressen. Sie haben nachts und am Wochenende randaliert und Passanten in der Innenstadt belästigt. Im vergangenen Jahr kulminierte das mit versuchtem Totschlag und räuberischer Erpressung. Im Verlauf der beiden Prozesse haben Familienangehörige der Angeklagten versucht, auf Zeugen, Polizei und Presse Druck auszuüben.Wie äußerte sich das bei Ihnen?
In der Redaktion sind Drohfaxe und Drohanrufe angekommen. Redakteure wurden vor Gericht demonstrativ fotografiert, sie wurden bis zum Parkplatz des Gerichts verfolgt und verbal attackiert: „Wir wissen, wo du wohnst. Das war dein letzter Artikel. Wir stechen dich ab, du Schwein.“Wie sind Sie und Ihre Kollegen damit umgegangen?
Das war eine große Belastung, aber uns war klar, dass wir keinen Millimeter davon abrücken, unserer Chronistenpflicht nachzukommen und über den Prozess zu berichten. Wir haben Kontakt mit der Polizei aufgenommen, es gab in der Redaktion eine Sicherheitsschulung und wir haben bestimmte Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt: Für unseren Spätdienst haben wir zum Beispiel spezielle Parkplätze nah an der Redaktion eingerichtet, der Weg dorthin wurde beleuchtet.Außerdem wurden die Klingelschilder an den Wohnungen beziehungsweise Häusern der Redakteure abmontiert, weil zu befürchten war, dass sich die Angriffe auf das private Umfeld ausdehnen. Wir haben auch dafür gesorgt, dass die Adressen der Kollegen nicht beim Einwohnermeldeamt in Erfahrung zu bringen waren. Schließlich haben wir die Berichterstattung auf meinen Stellvertreter und mich reduziert.
Die Urteile gegen die Angeklagten sind vor wenigen Tagen gefallen: Sie wurden zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt. Herrscht jetzt Ruhe?
Ja, wir blicken nach vorn. Das Gericht hat versucht, die beiden Prozesse schnell und geräuschlos abzuwickeln, um die Stimmung nicht weiter aufzuheizen. Immerhin lastete ein immenser politischer Druck auf den Verfahren; das Innen- und das Justizministerium waren eingeschaltet. Für die Verurteilten ist der Abschluss der Verfahren eine Chance, die sie nutzen sollten.Das klingt sehr versöhnlich.
Ich denke, es ist für die Familien nicht einfach gewesen. Die meisten Verurteilten sind in Deutschland geboren, stammen aber aus anderen Kulturkreisen: Die Familien kommen zum Beispiel aus dem Kosovo und dem Libanon. Es ist spannend zu hören, aus welchen schwierigen Verhältnissen sie kommen, welchen schweren Weg sie hinter sich haben. Das muss man berücksichtigen.Haben Sie sich mit den Familienangehörigen unterhalten?
Ich habe am Rande der Prozesse mit ihnen gesprochen. Ich will die Taten nicht entschuldigen, aber ich möchte verstehen, warum bestimmte Dinge geschehen. In diesem Fall haben sicher alle Seiten gelernt. Ich hoffe, dass die Stadt Stärke daraus zieht. Denn hier handelt es sich um ein Problem der Integration, das schon seit Jahrzehnten in Uelzen besteht. Jetzt geht es darum, Verständnis für beide Seiten zu wecken und weiterhin sensibel zu berichten.
Stadt muss Geheim-Gutachten an Journalisten geben
Die Stadt Mülheim muss der WAZ-Mediengruppe Einsicht in ein bislang geheim gehaltenes Gutachten zu Millionen-Wetten der kommunalen Stadtspitze mit der West-LB geben. Eine entsprechende Auskunftsklage nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) konnte die WAZ- Mediengruppe vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf durchsetzen.
Das bislang von der Stadtspitze um Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld (SPD) geheim gehaltene Papier enthält Einschätzungen des Mülheimer Rechtsamtes zu einem Millionenverlust-Geschäft der Gemeinde. Im Kern hatte die Stadt mit der damals noch staatlichen WestLB auf steigende und fallende Zinsen gewettet. Die Stadt verlor die Wetten, die WestLB gewann. Die Kommune setzte so alleine in drei Jahren bis 2008 rund 6 Millionen Euro in den Sand.
Das besondere an den schlechten Geschäften: beraten wurde Mülheim ausgerechnet von der WestLB, die gleichzeitig als Wettgegner in den Deals antrat. Gewinnen konnte die Bank nur, wenn die Stadt verlor. Noch immer laufen entsprechende Wetten, immer noch mit Millionen Verlusten.
Die schlechten Geschäfte sind in Mülheim aufgefallen. Das Rechtsamt der Stadt hat schließlich ein Gutachten erstellt, um zu prüfen, ob die Stadt gegen die WestLB, den damals verantwortlichen Kämmerer Gerd Bultmann oder andere leitenden Beamten auf Schadensersatz klagen könnte. Auf Basis des Gutachtens verzichtete die Gemeinde auf rechtliche Schritte und zahlte lieber weiter Geld an die WestLB.
Die WAZ-Mediengruppe wollte nun auf Basis des IFG in dieses Rechtsgutachten schauen, um zu sehen, warum die klamme Stadt nicht um die Millionen kämpft. Dies wurde ihr von der Kommune verweigert.
Das Verwaltungsgericht Düsseldorf entschied nun, dass die Stadt mit ihrer Geheimhaltung das Recht gebrochen hat (AZ: 26K3489/11). Es gebe keinen zulässigen Grund, das Papier vor der Öffentlichkeit zu verstecken, entschied das Gericht. Die Grundlagen für die Weigerung Schadensersatz einzutreiben, müssen offen gelegt werden.
Geklagt hatte Mirco Stodollick, stellvertretender Redaktionsleiter der WAZ Mülheim an der Ruhr. Er wurde vom Justiziar der WAZ-Mediengruppe, dem Bochumer Rechtsanwalt Ralf Geppert vertreten.
Es ist der erste derartige Sieg für die WAZ-Mediengruppe.
(Aus Westen.de / von David Schraven)
(zu: Handbuch-Kapitel 50 „Presserecht“)
Mit Wahlkämpfern unterwegs: Bier auf dem Markt
In 49 Dörfern und kleineren Städten waren die Volontäre der Thüringer Allgemeinen unterwegs, bevor die Wähler am Sonntag ihre Bürgermeister und Landräte bestimmen durften; vor den Stichwahlen in zehn Tagen ist das „TA-Wahl-Mobil“, ein Elektro-Auto, weiter im Einsatz.
Auf den 49 Wahlmobil-Fahrten erlebten die Volontäre allerlei amüsante Geschichten. Tino Nowitzki hat einige aufgeschrieben:
Eigentlich war das Thema eben ernst gemeint. Gerade noch erzählen die Kandidaten von Plänen zur Finanzgesundung und den vielen Visionen, die sie für ihre Stadt haben. Da klirrt es plötzlich hinter ihnen.
„Ich dachte, die Herren hätten vielleicht Durst“, sagt ein fröhlich grinsender Mann, der gerade aus seiner Bar geeilt kommt, und hält ein Tablett mit sechs Gläsern Bier in die Runde. Der eine zögernd, der andere dankbar, setzen die Männer zu einem kräftigen „Prost!“ an. Die seriösen Politikermienen entkrampfen sich im Handumdrehen zu strahlenden Gesichtern.
Freilich war diese Szene vom Wahlmobil in Heiligenstadt ein fröhlich-perlender Einzelfall. Und doch sind uns auf den 49 Fahrten zu Thüringens Marktplätzen und Rathäusern neben wichtigen Themen auch viele Kuriositäten begegnet.
Und Heiligenstadt im Eichsfeld hatte davon sogar gleich zwei zu bieten: In keiner anderen Stadt nimmt man es wohl so genau mit Regeln und Verordnungen. So kommt es, dass wir dort schon mal gefragt wurden: „Haben Sie eigentlich eine Genehmigung für das, was Sie hier machen?“
Aber die Eichsfelder Liebe zur Ordnung hatte auch seine guten Seiten: Die gesamte Zeit über wurde das Treffen mit Heiligenstadts Bürgermeisterkandidaten argwöhnisch von einem Polizeibeamten bewacht. Der wohl sicherste Termin der Serie.
Darfs eine Flagge sein? Oder ein Espresso?
Anderen Orts ging es dagegen vergleichsweise chaotisch zu: In Nordhausen zum Beispiel waren wir zuerst verblüfft von der offenen und geselligen Art der fünf Kandidaten, die sich auch miteinander prächtig zu verstehen schienen. Die Ungezwungenheit ging am Ende aber so weit, dass die Bewerber lieber untereinander klönten und ein Wahlmobilreporter alle Mühe hatte, die Gruppe bei Disziplin zu halten. So schnell lässt sich eine Respektsperson in Uniform vermissen.
Bald wurde uns klar: so bunt Thüringens Landschaften sind, so vielfältig sind auch seine Kommunalpolitiker. Während die einen im Umgang mit Medien eher unsicher wirkten, strotzten andere vor Professionalität: Da kam es schon mal vor, dass ein Kandidat mit eigener Werbe-Flagge um die Ecke bog. Ein anderer verteilte unbefangen Tütchen mit löslichem Espresso – darauf das lächelnde Gesicht des Bewerbers.
Manchmal waren wir aber auch froh, überhaupt zum Termin am Rathaus zu finden. Vor allem dann, wenn die Gemeinde-Zentrale zuvor clever versteckt wurde – zum Beispiel in einem unscheinbar wirkenden Wohnhaus in Fretterode oder in einer alten Dorfschule in Bufleben.
Überhaupt hat uns wirklich überrascht, wie verschieden doch die Arbeitsplätze von Thüringens Bürgermeistern aussehen. Vom fast feudalen Amtssitz aus der Renaissance mit Giebeln und Türmchen (Gotha) bis zum Mietbüro mit Briefkasten im Plattenbau (Seebach) war alles dabei.
Auch mit Bürgern war es nicht nur leicht. Wo sie hinzukamen, stellten sie meist wichtige und erhellende Fragen. Hin und wieder aber mischte sich auch ein Querulant darunter, der Kandidaten und Publikum mit ellenlangen Vorträgen traktierte. Nicht selten, so stellte sich heraus, handelte es sich dabei um einen getarnten Partei-Sympathisanten.
Andere Bürger – meist ältere – fanden die Art und Weise, wie die Treffen stattfanden, so gar nicht vergnüglich: Dem einen war es zu früh oder zu spät, der andere fragte: „Warum haben Sie eigentlich keine Bänke zum Sitzen mitgebracht?“ Anregungen, die wir für die Zukunft aufnehmen werden.
Und da wäre noch das Auto. Dessen offizieller Titel „Wahlmobil“ sorgte beim einen oder anderen Bürgermeisterkandidaten für Verwirrung. „Ist das schon alles?“, hieß es dann. „Ich hatte einen Bus erwartet“.
Enttäuscht war auch so mancher, als wir statt Elektroauto mit einem „herkömmlichen“ Vehikel um die Ecke bogen. Doch der Wechsel war dann und wann nötig, allein um gewisse Strecken überhaupt zu meistern. Zumindest hat uns das gezeigt, welche erstaunliche Fan-Basis unser kleiner Strom-Mitsubishi inzwischen hat.
Als es mit der Stromladung einmal besonders knapp wurde, hieß es gar Zwischenladen mitten im Thüringer Wald, in Ilmenau. Zum Glück gibt es dort seit Kurzem eine Elektrotankstelle der Stadtwerke am Bahnhof.
Doch mal eben so Strom zapfen? Gar nicht so einfach. Für die Nutzung mussten wir uns registrieren, einen Pfand von 20 Euro hinterlegen und bekamen dafür unsere „eMobility-Card“ mit Nummer 01: Die ersten Kunden überhaupt. Dafür konnten wir unser Ladekabel andocken und schafften es zurück zur Erfurter Redaktion.
Trotz aller Widrigkeiten: Genossen haben wir die Tour durch Thüringens wählende Gemeinden allemal. Sie hat uns gezeigt: Hinter den strahlenden Gesichtern auf Wahlplakaten stecken ganz normale Menschen. Menschen, die in den letzten Wochen um jede Stimme gekämpft haben.
Da sei auch ein erfrischendes Pils gegönnt.
/ Thüringer Allgemeine, Freitag, 20. April 2012
(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)
Wie werde ich Bürgermeister? – Wahlen im Lokalen
Am heutigen Sonntag (22. April 2012) wählen Thüringer in den meisten Städten und Landkreisen ihre Bürgermeister und Landräte. Die Thüringer Allgemeine hat über viele Woche ihre Leser neugierig gemacht auf die Wahl, die Kandidaten, die Probleme in ihrer Stadt, die Lösungen, die Möglichkeiten.
Mit dem TA-Mobil, einem reinen Elektro-Auto (mit all seinen Tücken), fuhren die Volontäre jeden Tag in eine der kleineren Städte, um mit den Kandidaten auf der Straße zu sprechen; die Leser waren zu diesen Interviews eingeladen, die Termine angekündigt.
Die Volontäre besuchten 49 Städte und Gemeinden, die sie zumeist zum ersten Mal sahen, sie sprachen mit weit über hundert Kandidaten. In seiner Bilanz erzählt Nicolas Miehlke von den finanziellen Schwierigkeiten von Bürgermeistern und Bürgern, von Fördermitteln und der Neuordnung der Gemeinde-Grenzen, aber er schreibt auch (TA 20.4.2012):
In den kleinen Gemeinden haben wir Menschen getroffen,die sich einfach für ihren Ort engagieren wollen, fernab von Parteimeriten. Leute, die reden, wie es ihnen aus dem Herzen kommt, und sich nicht mit Politikersprech ins Ungefähre retten.
In 16 von 49 Kommunen gab es auch keine Widerrede, weil es nur einen Kandidaten gibt und die Wähler nur Ja oder Nein stimmen können.
Alle Artikel, alle mehrspaltig als Aufmacher, standen im Thüringen-Teil der Thüringer Allgemeinen, hatten also die größtmögliche Leserschaft – selbst wenn es um den Bürgermeister einer Gemeinde mit nur wenigen tausend Einwohnern ging.
Mein Leitartikel in der Ausgabe vor der Wahl (21.4.2012) war auch ungewöhnlich, wandte sich an die Bürger, die laut verkünden, das Vertrauen in die Politiker verloren zu haben.
Wie werde ich Bürgermeister?
Haben Sie auch kein Vertrauen mehr in unsere Politiker? Sind Sie enttäuscht von den Parteien? Klopfen Sie ihrem Nachbarn auf die Schultern, wenn er über den Zustand unseres Landes klagt?
Wenn einer sagt: „Es wird immer schlimmer“, nicken Sie dann und wiederholen: „Ja, immer schlimmer.“ Und wissen Sie auch nicht, wie man das ändern kann?
Warum kandidieren Sie nicht? Als Bürgermeister beispielsweise. In einigen thüringischen Städten gibt es nur einen Kandidaten, so dass die Bürger keine richtige Wahl haben.
Warum sagt keiner von denen, die immer nur klagen: Ja, ich werde Bürgermeister! Ich zeige, wie man es besser macht! Ich beweise, dass die Bürger Vertrauen haben können – in mich beispielsweise!
„Das ist ein Scherz“, sagen Sie. Nein, in kleineren Städten reichen ein paar Tausend Stimmen und ein überzeugender Auftritt – und Sie sind gewählt, sogar ohne einer Partei nahetreten zu müssen.
Für die Wahl am Sonntag kommt eine Kandidatur wohl zu spät, aber Sie können es sich ja überlegen: Schon in zwei Jahren beispielsweise wählen die Thüringer die Gemeinde- und Stadträte.
Wenn Sie gewählt wurden, weil ihnen die Bürger vertrauen, dann klagen Sie vielleicht nicht mehr so laut. Vielleicht sagen sie: „Es geht uns eigentlich recht gut in dieser Demokratie. Sicher, manches könnte besser sein, aber ich kann ich ja dafür kämpfen.
In einer Demokratie darf man stöhnen und verdrossen sein ohne Ende. Aber man darf auch mitmachen, es besser machen. Zumindest sollte man wählen gehen.
Am Sonntag auf jeden Fall.
Online sind alle Artikel und Bilder zu sehen auf:
www.wahlen-in-thueringen.de
Dort stehen heute im Wahl-Ticker auch alle Ergebnisse.
(zu: Handbuch-Kapitel 56 „Service und Aktionen“)
Wie bekommen Abgeordnete Stoff für ihre PR-Meldungen?
Bundesarbeits-Ministerin von der Leyen (CDU) informiert Abgeordnete der Regierungs-Fraktionen exklusiv mit Meldungen über Projekt in ihrem Wahlkreis. Thomas Öchsner berichtet darüber in der Samstagausgabe der Süddeutschen Zeitung (Wirtschaft, Seite 23).
Lokalredaktionen kennen die Mails oder Faxe: Der Abgeordnete teilt mit, dass er sich besonders eingesetzt habe für die Förderung einer Arbeitslosen-Initiative; wie er vertraulich erfahren habe, werde sein Einsatz belohnt und der Bescheid in den nächsten Wochen versandt. Die Redaktionen drucken es ab, meist ohne weiter zu recherchieren – oder geraten in den Zorn des Abgeordneten, wenn sie die Pressemitteilung nicht bringen.
Wie die Informationen in Berlin laufen, ahnen die Redakteure; die SZ zitiert ein internes Schreiben, das zeigt, wie es wirklich läuft:
- Steht eine Förderung kurz vor der Bewilligung, sucht die Fachabteilung heraus, ob das Projekt im Wahlkreis eines CDU-, CSU- oder FDP-Abgeordneten liegt.
- Für die Informationen gibt es zwei Muster-Schreiben.
- Die Fachabteilung informiert den zuständigen parlamentarischen Staatssekretär unmittelbar per Mail, „d.h. nicht auf dem Dienstweg“.
- Der Staatssekretär informiert den Abgeordneten möglichst schnell, damit der Abgeordnete vor der Projekt-Bewilligung Bescheid weiß.
(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“ + 57 „Wie können Zeitungen überleben“)
„Schweinejournalismus“
So nannte Jürgen Trittin den Vorwurf der „taz“ über Joachim Gauck, er habe den Holocaust verharmlost – zu sehen in Maybrit Illners Talkshow am 23. Februar. Das Wort prägte wohl Oskar Lafontaine. 1995 schrieb Hans-Werner Kilz, einst Chefredakteur von „§piegel“ und „Süddeutscher Zeitung, im immer noch empfehlenswerten „Spiegel Spezial“ über Journalisten:
„Lafontaine und andere Mitglieder der saarländischen Landesregierung gerieten in Verdacht, sich zu eng mit Saarbrücker Kiez-Größen eingelassen zu haben. Diesem Umstand verdankt die Öffentlichkeit eine Lafontaine-Wortschöpfung, die das Berufsfeld der Medienschaffenden um eine neue Gattung bereichert – den „Schweinejournalismus“. Falsches stand nicht in den Blättern, nur Unangenehmes.
Doch seitdem denkt der Sozialdemokrat darüber nach, was er als Politiker gegen verwilderte Sitten im Journalismus tun kann, jedenfalls dort, wo er bestimmen kann. Und natürlich ist ihm etwas eingefallen: Das Saarland hat seit einigen Monaten ein neues, schärferes Pressegesetz, von dem der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, sagt, daß damit „an der Freiheit der Presse genagt“ werden soll.
Nun muß nicht alles, was dazu gedacht ist, böse Journalisten zu zügeln, gleich als Attentat auf die Pressefreiheit empfunden werden. Auch Journalisten sündigen. Doch wenn Oskar Lafontaine überlegt, „wie der investigative Journalismus in seine ethischen Schranken zurückverwiesen werden kann“, ist Vorsicht geboten. Da fühlen sich Rechercheure und Autoren bei anderen besser aufgehoben.
Geht es nach dem Saarländer, werden Zeitungen künftig nach politischen Enthüllungen maßlos lange Gegendarstellungen drucken müssen, die sowieso schon ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt abgefaßt werden können. Ein erläuternder Zusatz der Redaktion ist an gleicher Stelle nicht erlaubt.“
Dies saarländische Pressegesetz wurde vom Bundesverfassungsgericht kassiert.
Polemik gegen Gauck im Netz: Tausendfaches Rülpsen
Er hat mich betrogen, brach es aus Marianne heraus, der Ex-Ehefrau eines US-Präsidentschafts-Kandidaten. Im Fernsehen erzählt sie, ihr Ex-Ehemann habe seine Geliebte in ihr gemeinsames Washingtoner Schlafzimmer gelockt, als sie verreist war.
So garstig laufen in den USA die Wahlkämpfe vor einem ebenso neugierigen wie entrüsteten Publikum. Die Wähler sind anders gestimmt als im ruhigen Deutschland: Wer sich im Schlafzimmer daneben benimmt, der kann das Land nicht regieren. Das Privatleben ist der Test für das politische Wirken.
So tief sind wir in Deutschland nicht gesunken, selbst wenn nach den Wulff-Affären viele den Eindruck haben: Das Privatleben der Politiker ist für die großen Medien kein Tabu mehr.
Das frühere Leben der Wulff-Gattin war kein Zeitungs-Thema; zum Thema machte es der Ex-Präsident selber im TV-Interview. Im Internet gab es Zigtausende von Einträgen, in den Tagebüchern der Boshaftigkeit.
Selbst tausendfaches Rülpsen im Internet vergiftet nicht die öffentliche Debatte – wenn es nicht die seriösen Blätter oder TV-Sender aufgreifen. Das Internet ist für sich allein keine öffentliche Macht.
Joachim Gauck war der Liebling im Internet – bis zur Minute seiner Nominierung. Plötzlich wird er in den Online-Tagebüchern zerrupft mit verkürzten Zitaten und tölpelhaften Anwürfen. In 140-Twitter-Zeichen kann man pöbeln, aber eben nicht argumentieren.
(Leitartikel der Thüringer Allgemeine, 23. Februar 2012)
(zu: Handbuch-Kapitel 5 „Die Internet-Revolution“)
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