Was wären Zeitungen ohne den Verrat? (Zitat der Woche)
Ohne Verrat, ohne zum Verrat bereite Zeitungen taugt die beste Regierung nichts.
Willi Winkler in der SZ vom 31. Mai zu einem Kommentar der New York Times (Online): Michael Kinsley, „Die globale Überwachung“ von Glenn Greenwald besprechend, hatte sich gegen Snowden positioniert und der Regierung allein die Entscheidung zugewiesen, Geheimnisse bekannt zu machen. Das sei nicht Aufgabe und Recht der Presse. Kinsleys Begründung: Niemand hat die New York Times gewählt.
Margaret Sullivan ist Public Editor des NYT, eine Art Ombudsfrau („Mittler zwischen Zeitung und ihren Lesern“): Sie tadelte die Redaktion wegen der einseitigen Rezension des Buchs.
Wie intensiv soll eine Zeitung über den NPD-Wahlkampf berichten? (Leser fragen)
„Wo waren Sie, als der berüchtigte Thorsten Heise auf dem zentralen Obermarkt der Stadt Mühlhausen auf Stimmenfang ging?“, fragt eine Leserin den Chefredakteur der Thüringer Allgemeine und bedauert, dass – obwohl durch Bürger informiert – „niemand zur Berichterstattung erschienen ist“.
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet TA-Chefredakteur Paul-Josef Raue:
Wir wussten in der Tat, dass die NPD praktisch vor den Türen unserer Lokalredaktion Wahlkampf führte. Aber wir haben bewusst auf eine Berichterstattung verzichtet – aus drei Gründen:
1. Eine Fülle von Parteien und Wählervereinigungen trat zu den Wahlen am 25. Mai an. Wir haben alle kurz vorgestellt, auch die NPD und ihre Kandidaten. Dies ist in der Redaktion durchaus umstritten, aber unser Pressekodex, die Berufsethik der Journalisten, mahnt gleich in Ziffer 1 „zur wahrhaften Unterrichtung der Öffentlichkeit“ und noch konkreter in einer Richtlinie:
„Zur wahrhaften Unterrichtung der Öffentlichkeit gehört, dass die Presse in der Wahlkampfberichterstattung auch über Auffassungen berichtet,die sie selbst nicht teilt.“
Dies bedeutet aber nicht, dass wir über jeden Auftritt einer Splitterpartei berichten müssen.
2. Wir haben niemals zuvor so intensiv über eine Wahl berichtet wie über diese Kommunalwahl: Einige tausend Kandidaten, etliche Programme und viele Reportagen über den Wahlkampf kamen in die TA, dazu luden wir zu Diskussionen ein.
Auf Hunderten von Seiten konnten sich unsere Leser informieren. Für manche Politiker war dies zu wenig, für die Mehrheit unserer Leser aber genau das richtige Maß: Die Wahlbeteiligung ist jedenfalls spürbar gestiegen.
3. Unter Werbe-Strategen gilt der Satz: Hauptsache, mein Kandidat und meine Partei wird beachtet! Auch eine negative Werbung kann eine Werbung sein – besonders für eine radikale Partei, die sich gerne als verfolgte und unterdrückte stilisiert.
Das Programm der NPD ist eindeutig: Sie will die Demokratie zerstören und die Pressefreiheit gleich mit. Kämen die Neonazis an die Macht, wäre eine Wahlberichterstattung wie zum 25. Mai nicht mehr möglich.
Bei aller Toleranz gegenüber intoleranten Feinden der Freiheit: Worüber sollen wir also berichten, wenn ein mehrfach vorbestrafter Neonazi spricht?
Das bedeutet nicht, dass wir die Feinde der Demokratie nicht aufmerksam beobachten. Wir bleiben wachsam, aber halten es mit dem Politikwissenschaftler Jesse: Der warnte am Mittwoch in unserer Zeitung, die NPD wichtiger zu machen, als sie ist.
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Thüringer Allgemeine 31. Mai 2014
Die eigentliche Geburt der Pressefreiheit: Das Verfassungsgericht zur Spiegel-Affäre
Viel Lob für den TV-Film im Ersten „Die Spiegel-Affäre“, zu Recht. Erstaunlich ist jedoch, dass das Verfassungsgericht mit seinem bahnbrechenden Urteil zur Pressefreiheit nicht einmal im Abspann erwähnt wird. Die entscheidenden Sätze haben wir in der Neuauflage „Das neue Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus“ auf Seite 21 zitiert.
Das Bundesverfassungsgericht hat im „Spiegel-Urteil“ am 5. August 1966 den Wert der freien Presse für eine Demokratie deutlich gemacht. Aus den Aufgaben der Presse sind die Verpflichtungen für Redaktionen und Redakteure ableitbar:
Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbesondere ist eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse für die moderne Demokratie unentbehrlich.
Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung.
In ihr artikuliert sich die öffentliche Meinung; die Argumente klären sich in Rede und Gegenrede, gewinnen deutliche Konturen und erleichtern so dem Bürger Urteil und Entscheidung. In der repräsentativen Demokratie steht die Presse zugleich als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung. Sie fasst die in der Gesellschaft und ihren Gruppen unaufhörlich sich neu bildenden Meinungen und Forderungen kritisch zusammen, stellt sie zur Erörterung und trägt sie an die politisch handelnden Staatsorgane heran, die auf diese Weise ihre Entscheidungen auch in Einzelfragen der Tagespolitik ständig am Maßstab der im Volk tatsächlich vertretenen Auffassungen messen können.
So wichtig die damit der Presse zufallende „öffentliche Aufgabe“ ist, so wenig kann diese von der organisierten staatlichen Gewalt erfüllt werden. Presseunternehmen müssen sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden können. Sie arbeiten nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen und in privatrechtlichen Organisationsformen. Sie stehen miteinander in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz, in die die öffentliche Gewalt grundsätzlich nicht eingreifen darf.
Der Funktion der freien Presse im demokratischen Staat entspricht ihre Rechtsstellung nach der Verfassung. Das Grundgesetz gewährleistet in Art. 5 die Pressefreiheit. Wird damit zunächst ein subjektives Grundrecht für die im Pressewesen tätigen Personen und Unternehmen gewährt, das seinen Trägern Freiheit gegenüber staatlichen Zwang verbürgt und ihnen in gewissen Zusammenhängen eine bevorzugte Rechtsstellung sichert, so hat die Bestimmung zugleich auch eine objektiv-rechtliche Seite. Sie garantiert das Institut „Freie Presse“.
(BVerfG 20, 162ff.)
Die Spiegel-Affäre, der TV-Film im Ersten und der missionarische Journalismus
Es ist ein eindrucksvoller Film, den das Erste über die Spiegel-Affäre zeigt – nicht nur wegen der unentwegt Weinbrand-trinkenden Redakteure. Der Film räumt gründlich mit der Legende auf, dass Augsteins Kampf eine idealistische Veranstaltung war, um der Pressefreiheit ihren demokratischen Rang zu erstreiten. Dass die Pressefreiheit am Ende so gestärkt war wie in wenigen anderen Ländern, stand nicht in Augsteins Plan.
„Ich wollte Strauß aus der Bundesregierung Konrad Adenauers herauskatapultieren“ – das schrieb Augstein, das war sein Plan. So stand es 1994 im „Spiegel“. Der Film über die Spiegel-Affäre zeigt beindruckend klar, wie heftig auch die Redakteure gestritten haben – gegen Augstein, ihren Chef. „Du bist besessen“, sagt Augsteins Bruder, ein Rechtsanwalt, über den persönlichen Feldzug gegen Strauß.
„Das ist Propaganda!“, brüllt ein Redakteur über die Vermischung von Gerüchten und Tatsachen – und stellt den Spiegel-Journalismus in die Nähe zum DDR-Journalismus, der sich als Propaganda verstand. Augstein lassen die Vorwürfe kalt: Die grundlegenden journalistischen Werte wie Wahrheit und Fairness nennt er „heuchlerische Anstandsregeln“.
Heute noch diskutieren Journalisten, ob dieser missionarische Journalismus nicht zu einer der bedenklichen Spielarten zählt. So sahen wir es auch in der ersten Auflage des „Handbuch des Journalismus“ vor achtzehn Jahren:
Die vierte Spielart des bedenklichen Journalismus ist der missionarische Journalismus. Ihn kennzeichnet das, was Rudolf Augstein im Spiegel 15/1994 geschrieben hat: „Ich wollte Strauß aus der Bundesregierung Konrad Adenauers herauskatapultieren“, und: „Als Verteidigungsminister, Außenminister und erst recht als Nachfolger des Bundeskanzlers musste Strauß unmöglich gemacht werden.“
Ist dies die Sprache eines Journalisten? Sollte es sich nicht vielmehr um die Sprache eines Politikers handeln – eines Politikers, der eine einleuchtende politische Ansicht vertrat und sich mit Strauß zugleich in einem weniger einleuchtenden Zweikampf sah, so dass er den Spiegel als Sturmgeschütz auf Strauß ansetzte? Ist es wirklich tollkühn zu fragen, ob das „Journalismus“ heißen soll?
Von der Spiegel-Schlagzeile „Barschels schmutzige Tricks“ hat Augstein sich zwar nachträglich distanziert – aber formuliert war sie natürlich in seinem Geiste: Wir mussten Barschel aus der Regierung katapultieren, schließlich wollten wir die Wahlen in Schleswig-Holstein entscheiden, am Tag nach der Veröffentlichung fanden sie statt.
Und so stützte sich der Spiegel, seiner eigenen Darstellung nach, weil er keine Zeit zum Nachrecherchieren hatte – stützte sich der Spiegel also bei dieser Zeile zunächst allein auf die Aussagen eines Zeugen von schon damals katastrophalem Leumund.
Das Glück des Spiegels dabei war, dass es jahrelang so aussah, als habe er eine Wahrheit nur vorzeitig ausgesprochen. Inzwischen sind wir schlauer: Wir wissen, dass die SPD sich von schmutzigen Tricks keineswegs freigehalten hat und dass der Schmutzigste von allein in dieser Schlammschlacht vermutlich des Spiegels Zeuge war.
Wenn Journalisten selber Politiker sind – wie sollen sie dann eben den Politikern auf die Finger sehen? „Der Journalist“, sagt Johannes Gross, „hat nicht Überzeugungen feilzuhalten oder für Glaubensbekenntnisse zu wüten, sondern Nachrichten zu formulieren und Analysen auszuarbeiten (…) Die Ethik des Journalismus ist eine Service-Moral.“
In späteren Auflagen haben wir das Journalisten-Kapitel zugunsten des Online-Kapitels gekürzt. So fiel der „missionarische Journalismus“ heraus ebenso wie diese drei Grundhaltungen, „die wir als bedauerlich empfinden“:
1. Der Krawalljournalismus des Boulevards.
2. Der überflüssige Journalismus in vielen Zeitschriften, die Umfragen ins Heft bringen, nach denen keiner verlangt (etwa: Bei Single-Männern, wenn sie nicht allein schlafen, liegen die Rheinland-Pfälzer zehnmal öfter hinten als die Mecklenburger).
3. Der verknöcherte Journalismus saturierter Abonnements-Zeitungen.
Sehenswert – nicht nur für Journalisten!
Die Spiegel-Affäre, Mittwoch, 7. Mai 2014, 20.15 bis 21.55 im Ersten; anschließend Dokumentation zum Thema.
Eine Politikerin ärgert sich über eine Redaktion, schreibt eine Mail – und schickt sie an den falschen Absender
Eine junge Bundestagsabgeordnete kommt mit einem Text, offenbar mit zu viel Partei-PR, nicht in die lokale Zeitung. Sie ärgert sich und schickt eine Mail an einen Genossen – und drückt auf die falsche Taste: Die Mail landet in der Redaktion der Fuldaer Zeitung:
Gesendet: Mittwoch, 16. April 2014 16:37
An: […]
Betreff: Re: Kolumne für MorgenWahrscheinlich finden die sich jetzt richtig toll… Das ist schon frech, was die sich so leisten. Wir müssen mal wirklich eine Strategie ausarbeiten, wie wir denen einen Strich durch die Rechnung machen können. Ich treffe mich Morgen zum Frühstück mit Hettler von Fuldainfo und wir schauen mal, ob wir Ideen haben.
Gruß
Birgit Kömpel MdB
Die Redaktion bringt die Mail in die Öffentlichkeit:
Fehlgeleitete Mail von Birgit Kömpel sorgt für Empörung
REGION
Liebe Leserinnen und Leser, diese Mail der Bundestagsabgeordneten Birgit Kömpel sollte unsere Redaktion nicht erreichen. Aber sie liegt uns vor, weil die SPD-Abgeordnete sich vertan und sie an uns geschickt hat. Schäbig finden wir den Inhalt. Unaufrichtig finden wir Kömpels Verhalten.Zum Hintergrund: Seit einigen Jahren bietet unsere Zeitung heimischen Abgeordneten verschiedener Parlamente im Wechsel die Möglichkeit, sich zu vorgegebenen bzw. abgesprochenen Themen in einer Kolumne zu äußern. Damit wollen wir den Abgeordneten die Möglichkeit geben, ihre Sicht der Dinge zu aktuellen Themen darzulegen – und zwar jenseits von Parteipolitik.
Frau Kömpel schrieb vergangene Woche ohne jede Absprache und ohne sich an Vorgaben zu halten. Sie schrieb einen Lobgesang auf die Arbeit der SPD in 100 Tagen großer Koalition.
Aber: Spielregeln gelten für alle. Das haben wir ihr erläutert und diesen Beitrag abgelehnt. Für Sie, liebe Leser, zum Verständnis: In zwei Fällen mussten wir dies in den vier Jahren, die es diese Rubrik gibt, bereits tun. Einmal traf es einen CDU-Mann, einmal eine SPD-Vertreterin. Wie Frau Kömpel in einer offenbar für einen Mitarbeiter bestimmten Mail reagiert hat, lesen Sie oben.
Frau Kömpel soll(te) in Berlin Interessensverwalterin der Bürgerinnen und Bürger ihres Wahlkreises sein. Sie aber überlegt, wie sie einer unabhängigen Tageszeitung und damit auch einem Unternehmen ihres Wahlkreises Schaden zufügen kann – weil eine Redaktion nicht das tut, was sie möchte.
Die Mail der SPD-Bundestagsabgeordneten Birgit Kömpel offenbart uns ihr Medien- und Demokratieverständnis. Deshalb möchten wir sie transparent machen.
Einen Screenshot der Mail können Sie in der Printausgabe oder im E-Paper sehen.
Reicht die Verärgerung einer Politikerin über eine Redaktion, um sie vorzuführen? Trägt die Redaktion nicht ein wenig zu dick auf: Schäbig, unaufrichtig, Offenbarung eines falschen Medien-und Demokratieverständnisses?
Ist wirklich die Unabhängigkeit in Gefahr? Gewinnt am Ende nicht immer die Zeitung? Ist solch eine Dummheit einer offenbar recht unerfahrenen Politikerin nicht eher Stoff für eine Glosse als für eine große Abrechnung: Unsere Demokratie ist in Gefahr?
Verfassungsgericht geht nicht weit genug: Alle Politiker müssen raus aus den ZDF- und ARD-Gremien
Der Staat darf sich die Medien nicht zur Beute machen. Er darf weder in die Redaktionen des MDR hineinregieren noch in die Redaktion einer Zeitung. So bestimmt es unsere Verfassung. In Artikel 5 reichen fünf Wörter aus, um die Pressefreiheit zu garantieren: „Eine Zensur findet nicht statt.“
„Zensur“ bedeutet in unserer Verfassung: Der Staat darf vorab weder kontrollieren noch bestimmen, was der MDR senden will und die TA drucken. Diese Freiheit gab es – beispielsweise – nicht für Redaktionen in der DDR. Das Zentralkomitee der Partei rief jeden Tag in den großen Redaktionen an und bestimmte, was berichtet wird, wie berichtet wird und welche Sätze in den Kommentaren zu stehen hatten.
Ansagen gab es auch für die Lokalredaktionen. „Meine Meinung kommt um zwei Uhr aus Berlin!“, witzelten die Redakteure, die bisweilen kuriose Anweisungen zu befolgen hatten wie „Keine Rezepte mit Haselnuss vor Weihnachten veröffentlichen!“ Hintergrund war ein Versorgungs-Engpass.
Bei einer Zeitungsredaktion rufen gerne auch Minister und andere Politiker an, manchmal erregt, manchmal fordernd; andere rufen nie an, verweigern jede Auskunft und zeigen so ihre Missbilligung einer freien Presse, die sie gerne ein bisschen unfreier hätten. Poltern wie schweigen – alles bleibt wirkungslos.
Das ist bei Rundfunk und Fernsehen anders: Politiker üben einen starken Einfluss aus. Wenn der Regierungssprecher zu einer Reise mit der Ministerpräsidentin einlädt und eine Absage bekommt, dann rutscht ihm schon mal ein Satz raus wie: „Das ist nicht schlimm. Wir nehmen ja den MDR mit.“
Nun arbeiten in TV- wie in Zeitungsredaktionen selbstbewusste Journalisten, die auf Unabhängigkeit großen Wert legen. Aber sie haben es bei ARD und ZDF schwerer: Dort sitzen Politiker in Gremien, die sie und ihre Arbeit kontrollieren.
Der Anruf eines Ministers oder der wöchentliche Telefon-Termin mit der Staatskanzlei hinterlässt schon tiefe Spuren: Bei politischen Berichten sitzt schnell die Unsicherheit im Nacken, manchmal schon die Angst.
Das Verfassungsgericht hat die Nöte der Redakteure und die Gefahr für die Demokratie erkannt. Es begrenzt den Einfluss der Politiker. Ob das reicht?
Einem Verfassungsrichter geht die Entscheidung nicht weit genug: Er will die Politiker komplett verbannen. Er hat Recht – auch mit der Befürchtung: Das Versprechen eines staatsfernen Fernsehen bleibt weiter unerfüllt.
(erweiterte Fassung eines Leitartikels der Thüringer Allgemeine, 27. März 2014)
FACEBOOK von Thomas Platt (27.43.):
Dass es in einem freien Land Staatsfernsehen gibt – noch dazu in schockierendem Ausmass -, das ist der Skandal.
Die Zeitung macht den Untertanen zum Bürger! Wir brauchen eine Leselust-Prämie für die Schulen!
Warum geben wir Millionen von Euro für die Anschaffung von Tablets und Notebooks und Whiteboards in den Schulen aus – aber für Lese-Projekte haben wir kaum Geld übrig?
Die Frage stellte ich auf der Leipziger Buchmesse beim 2. Mitteldeutschen Bildungstag. „Ist die Zeitung zeitgemäß für die Schule“ lautete die Frage. Meine Antwort in einem Vortrag war eindeutig „Ja“:
Wer liest, entdeckt die Welt: Er weiß viel, er denkt mit, und er macht mit – in der Gesellschaft, in der sich Menschen souveräner bewegen, die sich Urteile bilden können anstatt Vorurteilen hinterher zu laufen. Die Zeitung macht den Untertanen zum Bürger.
Nicht die Hardware ist wichtig für die Bildung der Zukunft, sondern die Software, der Inhalt der Bildung, das was der Direktor Andreas Jantowski von der Thüringer Lehrerfortbildung (Thillm) Weltverständnis nennt und was im „Handbuch des Journalismus“ Weltkenntnis genannt wird.
Der komplette Vortrag am 14. März 2014:
Ich habe eine schwierige Klasse“, erzählt ein Lehrer, „am schlimmsten ist es am frühen Morgen. Die Schüler sind aggressiv, laut, springen wild umher, ohne jede Disziplin. Das änderte sich radikal, als wir morgens eine Zeitung für jeden Schüler bekamen. Ich hatte mich entschlossen, vor dem Unterricht eine halbe Stunde für die Zeitungslektüre zu geben.
Von einem Tag auf den anderen erkannte ich meine Klasse nicht wieder: Sie stürzten sich auf die Zeitung, unterhielten sich mit ihren Nachbarn über Artikel, halfen einander, wenn sich einer in der Zeitung verirrte.Klar musste ich mich auch zurückhalten. Sie lasen nicht die Artikel, die ich mir gewünscht hatte: Statt Politik stand der Sport vorne, statt Kultur das Vermischte.
Dieser Zeitungs-Auftakt am Morgen tat dem gesamten Unterricht gut. Als nach vier Wochen keine Zeitung mehr in die Schule kam, fehlte uns etwas – etwas Wichtiges. Das gemeinsame Lesen war zum Ritual geworden.
Dieses Gespräch mit einem Lehrer führte ich vor 25 Jahren. In der hessischen Universitätsstadt Marburg fand das vielleicht erste Schul- und Zeitungsprojekt statt, in dem eine Zeitung und eine Lehrerfortbildung zusammen in die Schule gingen.
(Es wäre wohl eine schöne Aufgabe herauszufinden, was sich in den Jahrzehnten solcher Schul-Zeitungsprojekte alles verändert hat: Welche Themen spielten 1985 eine Rolle, welche 2000 und welche heute? Wie sahen Lehrer die Projekte vor 30 Jahren? Und wie heute? Wie unterscheiden sich diese Projekte in West und Ost?)
25 Jahre – das scheint mit Blick auf Medien, aber auch auf die Gesellschaft eine Ewigkeit zu sein. Vor einem Vierteljahrhundert kannte kaum jemand das Internet, flächendeckende Netze für Handy wurden erst aufgebaut, das „Smartphone“ stand noch nicht einmal im Duden.
Die piependen oder singenden oder kreischenden Smartphones nerven heute die Lehrer. So haben wir schon einen Vorzug der Zeitung ermittelt, der ein Vierteljahrhundert überlebt hat:
Wer liest, braucht Konzentration und Ruhe; Lesen ist kein Nebenbei-Medium wie Radio-Hören oder Fernsehen auf dem Smartphone mit seinem kleinen Bildschirm. Hirnforscher warnen sogar davor, uns nur den hektischen Medien anzuvertrauen: Die Fähigkeit, sich zu konzentrieren leide schon – und sei bei den Studenten an den Universitäten unübersehbar.
Ich vermute, dass der Leseknick nach der zweiten Klasse – also Sieben- und Achtjährige lesen kaum noch – dass dieser Leserknick mit der Überforderung des Bewusstseins zu tun hat. Aber das ist nur eine Vermutung.
Offenbar verändern sich unser Gehirn und unser Bewusstsein nicht so rasant wie die Smartphone-Industrie, die uns schon Brillen und bald Kontaktlinsen anbieten wird, durch die wir nicht nur die wirkliche Welt sehen werden, sondern eine zweite und dritte Welt, die andere für uns zubereiten.
Dagegen ist die Zeitung ein Ruhe-Pol, ein Kälte-Pol – eben das genaue Gegenteil von Fiktion, auch das Gegenteil von „Second-Hand-Nachrichten“, also von allem, was geliket, gelinkt und abgekupfert wird in Twitter und Facebook und anderen Netzwerken.
Doch ich will nicht in eine wohlfeile Kulturkritik einstimmen: Unsere Welt und unsere Gesellschaft ist, wie sie ist. Dreißig Millionen Deutsche bewegen sich schon im mobilen Internet. bei der Altersgruppe unter dreißig sind es schon fast alle.
Das bedeutet aber nicht, dass wir – wenn wir über die nächste Generation sprechen – nicht gegensteuern können. So etwas nennen wir Bildung, und die Institution, die wir dafür geschaffen haben, ist die Schule.
Dabei muss die Zeitung nicht unbedingt gedruckt auf Papier erscheinen; sie kann auch auf dem Bildschirm eines Computers oder Smartphones zu lesen sein. Ich möchte nur am Rande die Vorteile des Papiers andeuten:
Hinter einen Zeitung habe ich mehr Ruhe als vor einem Computer; ich kann mich besser konzentrieren und mir einfacher einen Überblick verschaffen als auf einer Homepage. Das ist im Unterricht nützlich, aber mehr nicht.
Übrigens: Gehen Sie mal im Bahnhof oder am Flughafen in den Zeitschriften-Laden: Die größte Abteilung sind die Computer-Magazine; zu den großen gehören auch die Jugend-Zeitschriften. Warum wohl?
Es stimmt auch nicht, dass sich jungen Leute nicht mehr aus seriösen Quellen informieren – oder sich überhaupt nicht mehr für Politik im weiteren Sinne informieren.
Zwar schauen Jugendliche seltener als ihre Eltern in die gedruckte Zeitung, aber im Internet schlagen sie die Seiten der bekannten Magazine und Zeitungen auf – mit weitem Abstand vor der Tagesschau und anderen TV-Sendern. Das ist das Ergebnis einer Umfrage unter knapp 600 Schülern zwischen 12 und 22 aller Schulformen, die Josephine B. Schmitt von der Universität Hohenheim im Januar vorgestellt hat.
Die Zahlen sind beeindruckend und überraschend:
> 29 Prozent der Schüler nennen die Online-Angebote von Printmedien, wenn sie gefragt werden „Welche Internetseite nutzt Du aktuell am häufigsten, um dich über das tagesaktuelle politische Geschehen zu informieren?“
> Die sozialen Netzwerke folgen weit dahinter mit 15 Prozent,
> Google-News und ähnliche mit 10 Prozent;
> die Öffentlich-Rechtlichen erreichen 8 Prozent, knapp hinter den Privaten wie N24 oder ntv.
Josephine B. Schmitt meint: „Offensichtlich wirkt sich die Strahlkraft der auch aus der Offlinewelt bekannten Medienmarken im Internet positiv aus und gibt den jungen Nutzern das Gefühl, dass sie auf den entsprechenden Portalen verlässliche Inhalte finden.“
„Gut lesbar und einfach zu verstehen “ muss das ideale Online-Nachrichtenmedium für die jungen Leute sein; da unterscheiden sie sich nicht von den älteren Lesern. Das sind die entscheidenden Kriterien für eine Nachrichtenseite, die Jugendliche gerne nutzen wollen:
1. Verständlich muss sie sein.
2. sie ist aktuell („Sie informiert sofort, wenn es etwas Neues in der Welt gibt“)
3. sie ist unterhaltsam und abwechslungsreich
4. sie hat Bildergalerien
5. sie ist neutral
6. sie hat viele Hintergrund-Informationen
Keine große Rolle spielt die Partizipation, allenfalls mögen Jugendliche Umfragen und die Möglichkeit, Artikel zu bewerten.
Allzu sicher können sich die Journalisten von Zeitungen und Magazinen aber nicht sein, dass Jugendliche den hohen Wert von seriösen Angeboten erkennen.
„Die Vertrauenswürdigkeit von Nachrichtenquellen sind von geringerer Bedeutung“, stellt Josephine B. Schmitt fest. Daraus folgert sie – für Lehrer und Journalisten: Jugendliche müssen noch intensiver hinsichtlich der Herkunft und Vertrauenswürdigkeit von Informationen sensibilisiert werden.
Also – es kommt nicht darauf an, ob Papier oder Bildschirm, es kommt auf den Journalismus an. Es geht, ohne Übertreibung, um unsere Demokratie, es geht darum, wie wir künftig zusammenleben wollen.
Lesen als Kulturfähigkeit ist ein Merkmal einer zivilisierten, demokratischen Gesellschaft. Jedes Mitglied der Gesellschaft kann sich immer wieder selbstständig orientieren, informieren, sich neu justieren und sich so in die Gesellschaft einbringen.
So hat der Direktor des Thillm seinen Vortrag eingangs des Mitteldeutschen Bildungstags geschlossen. Ich gehe noch weiter:
Ohne unabhängigen Journalismus wird unsere Freiheit bald nicht mehr viel wert sein; ohne die Kontrolle der Mächtigen werden wir mit Propaganda abgespeist. Macht kontrolliert sich nur selten selber, sie neigt zur Selbstherrlichkeit und Abschottung.
Unsere Demokratie ist angewiesen auf Bürger, die gut informiert sind. Sie ist angewiesen darauf, dass eine Mehrheit der Gesellschaft informiert ist über die wichtigen Angelegenheiten und Debatten. Nur wer gut informiert ist, kann gut mitreden.
Wenn der Bürger nicht mehr Bescheid weiß, nehmen wir ihm seine Macht, nehmen wir der Demokratie ihre Vitalität.
Überlegen Sie sich bitte: Was passiert mit unserer Demokratie, sagen wir in zehn Jahren, wenn die Mehrzahl der Bürger keine Zeitung mehr liest – oder sagen wir: ohne seriösen, unabhängigen Journalismus in Wahlen geht und mitentscheiden soll?
Wir kennen heute schon den Zusammenhang: Dort wo die Menschen kaum Zeitungen abonniert haben, ist die Wahlbeteiligung gering. Zeitungs-Verweigerung und Wahl-Verweigerung gehören leider zusammen.
Die Grundlage für eine gut informierte Gesellschaft kann und muss die Schule schaffen. Wir wissen von großen Zeitungsprojekten in Schulen: Es ist möglich, die Lust am Zeitungslesen zu entfachen. Das setzt voraus, dass sie erst einmal eine Zeitung in die Hand bekommen, dass sie die Technik des Zeitungslesens lernen (ja, das muss man lernen), dass sie die Lust und die Möglichkeiten des Zeitungslesens entdecken.
Wer junge Menschen daran hindert, die Lust am Lesen zu wecken, schadet ihnen und schadet – auf die Zukunft gesehen – unserer Demokratie. Dafür brauchen wir keine Milliarden wie zur Rettung böser Banken. Wir könnten eine millionenstarke Leselust-Prämie gebrauchen. Wer so viel Phantasie hat, Abwrack-Prämien für Autos zu erfinden, könnte auch eine Leselust-Prämie erfinden.
Ich bin sicher: Die meisten Lehrerinnen und Lehrer machen mit. Meine Erfahrung aus fast dreißig Jahren mit Zeitungs-Schulprojekten ist eindeutig: Die meisten Lehrer machen sogar begeistert mit, wenn sie die erste Scheu abgelegt haben und sich die Schulleiter nicht allzu sehr querlegen und Eltern nicht allzu aufmüpfig sind und schimpfen „Unsere Kinder sollen viel lernen und nicht Zeitungen lesen“.
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Die Thüringer Allgemeine veranstaltet das Zeitungsprojekt „Tinte“ für Grundschüler zusammen mit dem Thillm. Im vergangenen Jahr haben mitgemacht tausend Schüler aus über 50 Klassen. Die Schüler haben nicht nur gelesen, sondern auch selber geschrieben: Fast 400 Zeitungsseiten sind in dem sechswöchigen Projekt entstanden.
Die Schüler bekamen ein Schülerheft, Reporterausweise und -blöcke, lernten den Aufbau der Zeitung kennen (Was ist ein Aufmacher? Was kommt in eine Nachricht? Was gehört in eine Reportage?), sie werteten Texte aus, schrieben erst kleine Nachrichten, dann längere Texte über ihre Schule, das Projekt und ihre Stadt. Die Kinder interviewten Lehrer, Direktoren, Redakteure, Händler, Marktfrauen und Politiker.
Es gibt eine Auftakt- und eine große Abschlussveranstaltung, bei der alle Klassen ihre Tinte-Projekte zeigen und vorführen. Auch im Internet wird das Projekt natürlich umfangreich begleitet.
„Tinte“ geht weiter, auch wenn es im Osten – im Gegensatz zu Zeitungen und Schulen im Westen – schwierig ist, Sponsoren zu finden.
Im Anschluß an die Vorstellung der Thüringer „Tinte“ stellte die Leipziger Volkszeitung ihr Schulprojekt auf dem Mitteldeutschen Bildungstag vor.
Was ist eine Demokratie ohne Meinungs- und Pressefreiheit? (Zitat der Woche)
Ohne den Schutz der Meinungsfreiheit droht jede Zivilgesellschaft zu ersticken. Und ohne eine funktionierende Gewaltenteilung ist das Schicksal jeder Demokratie über kurz oder lang besiegelt.
Berthold Huber, noch IG-Metall-Vorsitzender, bei der Verleihung der „Otto Brenner Preise“ in Berlin, 12. November 2013
Pressefreiheit und Menschenrechte
Pressefreiheit ist Teil der Menschenrechte.
Entscheidung des Obersten Gerichtshof in Israel vor einigen Jahren; Israel hat keine Verfassung. Mitgeteilt in einer Diskussion in Jerusalem von der Medien-Wissenschaftlerin Tehilla Shwartz-Altshuler
#bpb50israel
Die schönsten Zitate zum Journalismus (1): Pressefreiheit
Pressefreiheit nützt nur,
wenn es unbequeme Journalisten gibt
Gerhart Kocher, Schweizer Publizist (Bern, 1939). Dies ist eines der Zitate, die als Appetithappen im Programmheft der ABZV stehen, der „Akademie Berufliche Bildung der deutschen Zeitungsverlage“. In den kommenden Tagen bin ich in Israel unterwegs und werde ein paar der schönsten Happen präsentieren – wie diesen:
Es gehört oft mehr Mut dazu,
seine Meinung zu ändern,
als ihr treu zu bleiben
Friedrich Hebbel, Dramatiker und Lyriker (Wesselburen – Wien, 1813-1863)
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