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Lügenpresse (9) Meine Chronik des Jahres: Wie Regionalzeitungen reagieren

Geschrieben am 31. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue.
Das posteten Leser zum Thema „Lügenpresse“ auf unserer Facebook-Seite.

Thomas Bärsch reagierte mit fünf Punkten in der Zeitung:

1. Unser oberster Anspruch heißt Wahrhaftigkeit

Wer jemanden der Lüge bezichtigt, der beschuldigt ihn, vorsätzlich wahrheitswidrig zu reden oder zu schreiben. Er nimmt zugleich für sich in Anspruch zu wissen, was die Wahrheit ist.Wir Journalisten erheben diesen Anspruch für uns nicht – vor allem aus der Erkenntnis heraus, dass es die eine objektive und unveränderliche Wahrheit oft nicht gibt. Stattdessen haben wir uns die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit zur Aufgabe gemacht.Wahrhaftigkeit heißt, nach der Wahrheit zu streben. Es heißt nicht, in ihrem vollständigen Besitz zu sein oder dies von sich zu behaupten. Wenn wir berichten, dann im Ergebnis von Recherchen, von Informationen aus verschiedenen Quellen und oft auch auf der Grundlage unserer Beobachtungen – zum Beispiel bei Demonstrationen.

2. Wir reklamieren für uns keine Vollständigkeit

Es gehört zur journalistischen Sorgfalt, dass wir unsere Leser erkennen lassen, was recherchierte Fakten, was Aussagen Dritter und was unsere eigenen Beobachtungen sind. Dabei vermeiden wir es, den Eindruck zu erwecken, der von uns gelieferte Bericht, das von uns gezeichnete Bild spiegele die Wirklichkeit bis ins letzte Detail wider. Vielmehr wählen wir oft aus einer Vielzahl von Fakten und Aussagen aus, die es den Lesern ermöglichen, sich ein möglichst ausgewogenes und umfassendes Bild zu machen und eine eigene Meinung zu entwickeln.Wichtig ist dabei für uns vor allem, dass wir keine Fakten weglassen, die entscheidend für das Verständnis eines Sachverhalts sind oder diesen sogar konterkarieren.

3. Weglassen ist keine Fälschung und keine Lüge

Immer wieder sehen wir uns mit dem Vorwurf konfrontiert, wir würden die Wirklichkeit verfälschen, indem wir Fakten oder auch einzelne Meinungsäußerungen nicht veröffentlichen. Dann ist das Wort „Lügenpresse“ schnell gesagt.Tatsache ist, dass wir Fakten und Aussagen nach ihrer Relevanz für die Beurteilung eines Sachverhalts wichten. Darüber, ob unsere jeweilige Entscheidung richtig ist, wird vor allem in der aktuellen Flüchtlingsdebatte oft gestritten – übrigens auch während der Entscheidungsfindung innerhalb der Redaktion.Entscheidend ist für uns, ob Informationen nachprüfbar oder glaubhaft sind. Wenn es etwa  einen Polizeieinsatz in Flüchtlingsheimen gibt, berichten wir darüber.

4. Facebook & Co. sind nicht die Wirklichkeit

Wir berichten nicht über alles, was wir hören oder lesen. Das gilt vor allem dann, wenn es auf Gerüchten beruht, die sich über die sozialen Netzwerke verbreiten. Für uns gilt: dass eine Behauptung oft wiederholt wird, macht sie nicht wahr.Leider beobachten wir eine gewisse Neigung mancher Menschen, Gerüchten und Mutmaßungen zu glauben, dagegen aber von Journalisten recherchierte oder hinterfragte Informationen als Lüge abzustempeln. Stammen diese Informationen gar aus offiziellen Quellen – also zum Beispiel von Behörden –, lässt der Vorwurf der Staatsnähe meist nicht lange auf sich warten.

5. Meinungs- und Pressefreiheit sind zwei Dinge

Gern wird jetzt von diesen beiden Freiheiten gesprochen. Die erste ist ein Grundrecht, das den Bürgern garantiert, ihre Meinung frei und offen zu äußern – auch gegen den Staat. Der AfD-Fraktionschef Björn Höcke nutzt dieses Recht, wenn er etwa auf Demonstrationen spricht.Die Pressefreiheit dagegen ist das Recht der Presse auf freie Ausübung ihrer Tätigkeit – ohne staatliche Zensur oder jedwede andere Form der Einmischung von außen. Zu dieser Freiheit gehört für uns, dass wir selbst entscheiden, ob und in welchem Umfang wir von der Aktuellen Stunde und der Demonstration am Mittwoch berichten. Schon jetzt können wir versprechen, dass wir dies ausführlich tun werden. Nicht versprechen können wir dagegen, dass unsere Berichterstattung allen passen wird.

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Zum guten Schluss für alle Chefredakteure, die 2015 wenig zu lachen hatten. Thomas Bärsch ist amtierender Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, der das Schmunzeln nicht verlernt hat; er schrieb am 13. Dezember diesen Tweet

Ist das laute Abspielen von Heino eigentlich noch Ruhestörung oder schon Landfriedensbruch?

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Im Dezember ist dieser Blog zum Tausender geworden: Über tausend Blog sind  seit der Gründung 2012 von 160.000 Besuchern gelesen worden. Es ist ein kleiner Blog geblieben, bewusst auf eine kleine feine Leserschaft von Journalisten konzentriert und auf Leser, die  Journalismus als Garanten der Demokratie verstehen.

Ich wünsche allen Lesern, Kommentatoren und Kritikern meines Blogs ein gutes Jahr 2016, in dem sie das Lachen und Lächeln nicht verlernen sollten.

Zündeln Redakteure, wenn sie über Gewalt in Flüchtlings-Unterkünften berichten?

Geschrieben am 28. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.

Erst verfügte laut Gewerkschafts-Angaben der Innenminister in Thüringen, die Polizei solle nicht mehr über Einsätze in Flüchtlings-Unterkünften berichten, nun enthüllen auch die Kieler Nachrichten solch ein Schweigen der Polizei in Schleswig-Holstein. FDP-Chef Kubicki postet in Facebook:

Sollte es zutreffen, dass die Redaktion der „Kieler Nachrichten“ tatsächlich von der Landespolizei aufgefordert wurde, nicht über Fälle in der Flüchtlingsthematik zu berichten, die von der Landespolizei selbst als ‚relevante Ereignisse‘ eingestuft wurden, dann wäre das ein Skandal. Ressortleiter Michael Kluth berichtet dies in seinem Kommentar von heute.

Die Begründung für solch ein Vorgehen, die Presse ‚zündele‘, rechtfertigt in keinem Fall die Geheimhaltung offensichtlicher Tatbestände. Sie ist sogar doppelt skandalös. Denn erstens ist die Meinungs- und Pressefreiheit in unserem Grundgesetz festgeschrieben. Sie bildet damit einen der Grundpfeiler unserer Republik. Zweitens dürfen wir nicht jeden, der Kritik übt, ja nur kritische Fragen stellt, in den Senkel stellen und mit dem Vorwurf der Zündelei belegen.

Wenn die Verantwortlichen den Eindruck vermitteln, es würden wesentliche öffentlichkeitsrelevante Fakten verschleiert und die Debatte unehrlich geführt, sorgt dies für einen massiven Vertrauensverlust der Menschen in unsere demokratische Ordnung. Es verhindert nicht nur eine sachliche Auseinandersetzung, sondern macht die Menschen erst empfänglich für antidemokratische Kräfte.

Die Revolution war nicht die Revolution der Redakteure, gleichwohl begeisterte sie die Freiheit (Interview: 25 Jahre Einheit)

Geschrieben am 29. September 2015 von Paul-Josef Raue.
„Wir feiern 25 Jahre Deutsche Einheit – doch das Land sieht wenig geeint aus. Warum wächst nicht richtig zusammen, was einem Bonmot nach zusammen gehört?“ Mit dieser Frage eröffnet Stefan Wirner ein Interview für den Newsletter der Drehscheibe mit dem Autor dieses Blogs – “ über seinlokalesGrenzgängertum und seine Sicht auf das geeinte Deutschland“. Meine Antwort:

Das ist eine Frage, die im Westen gestellt wird: Warum, liebe Ostdeutsche, seid Ihr noch nicht wie wir? Diese Frage mögen Ostdeutsche nicht, weil ein Unterton mitschwingt: Wir haben Euch eine Billion Euro Entwicklungshilfe gegeben, so dass Eure Straßen besser sind als unsere; wir erwarten auch ein wenig Dank und wollen nicht mehr das ewige Genörgel hören!

Viele Westdeutsche vergessen: Es gab vor der Revolution keinen DDR-Bürger, der etwas anderes als Diktatur erfahren hatte – erst die Nazis, dann die sowjetischen Besatzer, dann die SED. Das steckt in der Seele, das können sie mit noch so viel Euros und Autobahnen nicht heilen. Und nach der Revolution mussten die Ostdeutschen komplett ihr Leben und ihren Alltag ändern, nichts, wirklich nichts blieb mehr, wie es vorher war. Und irgendwann konnten die Ostdeutschen all die guten Ratschläge aus dem Westen nicht mehr hören. Kurz: Sie vermissten und vermissen Respekt.

Gerade in der aktuellen Frage der Aufnahme von Flüchtlingen scheint das Land extrem gespalten: Während im sächsischen Heidenau ein Mob das Flüchtlingslager angreift, gehen die Bilder der Münchner um die Welt, die am Bahnhof Flüchtlinge willkommen heißen. Trügen diese Bidler? Oder woher kommen diese Unterschiede?

So extrem gespalten sind wir nicht. Die Angst vor den Fremden ist im Westen ähnlich verbreitet wie im Osten – und in anderen Ländern Europas übrigens noch stärker. Aber Sie bedienen mit Ihrer Frage ein typisch westdeutsches Vorurteil: Der Osten ist braun. Sie können München und Heidenau vergleichen, aber sie könnten auch Erfurt mit Weissach und Remchingen vergleichen: In Thüringen ein herzlicher Empfang und große Hilfe, im Südwesten brennende Asylbewerber-Heime. Aber das Aufrechnen bringt wenig: Wir haben ein gesamtdeutsches Problem und ein noch viel größeres europäisches.

Belegen nicht sämtliche Zahlen, dass die Fremdenfeindlichkeit im Osten um einiges höher ist als im Westen?  In keiner westdeutschen Stadt gab es pogromartige Vorkommnisse wie in Hoyerswerda, Rostock oder zuletzt Heidenau.

Generalisierung ist in der Tat falsch. Die meisten Ostdeutschen sind nicht fremdenfeindlich, auch wenn korrekt ist: Es sind mehr als im Westen. Aber die schiefe Darstellung fängt schon in der „Tagesschau“ und in den Zeitungen an: Heidenau bekommt einen Spitzenplatz in den Nachrichten, während ein brennendes Flüchtlingsheim in Baden-Württemberg hinten im Meldungsblock zu finden ist.  Auch Medien folgen ihren Vorurteilen und Vorlieben. Selbst der Bundespräsident sprach wieder von „Dunkeldeutschland“ – und suggerierte: Der Osten ist der dunkle Teil Deutschlands.

Teilen Sie die Ansicht, dass die Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern ein Erbe der DDR, des selbsternannten „besseren Deutschlands“ ist?

In der Tat wirkt im Osten die SED-Propaganda nach, die den Menschen suggerierte: Wir in der DDR haben aufgeräumt, wir sind die saubere, das nazifreie Deutschland.

Was ist daran korrekt? Im Adenauer-Deutschland wollte man schnell den Wohlstand, kümmerte sich kaum um die Nazi-Vergangenheit, berief Nazis sogar zum  Generalbundesanwalt oder als Bundesminister; es gab mehr Nazis in hohen Ämtern als in der DDR, die allerdings in den Aufbau-Jahren auch auf Nazis nicht verzichtet hat.

Im Westen stellten die Achtundsechziger dann ihren Eltern unbarmherzig Fragen wie: Was habt Ihr gemacht, als die SS die Juden aus Eurer Nachbarschaft vertrieb? Diese Debatten haben die westliche Gesellschaft massiv verändert. In der DDR musste sich keiner die Fragen stellen, der Staat nahm die Antwort ab: Macht Euch keine Gedanken, wir haben alles richtig gemacht – im Gegensatz zum revanchistischen und kapitalistischen Westen! Gleichzeitig sperrte man die Gastarbeiter in Gettos, zwang Frauen aus Vietnam oder Angola, die schwanger wurden, zur Abtreibung oder zum Verlassen der DDR: Also keine Spur von Willkommenskultur in der DDR, sondern nur aufgesetzte Freundschafts-Parolen.

Der Gesellschaft im Osten fehlt die Erfahrung, die Fragen nach dem richtigen Leben in einer Diktatur, gleich welcher, zu stellen. Das war und ist eine Aufgabe für Politiker, Lehrer und Redakteure – auch wenn sie dabei niemals in begeisterte Gesichter schauen: Die Menschen wittern gleich Gefahr, wenn diese Debatte droht. Sie reagieren durchweg mit Abwehr: Ihr wollt unser Leben miesmachen, wollt Jahrzehnte unseres Lebens entwerten  – übrigens ein Vorwurf, den Westdeutsche schnell zu hören bekommen, wenn sie mitreden wollen.

Die Reaktion ist verständlich: Was die Seele bedrückt, wird  als Tabu in die Kulissen geschoben. Aber dieses Tabu taugt nicht in einer offenen Gesellschaft, schadet der Demokratie. So sieht der Magdeburger Psychoanalytiker Jörg Frommer auch ein „kleines 68“ im Osten, sieht die Jungen, die hellwach sind, aber nicht laut aufbegehren gegen die Älteren,  sondern einfach aufbrechen – und machen.

TA Erstausgabw

ERSTAUSGABE TA nach der Wende – als Teil einer aktuellen Serie „25 Jahre Thüringen“ in der Thüringer Allgemeine

Thomas Schmid äußerte in der Welt die Befürchtung, dass bei den anstehenden Einheitsfeierlichkeiten diese Konflikte unter den Tisch gekehrt würden. Fehlt uns eine offene und ehrliche Diskussion über die Einheit?

Ja. Es geht dabei weniger um Offenheit und Ehrlichkeit, also um die Debatte überhaupt: Die meisten im Westen interessieren sich nicht für den Osten, und je weiter sie gen Westen oder Süden kommen, umso erschreckender ist das Unwissen, von Empathie ganz zu schweigen.

Andererseits ist die Diskussion auch nicht einfach zu führen: Die Älteren im Osten haben sich meist abgeschottet, empfinden die Westdeutschen als arrogant und besserwisserisch – und haben sich hinter einer unsichtbaren Mauer angenehm eingerichtet. Bisweilen glaube ich: In dem Leben der meisten Ostdeutschen ist so viel geschehen, dass sie müde geworden sind, dass sie meinen: Es reicht für ein Leben, nun soll es mir einfach nur mal gut gehen.

Sie haben ein Buch mit dem Titel „Die Unvollendete Revolution“ geschrieben. Darin sagen Sie aber auch, selten sei eine Revolution im Abendland so gelungen wie diese. Wie passt das zusammen?

Es ist ein realistischer Blick. Keine der Revolutionen nach Ende des Kalten Kriegs war erfolgreich: Schauen Sie nach Russland, in die Ukraine, in den Balkan, nach Nordafrika. Nur eine gelang wirklich;  dabei hatten wir Deutschen keine Erfahrung mit Revolutionen, aber gleich die erste gelang. Und wir sollten stets bedenken: Diese erfolgreiche Revolution haben die DDR-Bürger hinbekommen, nicht die Westdeutschen;  die schauten nur im Fernsehen zu.

Wir sind unbestritten ein Staat und in ein, zwei Generationen auch ein Volk. Es mag noch einige Unverbesserliche geben, die sich nach der DDR zurücksehnen, die überwältigende Mehrheit fühlt sich wohl in dem neuen Deutschland. Wir haben nicht die Probleme wie die Briten mit Schottland oder Spanien mit Katalonien.

Deutschland ist einfach reicher geworden, an Menschen, an Erfahrung, an Kultur (ein Drittel des deutschen Welterbes liegt im kleinen Osten), an Natur. Viele in Europa und der Welt beneiden uns.

Sie haben die Vereinigung journalistisch begleitet, ja sie journalistisch mitgestaltet. Sie waren Korrespondent in der DDR, gründeten als Chefredakteur der Oberhessischen Presse die Eisenacher Presse, waren Chefredakteur in Magdeburg und Braunschweig und schließlich bei der Thüringer Allgemeinen in Erfurt. Welchen Lokaljournalismus fanden Sie 1989/90 im Osten Deutschlands vor?

Einen ängstlichen – auch wenn die DDR-Redakteure im Lokalteil ein wenig mehr zwischen den Zeilen schreiben konnten als im politischen Teil. So war der Lokalteil der meistgelesene in den DDR-Zeitungen; das war auch der Grund für den Erfolg der gewendeten SED-Zeitungen, während die Neugründungen aus dem Westen durchweg scheiterten.

Die Lokalredakteure schrieben in der DDR vor allem über ihre Funktionäre und Helden der Arbeit, priesen den Sozialismus und waren, im heutigen Verständnis, Pressesprecher der Partei. Da viele DDR-Bürger zwar West-Fernsehen schauen konnten, aber keine West-Zeitungen lesen durften, war der Lokaljournalismus, vor allem der politische, völlig unbekannt – auch bei den Redakteuren.

Das Buch zu 25 Jahre Einheit ist im Klartext-Verlag erschienen.

Als Sie als Westdeutscher Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen wurden, der ersten Zeitung, die sich in der DDR für unabhängig erklärt hatte, gab es jede Menge ablehnende Leserzuschriften, wie man Ihrem Buch entnehmen kann. Was haben Sie da gedacht?

Wenig. Einsam war’s, und da besinnt man sich auf seine Professionalität und verlangt sie auch von den Mitarbeitern.

Sie haben bei der Braunschweiger Zeitung das Konzept Bürgerzeitung entwickelt – mit großem Erfolg. Wie wurde das Konzept später in Erfurt, als Sie bei der Thüringer Allgemeinen waren, angenommen?

Die Ostdeutschen diskutieren gerne. Das taten sie schon in der DDR reichlich, schrieben unentwegt Eingaben; das war auch möglich, wenn sie die Tabus beachteten. So nutzten die Leser der TA sehr schnell die Möglichkeiten, mit ihren Meinungen in die Zeitung zu kommen, auch die Querdenker, Nörgler und Besserwisser. Schon nach wenigen Wochen haben wir die tägliche „Leser-Seite“ eingeführt, auf der – gestaltet wie eine schöne redaktionelle Seite – nur unsere Leser zu Wort kommen. Den Redakteuren war das anfangs unheimlich, bei einigen ist das heute noch so.

Es blieb nicht bei der Leser-Seite, immer wieder beziehen wir unsere Leser mit ein, so dass die Thüringer Allgemeine mittlerweile eine exzellente Bürgerzeitung ist, das beweisen uns auch alle Leser-Untersuchungen: Die Menschen wollen nicht nur wissen, was Redakteure und Politiker meinen, sondern auch wie und was ihre Nachbarn denken und wie sie sich in der Gesellschaft engagieren.

Sie sprechen von einem „Demokratie-Defizit“, das Sie als Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen erlebt hätten. Inwiefern?

Die Redakteure waren nach der Revolution, die ja nicht die Revolution der Redakteure war, gleichwohl von der Freiheit begeistert, so wie sie in Artikel 5 des Grundgesetzes festgeschrieben ist. Aber die meisten Redakteure schauten auf den ersten Satz, auf die Meinungsfreiheit. Endlich durften sie kommentieren, was die Druckerschwärze hergab.

Dass aber die Pressefreiheit nicht nur Sonderrechte bietet, sondern auch Pflichten, war weniger bekannt: Die Demokratie zu stärken, die Bürger zu beteiligen und ihnen eine Stimme zu geben, die Mächtigen zu kontrollieren und die Leser verständlich und umfassend zu informieren – vor allem in den Städten und Kreisen – und in die Hinterzimmer der Macht zu leuchten. Nur so lebt die Demokratie.

Die Menschen sind 1989 für Demokratie, die D-Mark, die Wiedervereinigung auf die Straße gegangen. Wie konnte das alles so schnell wieder in ein Ressentiment gegen Demokratie und Marktwirtschaft kippen? War der Westen zu wenig feinfühlig?

Feinfühligkeit war nicht die Stärke des Westens, aber sie war auch nicht vonnöten: Der Westen spielte in der Revolution nur eine Zuschauer-Rolle. Die Menschen im Osten waren die Akteure, die haben nicht für Bananen, die haben für die Freiheit gekämpft, alles andere war hübsches  Beiwerk. Für eine Reise nach Mallorca riskiere ich nicht mein Leben, für die Freiheit, mein Leben selber planen zu können, riskiere ich es schon, wenn ich genügend Mitstreiter finde.

Und da ist auch nichts umgekippt: Nur eine Minderheit im Osten will zurück in die Diktatur; die Hälfte fühlt sich als Gewinner der Einheit, nur – oder immerhin – ein Viertel als Verlierer. Allerdings haben die Ostdeutschen, zum Teil schmerzhaft, die Kehrseite der Freiheit erleiden müssen: Die Demokratie, die sie bekamen, war nicht die des Werbe-Fernsehens, sondern die der „Tagesschau“, in der auch Arbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeit ein Thema war.

Offenbar laufen Revolutionen nach dem Muster ab: Die Diktatur steigert die Sehnsucht nach Freiheit, die Revolution übersteigt sie, es folgt der Jammer. So war das auch nach der deutschen  Revolution: Sanfte Träume und Utopien prallten gegen die harte Wand der Wirklichkeit. Die Ostdeutschen wollten Freiheit und bekamen Westdeutsche, die mit Buschzulage Verwaltung und Justiz einführten.

Ich zitiere in meinem Buch eine Reihe von Umfragen, die belegen: Es gibt so gut wie keinen Unterschied mehr zwischen Ost und West, wenn  es um die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben geht (sie ist hoch); geht es um die Zuversicht, ist sie im Osten sogar höher als im Westen, vor allem bei den 16- bis 29-Jährigen.

Wenn Sie heute in die Zukunft blicken: Was stimmt Sie dennoch hoffnungsfroh?

Kein „dennoch“! Für Revolutionen gibt es keine Generalproben, „Fehler“ entdeckt man erst im Nachhinein: Wer in rund neun Monaten eine Demokratie, Marktwirtschaft, freie Medien und einen Rechtstaat einführt, der müsste eigentlich scheitern. Deutschland ist nicht gescheitert, wir haben vieles richtig gemacht und können das, was nicht rund läuft, verbessern – und sollten es auch tun.

Thüringen zum Beispiel hat, relativ gesehen, weniger Arbeitslose als Nordrhein-Westfalen und auch weit mehr Menschen in Beschäftigung. Die Liste der Erfolge ist lang, die der Defizite ist allerdings auch nicht klein.

Wer uns große Hoffnung verspricht, sind die Jungen, die Dritte Generation Ost – das sind die zweieinhalb Millionen, die zur Wende noch in die Schule gingen. Die sind der Jammerei überdrüssig, sie sind hungrig, viel hungriger als die meisten im Westen, sie wollen raus in die Welt, wo immer sie einen Platz für sich sehen, aber sie schätzen ihre Heimat. Was für eine Chance für unser Land!

Sie sagen, Ihr Buch sei kein Geschichtsbuch, eher aber ein Geschichtenbuch. Ich finde, es ist auch ein Erinnerungsbuch. Welche Rolle wird die Erinnerung zukünftig in einer Welt von Facebook, Google und Smartphones spielen?

Erinnerung ist das halbe Leben oder noch mehr. Da spielt es keine Rolle, ob sie die Geschichten am Lagerfeuer erzählen, in Moritaten, Büchern, Zeitungen oder auf Smartphones. Und die jungen Leute, die Smartphone-Generation,  sind geradezu begehrlich, wenn es um die Erfahrungen der Alten geht. Wenn Sie mit Ostdeutschen sprechen, hören sie von den Älteren oft das Argument: „Macht ein Ende mit der Rückschau, mit den Stasi- und Opfern-Geschichten! Die wollen die jungen Leute einfach nicht hören.“ Aber das Gegenteil ist der Fall, die Jungen wollen wissen, wie das Leben in der Diktatur war – nicht als Vorlage für eine Anklage, sondern als Erfahrung, von der sie lernen wollen in der Freiheit, die sie genießen.

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Quelle: Drehscheibe „Die Ostdeutschen vermissen Respekt“

Verfassungsgericht: Und immer wieder für die Pressefreiheit! Das Morgenpost-Urteil

Geschrieben am 28. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Fast alle Urteile des Verfassungsgerichts zu Durchsuchungen in Redaktionen enden mit dem Urteil: Verfassungswidrig!  – so auch zur Durchsuchung der Berliner Morgenpost vor drei Jahren. Dem Verfassungsgericht schwant, warum der Staat trotzdem immer wieder durchsuchen lässt: Er will Informanten abschrecken. Das Bundesverfassungsgericht erklärt deshalb deutlich:

 Der Schutzbereich der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) umfasst den Schutz vor dem Eindringen des Staates in die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit sowie in die Vertrauenssphäre zwischen den Medien und ihren Informanten. Dieser Schutz ist unentbehrlich, weil die Presse auf private Mitteilungen nicht verzichten kann, diese Informationsquelle aber nur dann fließt, wenn sich der Informant grundsätzlich auf die Wahrung des Redaktionsgeheimnisses verlassen kann. Eine Durchsuchung in Presseräumen stellt wegen der damit verbundenen Störung der redaktionellen Arbeit und der Möglichkeit einer einschüchternden Wirkung eine Beeinträchtigung der Pressefreiheit dar.

Die Chronik:

Am Mittwoch, 28. November 2012 durchsuchten Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt Privatwohnung und Arbeitsplatz des Chefreporters der Berliner Morgenpost, weil sie dem Reporter die Bestechung eines Polizeibeamten vorwarfen.

Um 6.55 Uhr begannen die Ermittler ihre Arbeit mit der Durchsuchung der Privatwohnung des Chefreporters. Eine Nebenrolle bei den Vorwürfen spielt eine SMS, in der sich der Polizist bei dem Reporter für 100 Euro bedankte. Dabei handelte es sich um eine Auslage für zwei Jacken, die der LKA-Beamte in einem Polizei-Shop für den Reporter und einen weiteren Kollegen erworben hatte. Dort können Polizisten einkaufen. Der Morgenpost-Reporter gab ihm später das Geld für die Jacken zurück.

Um 8.30 Uhr begann auch die Durchsuchung in den Büroräumen im Verlagshaus der Axel Springer AG. Die Morgenpost gehörte 2012 noch zum Springer-Verlag, mittlerweile gehört sie zum Funke-Konzern in Essen.

Berlins Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) informierte zeitgleich  den Chefredakteur der Berliner Morgenpost, Carsten Erdmann. Heilmann sollte im Auftrag des ermittelnden Staatsanwalts zu einer Deeskalation der Situation beitragen, sagte eine Sprecherin der Justizverwaltung gegenüber der dpa.

Nach Eintreffen der Ermittler wurden ihnen die gesuchten Rechnungen sofort ausgehändigt, um so den Vorwurf der Bestechung zu entkräften. Dennoch bestand die Staatsanwaltschaft weiter auf der Durchsuchung. Die Beamten beschlagnahmten weitere Unterlagen, darunter sogenannte „Zufallsfunde“, also Unterlagen, die nichts mit den aktuellen Vorwürfen zu tun haben. Dazu gehörte auch Material zu Kriminalfällen, mit denen sich der Chefreporter intensiv beschäftigt hatte.

 Zur Vorgeschichte:

Mitte der 90er-Jahre verschwand der zwölfjährige Manuel Schadwald aus Berlin-Tempelhof. Jahrelang gab es Gerüchte, dass er Opfer von Pädophilen geworden sein könnte. Immer wieder tauchte in diesem Fall auch der Name des belgischen Kinderhändlers Marc Dutroux auf. Der Chefreporter der Berliner Morgenpost recherchierte und berichtete zusammen mit einem Kollegen über das Verschwinden des Berliner Jungen.

2010 meldete sich plötzlich ein neuer Informant. Es ergab sich erneut eine Spur, die nach Holland führte. Im Frühjahr 2011 reisten die beiden Journalisten nach Amsterdam. Der Verlag bestand darauf, dass auf der Recherche-Reise ein besonderer Sicherheitsstandard eingehalten wurde. Denn im Umfeld des Kinderhändler-Rings von Marc Dutroux starben schon mehrere Zeugen. Neben zwei Personenschützern einer privaten Sicherheitsfirma wurde auch ein Sicherheitsexperte des Berliner Landeskriminalamts engagiert.

Diesen kannte der Chefreporter seit vielen Jahren persönlich und vertraute ihm daher besonders. Der Beamte begleitete die Reporter außerhalb seiner Dienstzeit nach Amsterdam. Dafür erhielt der Polizist einen Tagessatz von 500 Euro. Solche Tagessätze gelten in der Sicherheitsbranche als üblich. Nach Angaben der Berliner Kuhr Security, die auch Personenschutz übernimmt, betragen die Kosten bei Auslandseinsätzen sogar deutlich mehr. Die Recherchen in Amsterdam dauerten vier Tage. Hinzu kamen Kosten für Flugtickets, Mietwagen und Hotel in Höhe von gut 1000 Euro. Damit belief sich die Gesamtsumme auf gut 3000 Euro.

In Amsterdam stießen die Reporter auf Hinweise, dass es ein Kapitalverbrechen gegeben haben könnte. Doch es gab nur eine Quelle, zu wenig für eine seriöse Berichterstattung. Die Hinweise wurden später der Berliner Polizei zur weiteren Prüfung übergeben. Dafür trafen sich die Reporter mit dem damaligen Leiter der Pressestelle Frank Millert und dem Dezernatsleiter für Sexualdelikte, um die Recherche-Unterlagen auszuhändigen.

Die Staatsanwaltschaft  scheint bei der Fahrt nach Amsterdam von einer Vergnügungsreise auszugehen und leitet daraus den Vorwurf der Bestechung ab. Das der Berliner Polizei übergebene Material lässt aber eindeutig einen anderen Schluss zu: Die Reise war eine Recherche-Reise – mit persönlichem Risiko für die Reporter der Berliner Morgenpost. Nach der Übergabe der Unterlagen an die Berliner Polizei passierte lange Zeit nichts.

Mitte 2012 geriet der Beamte, der die Reporter in Amsterdam begleitet hatte,  in Verdacht, eine geplante Razzia im Rockermilieu an Journalisten verraten zu haben. Die Polizeiführung leitete ein Verfahren wegen Geheimnisverrats an. Auf dem Computer und auf dem Handy des Beamten fanden die Ermittler eine Rechnung für die Recherchereise nach Holland in Höhe von gut 3000 Euro und die Telefonnummer des Morgenpost-Reporters.

Die Rechnung war für die Staatsanwaltschaft der Hauptgrund für den Vorwurf der Bestechung. Denn für Informationen darf kein Geld an Behördenmitarbeiter gezahlt werden. Das wäre Bestechung.

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Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 28. August 2015:

Das Gericht teilt auf der Internet-Seite mit (hier in Auszügen):

 Die Durchsuchung in Redaktionsräumen oder Wohnungen von Journalisten darf nicht vorrangig dem Zweck dienen, den Verdacht von Straftaten durch Informanten aufzuklären. Erforderlich sind vielmehr zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat der konkret betroffenen Presseangehörigen, die den Beschlagnahmeschutz nach § 97 Abs. 5 Satz 1 Strafprozessordnung entfallen lässt…

Ein bloß allgemeiner Verdacht, dass dienstliche Informationen an die Presse weitergegeben wurden, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Im vorliegenden Fall ging es den Strafverfolgungsbehörden zumindest vorwiegend um die Ermittlung belastender Tatsachen gegen einen Informanten aus Polizeikreisen. Diesem sollen Geldbeträge für Informationen zu bevorstehenden Ermittlungsmaßnahmen gezahlt worden sein. Bezogen auf dessen Kontakt zu den Beschwerdeführern handelt es sich jedoch um bloße Mutmaßungen.

Zum einen berichtete nicht der beschwerdeführende Zeitungsverlag über die bevorstehende Razzia, sondern ein mit diesem nicht zusammenhängendes Online-Portal. Weder dem Durchsuchungsbeschluss noch der Beschwerdeentscheidung ist zum anderen zu entnehmen, für welche Informationen Geld gezahlt worden sein soll. Der Tatbestand der Bestechung verlangt jedoch schon einfachrechtlich die Vornahme einer hinreichend konkreten Diensthandlung. In Bezug auf die Beschwerdeführer mangelt es daher an zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten für eine Straftat, die den Beschlagnahmeschutz entfallen lässt.

Ferner lässt sich aus dem bloßen Umstand, dass der mitbeschuldigte Polizeibeamte ein auf eine fingierte Person angemeldetes „Journalisten-Handy“ nutzte, nicht auf einen Tatverdacht der Bestechung gerade gegen die Beschwerdeführer schließen. Auf dem Handy waren die Namen des Beschwerdeführers und eines Journalisten des Online-Portals gespeichert. Dies mag dafür sprechen, dass der Informant dienstliche Geheimnisse an Journalisten weitergegeben hat.

Wegen des in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Informantenschutzes rechtfertigt das bloße Interesse der Strafverfolgungsbehörden, dies zu erfahren, jedoch keine Durchsuchung in den Redaktionsräumen von Presseorganen, sofern nicht erkennbar ist, dass auch gegen diese selbst strafrechtlich relevante Vorwürfe zu erheben sind. Was für eine Weitergabe der Informationen über eine Razzia gerade an den Beschwerdeführer sprechen soll, obwohl ein anderes Online-Magazin, für das der andere eingespeicherte Journalist tätig war, über diesbezügliche Ermittlungsmaßnahmen vorab berichtete, bleibt unklar.

Auch aus dem Vermerk auf der Rechnung lässt sich nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf eine Bestechung schließen. Die Rechnung bezog sich auf die Reise nach Amsterdam, für deren Ermöglichung sich der Beamte dienstunfähig gemeldet hatte. Es erscheint daher nicht fernliegend, dass der Beamte disziplinarrechtliche Konsequenzen wegen der falschen Krankmeldung und mangelnden Nebentätigkeitsgenehmigung befürchtete. Ein Verdacht gegenüber den Beschwerdeführern folgt hieraus jedoch nicht.

 

Quellen: Berliner Morgenpost und Bundesverfassungsgericht

Deutschland ist demokratischer als die USA, sagt Laura Poitras – und: „Wir haben noch die Freiheit der Rede“

Geschrieben am 19. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Mit einem optimistischen Satz über den Wert der Freiheit beschließt Laura Poitras ihre lange Klage gegen ein Amerika, das Grundsätze seiner Demokratie immer mehr verrät, den Bürgern Freiheiten nimmt und sie sogar bespitzelt. Die US-Bürgerin Poitras bekam den Oscar für ihren Dokumentarfilm über Snowden; sie ist Gründerin der Stiftung „Freedom of the Press“.

Sie beklagt:

  • Der US-Staat verletzt seine eigenen Gesetze wie die Freiheit der Presse, weil er beispielsweise ihre Unterlagen bei jeder Einreise kopieren lässt;
  • er beantwortet ihre Fragen nicht, wie intensiv sie überwacht wird:
  • er lässt keine Klagen zu von Menschen, die er entführt und gefoltert hat;
  • er unterhält seit 13 Jahren das illegale Guantanamo, tötet Menschen ohne Gerichtsurteil durch Drohnen, führt Angriffskriege;
  • er zerstört Teile des Rechtsstaates – und das steht in keinem Verhältnis zu der Gefahr durch den  IS und andere;
  • er ist nicht das demokratische Vorbild, das er vorgibt, sein zu wollen.

Relativ sicher fühlt sie sich in Deutschland, wo sie ihre Tagebücher und verschlüsselten Festplatten versteckt. „Ich denke, die Erfahrungen des Sozialismus und die Stasi-Vergangenheit haben dazu geführt, dass man in Deutschland geschützter ist. Das Land hat aus seiner dunklen Vergangenheit gelernt.“ Aber die bleibt auch – im Vergleich zum Schrecken, der anderswo herrscht – eine Optimistin mit Blick auf ihr Land:

Trotz der ernsten Bedenken, die ich habe, wenn ich darüber nachdenke, in welche Richtung sich mein Land bewegt: Wir haben immer noch die Freiheit der Rede. Anders als viele andere Länder, in denen Journalisten um ihr Leben bangen müssen, wenn sie die Wahrheit öffentlich machen. Ich hätte diese Fragen (im Interview) nicht beantworten können, wenn ich nicht diese Freiheit hätte.

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Quelle: FAZ, 18. Juli 2015, Interview von Ursula Scheer „Amerikas Politik schafft Terror und Chaos“

Im Zweifel gegen die Pressefreiheit: Auch Generalbundesanwalt ermittelt gegen Journalisten

Geschrieben am 15. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.
 Staatsanwälte in Deutschland gehen  gezielt gegen Journalisten vor, um sie einzuschüchtern und kritische Berichterstattung zu verhindern: Man mag die Ermittlungen gegen den Nordkurier in der Rabauken-Affäre als Petitesse abtun (was sie nicht ist), aber die Ermittlungen gegen netzpolitik.org   sollen signalisieren: Redakteure lasst die Finger von geheimen oder auch nur geheim eingestuften Dokumenten des Staates! Und was „geheim“ ist, bestimmen wir, die Diener des Staates.

Vor allem sollen Informanten abgeschreckt werden, Kontakt zu Redaktionen zu suchen. So ermittelt der Generalbundesanwalt gegen die Redaktion von netzpolitik.org, die über Pläne für  eine neue Rasterfahndung des Geheimdienstes berichtet hatte:Im geheimen Haushalt des Verfassungsschutzes sollen knapp drei Millionen Euro eingestellt werden, um Internet-Inhalt, auch bei Facebook, auszuwerten.

Die Diener des Staates erweisen sich so als Gegner der Verfassung. Constanze Kurz zitiert aus einem Urteil des Verfassungsgerichts:

Constanze Kurz schreibt regelmäßig  „Aus dem Maschinenraum“ in der FAZ, der stärksten Internet-Kolumne der deutschen Tageszeitungen. Die Ermittlungen des Generalbundesanwalts kommentiert sie in netzpolitik.org:

Nur weil es sich mehr und mehr einbürgert, dass es als normal angesehen wird, dass das Handeln der Geheimdienste undurchschaubar ist und viel zu viele Aspekte von deren Arbeit „geheim“ gestempelt wird, heißt das für die Arbeit von Journalisten mit Informanten noch lange kein devotes Duckmäusertum, jedenfalls nicht bei uns. Dass wir Informationen oder uns möglicherweise anvertraute Dokumente über das Bundesamt für Verfassungsschutz oder andere intransparente Behörden auf netzpolitik.org bringen, wird auch in Zukunft so bleiben.

Wir lassen uns natürlich nicht einschüchtern.

 

 

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Lutz Schumacher per FacebooK:

Offenbar verführt der „General“ im Ttel. Habe da ja gerade erst entsprechende Erfahrungen machen dürfen… #Rabauke

Wolfgang Bok am 15. Juli um 13:57 auf Facebook:

Dieser „Enthüllungsjournalismus“ besteht bsp. darin, brav die gezielt platzierten Empörungsnews von Snowden & Co. abzudrucken, ohne diese zu überprüfen. Erfüllungsgehilfen wäre der treffendere Ausdruck. Lesenswert dazu: Spionageexperte Sandro Gaycken in der FAZ vom 10.7.15, Seite 10: „Wer steckt hinter den NSA-Enthüllungen?“ Aber so weit geht der deutsche „Enthüllungsjournalismus“ natürlich nicht. Dann würde ja das Feindbild nicht mehr stimmen…

Rabauken-Affäre: Staatsanwaltschaft gibt Ruhe und ermittelt nicht mehr

Geschrieben am 10. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Unser Land wird gelegentlich von Kriminellen, aber bestimmt nicht von Zeitungskommentatoren bedroht.

So reagiert Lutz Schumacher, Chefredakteur des Nordkurier in Neubrandenburg, auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Stralsund, die Ermittlungen gegen ihn einzustellen. Zwei Staatsanwälte hatten gegen ihn wegen angeblicher Beleidigung in einem Kommentar Strafantrag gestellt.

Heftig kritisiert Schumacher Mecklenburg-Vorpommerns  Justizministerin Uta-Maria Kuder (CDU): Peinlich und inakzeptabel sei ihr Verhalten, weil sie es versäumt habe, „mäßigend auf die Staatsanwaltschaft einzuwirken und sich in juristischen Haarspaltereien verlor (hat), anstatt die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger zu schützen“.

Das Berufungsverfahren gegen Thomas Krause, der 1000 Euro Strafe wegen des Rabauken-Berichts zahlen muss, läuft noch (siehe Bericht in diesem Blog). Schumacher hofft, dass auch die Staatsanwaltschaft auf Freispruch plädiert.

 

Wie die SZ aus der Metropole die Rabauken-Affäre einschätzt: Seltsame Provinz

Geschrieben am 5. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

In der Provinz streitet man sich nicht über die Pressefreiheit, da gibt man nach, wenn der Staatsanwalt Ordnung schafft. Darf man so zwei Sätze in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung über die Rabauken-Affäre beim Nordkurier  in Neubrandenburg verstehen?

„Die Flammen schlagen zu hoch in diesem seltsamen Fall aus der Provinz“, schreibt Thomas Hahn in der SZ (3. Juli 2015). Wenn ein Redakteur aus München „Provinz“ schreibt, dann meint er auch Provinz, eben weit entfernt von seiner Metropole – und dazu noch im Osten. Wie geht es da zu: eben „seltsam“.

„Irgendjemand hätte irgendwann mal nachgeben müssen“, schreibt er weiter. „Irgendjemand“, also auch der Redakteur, der einen Jäger einen Rabauken nannte, weil der ein totes Reh mit seinem Auto über die Bundesstraße geschleift hatte. Nachgeben – also die 1000 Euro Strafe wegen Beleidigung zahlen (und mit der Richterin eine Tasse Kaffee trinken, wie man das halt so macht in der Provinz)?

„Irgendjemand“ könnte auch der Chefredakteur sein, der in einem Kommentar der Richterin und den Staatsanwälten die Leviten las: Sollte er nachgeben und sich entschuldigen?

Seltsam.

 

Rabauken-Affäre (5): Ein Generalstaatsanwalt, Verfolgung Unschuldiger und die Pressefreiheit

Geschrieben am 30. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

Mir liegen im Wortlaut die Auskünfte des Justizministeriums und der Staatsanwaltschaft vor, man habe ein Ermittlungsverfahren gegen mich eingeleitet, wegen des Kommentars…Mein Anwalt hat sich vor zwei Wochen bei der  Staatsanwaltschaft Stralsund um Übermittlung des Aktenzeichens gebeten. Heute teilte ihm der zuständige Staatsanwalt mit, man könne „die Anfrage keinem Vorgang zuordnen“. Das ist dieselbe Staatsanwaltschaft, die auf aktuelle Presseanfragen z.B. von Bild und FAZ antwortet, das Ermittlungsverfahren gegen den Nordkurier-Chefredakteur werden vier bis sechs Wochen dauern. Realsatire.

Schumacher beklagt, dass Anfragen zu ganz anderen Themen von Landesbehörden „seit Beginn der Affäre nur noch nach schriftlicher Aufforderung, ebenfalls schriftlich und mit tagelanger Verspätung beantwortet“ werden und die Pressestellen erklären,  das gelte nur für den  Nordkurier.

 

Was dürfen Journalisten? Presserat entschied über Beschwerden zu Germanwings-Absturz (Leser fragen)

Geschrieben am 15. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

430 Leser von deutschen Zeitungen haben sich nach dem Absturz der Germanwings-Maschine an den Presserat gewandt und sich über die Berichterstattung beschwert. Eine Leserin der Thüringer Allgemeine hatte sich direkt an die Redaktion gewandt und kritisierte die „respektlose und pietätlose und vor allen Dingen lauthalse Berichterstattung über den Absturz der Unglücksmaschine“: Er sei „zutiefst menschenunwürdig und nur einem verachtungswürdigen Voyeurismus geschuldet“.

Ein anderer Leser wollte gleich den Staat einschalten, damit er Medien verbiete, „persönliche Daten in solchen Fällen zu veröffentlichen. Normalerweise müssten hier empfindliche Strafen ausgesprochen werden. Bis zum Berufsverbot. Allerdings, wie vereinbart sich das dann mit dem Grundgesetz?“

In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortete der Chefredakteur:

Sehr geehrter Herr W.,

Sie fragen zu Recht: Wie vereinbaren sich Berufsverbote und harte Strafen für Journalisten mit dem Grundgesetz?

Gar nicht, so lautet die klare Antwort. Die Presse kontrolliert den Staat und nicht der Staat die Presse – so steht es in Artikel 5 des Grundgesetzes. „Eine Zensur findet nicht statt“ bedeutet: Keiner darf Journalisten zwingen, über eine Sache oder eine Person zu schreiben oder dies zu unterlassen. Die Presse ist frei.

Allerdings müssen auch Journalisten die Persönlichkeits-Rechte beachten und dürfen, falls sie dagegen verstoßen, bestraft werden; sie dürfen nicht beleidigen oder die Unwahrheit schreiben.

So läuft zurzeit ein umstrittenes Gerichtsverfahren in Mecklenburg: Ein Reporter muss 1000 Euro bezahlen, weil er einen Jäger „Rabauken“ genannt hat; der Jäger hatte ein totes Reh an seiner Anhänger-Kupplung befestigt und über die Landstraße gezogen. Der Nordkurier akzeptiert diese Strafe nicht und zieht in die nächste Instanz. Der Chefredakteur in Neubrandenburg spricht von einer Gefährdung der Pressefreiheit durch Staatsanwalt und Richterin:

„Dieses Land hat zwei Diktaturen hinter sich und leider auch eine entsprechend fürchterliche Justizgeschichte. Die beiden über die freie Presse herfallenden Juristen haben daraus nichts gelernt. Vielleicht wäre es ihnen genehm, wenn der Nordkurier seine Artikel künftig den Behörden vorab zur Begutachtung vorlegt – war doch früher auch schon so.“

Der Staatsanwalt hat Anzeige gegen den Chefredakteur gestellt.

Sehr geehrte Frau Z.,

der Presserat entscheidet, ob Journalisten gegen den Pressekodex, also die Moral der Medien, verstoßen haben. Er hat so über die Beschwerden gegen die Berichterstattung zum Flugzeug-Absturz entschieden:

1. Der Name des Piloten durfte genannt werden.

Nach der Pressekonferenz des französischen Staatsanwalts durften Journalisten davon ausgehen, dass Andreas Lubitz das Flugzeug absichtlich zum Absturz gebracht hatte. Der Sprachrekorder war ausgewertet und Ermittlungen der Luftfahrtbehörde lagen öffentlich vor. Von Vorverurteilung konnte keine Rede mehr sein.

Zwar war durch die Namensnennung auch die Identifizierung der Eltern möglich, aber das öffentliche Interesse wog stärker als das Verschweigen des Nachnamens bei dieser außergewöhnlich schweren Tat, die in ihrer Art und Dimension einzigartig ist.

Eine besondere Zurückhaltung, die bei Selbstmorden geboten wäre, tritt mit dem Blick auf 149 Todesopfer zurück.

2. Bilder von den Opfern durften nicht veröffentlicht werden.

Opfer und ihre Angehörigen dürfen im Bild nur gezeigt werden, wenn es sich um berühmte Persönlichkeiten handelt oder eine ausdrückliche Zustimmung vorliegt. Also durften Fotos der Angehörigen, aufgenommen an den Flughäfen in Düsseldorf und Barcelona, nicht gedruckt werden.

Die TA hatte ein solches Foto gedruckt; wir haben dafür um Entschuldigung gebeten.

3. Die Partnerin des Co-Piloten durfte nicht erkennbar sein.

Eine Zeitung hatte zwar nicht den vollständigen Namen genannt, jedoch waren in dem Text so viele persönliche Details enthalten, dass die Partnerin des Co-Piloten identifizierbar war. Das verstößt gegen den Pressekodex und ist zu rügen, entschied der Presserat.

Auch die Berufe der Eltern des Co-Piloten zu erwähnen und ihr Wohnhaus nebst Umgebung zu zeigen, verletzt den Persönlichkeitsschutz.

Thüringer Allgemeine, 13. Juni 2015, Kolumne „Leser fragen“

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