Alle Artikel mit dem Schlagwort " Sprache"

Martin Walser, der Dichter des Bandwurm-Wortes

Geschrieben am 7. November 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 7. November 2012 von Paul-Josef Raue in Friedhof der Wörter.

Warum lieben wir Deutschen Bandwurm-Wörter? Warum mögen wir es kompliziert, wenn es doch einfach geht – und wenn einfach sogar schön ist?

Ein Wort verliert mit jeder Silbe seine Kraft, erst recht mit jeder überflüssigen Silbe. Schopenhauer, der Philosoph, spottete schon über die Wortdreimaster. Den hinteren Mast kann man oft einfach entfernen, schlägt er vor.

Was ist der Unterschied zwischen Glatteisbildung und Glatteis? Glatteis ist nur glatt, wenn es sich gebildet hat.

Und was der Unterschied zwischen Rückantwort und Antwort? Also können wir oft auch den vorderen Mast entfernen und bekommen ein kurzes, kraftvolles Wort.

Der Dichter des Bandwurmwortes ist Martin Walser. In seinem neuen Roman „Das dreizehnte Kapitel“ strapaziert er die Geduld der Leser, indem er neue Wörter erfindet – lang, länger, am längsten. Eine Auswahl:

  • Gefühlsausführlichkeiten
  • Zudringlichkeitsverfasser
  • Unerwachsenheiten
  • Voraussetzungslosigkeit-Beziehung
  • Mittagsonnenfarbe
  • Tannenwipfelwiegen

Wenn wir ein Hauptwort mit einem anderen kuppeln, zerstören wir seine Anschaulichkeit. Walsers „Gewohnheitskäfig“ brennt kein Bild in unserem Kopf – Im Gegensatz zum „Käfig voller Gewohnheiten“.

Und mein „Bandwurmwort“ kann auch anschaulich werden: „Wörter, so lang wie ein Bandwurm“.

 

Aus der Thüringer Allgemeine vom 22. Oktober 2012

„Zum Pinkeln zu McClean“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 6. November 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 6. November 2012 von Paul-Josef Raue in Friedhof der Wörter.

Küssen Sie gerne? Und wo? Wie wäre es am Bahnhof. Dort hat die Bahn eine Küss-Zone eingerichtet: „Kiss and ride“, übersetzt: Küssen und Fahren.

Dieses Schild findet man auch in Taiwan und Wien, es soll in holprigem Englisch nicht das Rotlicht-Viertel anzeigen, sondern: Hier darf man parken, hier darf man küssen (oder auch nicht) und die Liebste in den Zug setzen. Also: Eine Kurzpark-Zone.

Über die Vorliebe der Deutschen Bahn für Anglizismen wunderte sich sogar ein Engländer, den ein Reporter des „Hamburger Abendblatt“ auf dem Hauptbahnhof sagen hörte: „Wenn die Würstchenstände und die Brezelbuden nicht gewesen wären, hätte ich geglaubt, ich wäre bei British Rail, nicht bei der Deutschen Bahn.“

Und der deutsche Sprachprofessor Walter Krämer grollte im Bahnhof: „Zum Pinkeln muss man zu McClean.“

Als Bahnchef Grube jüngst bei den „Molsdorfer“ Gesprächen in Erfurt zu Gast war, kündigte er an: Die Bahn spricht wieder deutsch. „Call a bike“ soll „Mietrad-Angebot“ heißen, der Flyer „Handzettel“ – und, hoffentlich, der „Service-Point“ wieder „Auskunft“.

Ganz im Grubeschen Sinn wirbt die Bahn in Köln mit einem Spruch, der einen Sprach-Preis verdient hätte:

„Mobilitätskette? Seid ihr jeck? Ich sach dazu: Mit Bus und Bahn.“

So macht sich die Bahn über die „Mobilitätskette“ lustig, die auf unseren „Friedhof der Wörter“ gehört, und lästert fröhlich, ins Hochdeutsche übersetzt: „Seid ihr verrückt? Ich sag dazu: Mit Bus und Bahn.“

Thüringer Allgemeine 5. November 2012

Zeitungen müssen ein Markenartikel der Demokratie bleiben

Geschrieben am 24. Oktober 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 24. Oktober 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik, Recherche.

In einer Demokratie ist nichts wertvoller als der Journalismus  –  aber ein Journalismus, der recherchiert, was die Mächtigen planen und im Verborgenen tun; der die Bürger ernst nimmt, ihre Interessen und Bedürfnisse kennt und für sie Wichtiges vom Unwichtigen trennt; der viele Meinungen anbietet, auch Querdenkern das Wort gibt, der Debatten anstößt und  führt.

Qualität ist nur, wenn Zeitungen ein Markenartikel der Demokratie bleiben. Alle Freiheiten sind wenig wert ohne die Freiheit der Presse. Diese Freiheit ist allerdings kein Privileg für uns Journalisten, sondern Verpflichtung, den Bürgern die Kontrolle der Macht zu ermöglichen.

 

Je tiefer wir kontrollieren, je genauer wir informieren, je stärker wir die Bürger mitwirken lassen, umso mündiger werden sie. Das bedeutet auch: Wenn der Journalismus dies nicht leistet, wird der Bürger entmündigt. Aus der Schwäche des Journalismus folgt die Schwäche der Demokratie. Wenn wir über den Wert des Journalismus sprechen, dann sprechen wir über den Wert unserer Gesellschaft.

 

Oft wird die journalistische Qualität allein an professionellen Kriterien gemessen. Doch guter Stil, Verständlichkeit oder saubere Recherche sind  kein Selbstzweck. Wem nützt eine Überschrift, die ein neues Gesetz erläutert, wenn sie reizlos ist, wenn sie nicht einlädt zum Lesen?

 

Die Beherrschung des Handwerks und der klare Willen, dem Leser zu dienen, ist Voraussetzung für Qualität.  Daraus wächst die Aufgabe, die Freiheit der Bürger zu sichern.

 

So bestimmt nicht die Zahl der Auslands-Korrespondenten die Qualität, auch nicht die Eleganz der Edelfedern oder die Zitierung der Leitartikler. Das behaupten zwar die selbst ernannten Gralshüter der „Qualitäts-Medien“, doch Emil Dovifat hat schon 1955 zu Recht auch den Wert der Provinz erkannt:

 

„Jede Zeitung hat ihren Inhalt so zu gestalten, daß sie in ihrem Verbreitungsgebiet eine Lesergemeinde gründen und behaupten kann.“ Es komme darauf an, selbst in kleinen Blättern die Auswirkungen der großen Politik für den Alltag der Leser klar zu machen.

 

Der Journalist ist selbstbewusster Diener der Bürger. Als Leser ist der Bürger, um noch einmal Dovifat zu zitieren, ein „seltsamer, aber oft auch nützlicher“ Mitarbeiter. Wir umsorgen ihn nicht nur mit Informationen, wir sorgen auch dafür, dass er der Demokratie nicht abhanden kommt, dass er souveräner Bürger bleibt und sich nicht der Bevormundung durch den Staat ergibt.

 

Souveränität setzt Kenntnis voraus. So ist die tiefe Recherche der eigentliche Wert des Journalismus. Wir müssen zuerst die Nachrichten entdecken, ehe wir sie bewerten, einordnen und veredeln  können.

 

Unsere Freiheit ist kein Wert, der einmal erfolgreich errungen ist, sondern ein Wert, um den wir stets kämpfen müssen. Jede Macht, auch in der Demokratie, neigt dazu, Obrigkeit zu werden. Sie versteckt sich hinter Daten- und Persönlichkeitsschutz, richtet Schattenhaushalte ein und pocht auf Geheimhaltung, um unbehelligt zu bleiben. Die Macht will nicht kontrolliert werden.

 

Das Verfassungsgericht hat im Spiegel-Urteil vor einem halben Jahrhundert den Wert des Journalismus formuliert als: „nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkt“. Diesen Wert müssen wir verteidigen.

 

 

 

Ein Beitrag für die Serie „Zukunft des Qualitätsjournalismus: Was ist uns Journalismus wert?“ von dapd, erschienen unter anderem im Echo (Darmstadt) und http://www.nibelungen-kurier.de/?t=news&s=Aus%20(Worms)

(zu: Handbuch-Kapitel 57 Wie können Zeitungen überleben + 48-49 Wie Journalisten entscheiden (sollten) + 3 Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht)

Der Deppenapostroph: Ein Häkchen zu viel (Friedhof der Wörter)    

Geschrieben am 11. September 2012 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 11. September 2012 von Paul-Josef Raue in Friedhof der Wörter.

Vorab:
Wer weiß, wann aus dem „Genetiv“ ein Genitiv wurde?

Was ist ein Deppenapostroph? Ein Liebhaber der deutschen Sprache aus Ellrich hat ihn so getauft, und er hat ihn auf den TA-Lokalseiten entdeckt:

In der Lokalsport-Bildzeile: „Glückauf´s Katharina Bartsch lebt von ihrer Antrittsschnelligkeit“, auf der Leserseite: „Mohring’s Position“ und im TA-Tippspiel „Enrico Weber´s Kreisoberligatipp“.
 
Der Deppenapostroph, besser: Deppen-Apostroph, ist der englischen Grammatik entlehnt: Dort wird der Genetiv, wie in unserer Sprache, auch mit einem angehängten „s“ gebildet: aber er wird mit einem Häkchen, einem Apostroph, vom Wort getrennt. „Obama’s dog“, mit Häkchen, entspricht im Deutschen: „Obamas Hund“, ohne Häkchen.
 
Das Häkchen beim Genetiv kam in Mode, als der Deutsche seine Liebe zu amerikanischen Schlagern entdeckte und zu Klopsen, die zwischen zwei Brötchenhälften kleben. Harrys Kneipe hieß plötzlich: Harry’s Kneipe; und der kleine Frisörladen: Inga’s Haarladen.
 
Das Amerikanische war modern, so meinte man, eben nicht so provinziell wie das Deutsche. Wir machten jeden Unsinn mit, wenn er nur amerikanisch klang.
 
In der Tat ist die englische Sprache verführerisch einfach: Kein der-die-das, sondern nur ein „the“; wenige Ausnahme gibt es beim Konjugieren und Deklinieren, während jeder, der unsere Sprache lernt, schier verzweifelt, wann ein „n“ anzuhängen ist: dumme Hühner, die dummen Hühner, den dummen Hühnern.
 
Ausgerechnet beim Genetiv ist die deutsche Sprache einfacher als die englische, zumindest nutzen wir ein Häkchen weniger. Und was machen wir ins Englische vernarrte Deutschen? Wir setzen den Deppenapostroph, als wär’s ein Stück vom Deutschen.
 
Leserinnen schrieben mir nach der Veröffentlichung in der TA (10. September 2012) so und ähnlich:

Sehr geehrter Herr Raue,      
als regelmäßiger TA-Leser, aber unbedarfter Leserbriefschreiber muss ich heute mal meine Zurückhaltung aufgeben. Des öfteren hatte ich schon meinen Spaß an Ihren Artikeln nicht nur in dieser Spalte.

Heute hatte ich nicht nur meine Freude an dem „Deppen-Apostroph“ sondern an dem „Genetiv“, beim ersten Mal glaubte ich noch an einen Tippfehler. Als diese Schreibweise aber konsequent weiter beibehalten wurde, kam ich ins Zweifeln und sah in der einschlägigen Literatur nach.

Nun, je nach persönlicher Einstellung kann man den Fehler peinlich oder sehr witzig finden. Ich finde es köstlich, daß ausgerechnet in einer detaillierten Abhandlung über die Schreibweise des „Genitivs“(?) dieser Fehler unterlaufen ist!

Meine Antwort:

Sie haben Recht, und ich habe eine Vergangenheit. Früher schrieb man den Genitiv „Genetiv“, der Duden nimmt das Wort auch in der aktuellen Ausgabe noch auf – aber mit dem Hinweis „veraltet“.

Sie merken, auch ich bin kein junger Mann mehr, habe den „Genetiv“ noch gelernt und nicht aus dem Kopf entfernt.

Sie haben aber Recht: Heute schreiben wir „Genitiv“, und der „Genetiv“ ruht auf dem Friedhof der Wörter. Vielleicht schreibe ich am nächsten Montag davon.

Reisejournalismus, PR und Leitlinien

Geschrieben am 27. August 2012 von Paul-Josef Raue.

Auch Mitarbeiter des Springer-Verlags nehmen Einladungen von Veranstaltern an und schreiben über die Reise. Doch sie teilen es vorbildlich ihren Lesern mit:

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Studiosus Reisen. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter www.axel-springer.de/unabhaengigkeit

Ähnlich ist der Hinweis auf den Auto-Seiten, etwa „Die Reise zur Präsentation des B-Max wurde unterstützt von Ford“ oder „Die Reise nach Pebble Beach wurde unterstützt von Mercedes und Bugatti“.

Statt des unsäglichen Worts „Standards“ heißt es  auf der Webseite: „Leitlinien“.

Quelle: Welt vom 25. August 2012 „Noch einmal Albanien“ / „Freiheit für Hinterbänkler“ / „Oldtimer als Wertanlage“

 

(zu: Handbuch-Kapitel  51-52 Pressesprecher und PR + 48-49 Presserecht und Ethik + Service B Medien-Kodices)

Beischlaf auf einem einzelnen Bett (Zitat der Woche)

Geschrieben am 26. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 26. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Ist der Urlaub weniger wert, wenn statt eines Doppelbetts zwei Einzelbetten im Hotelzimmer stehen? Funktioniert dann die Liebe nicht mehr auf Menorca?

Diese Klage hat ein Richter in Mönchengladbach verworfen mit einem sprachlichen Kunstwerk, auch wenn ein Satz aus 27 Wörtern besteht, gerade mal zwei Verben anbietet (bekannt sein / ausüben), die einem romantischen Absturz gleichkommen. Der Welt sei dank, dass dieser Satz der deutschen Rechtspflege nicht verborgen bleibt, zumal der Richter vehement dem Verdacht entgegentritt, das in deutschen Gerichten Gefühle und eigene Erfahrungen keine Rolle spielen:

Dem Gericht sind mehrere allgemein bekannte, übliche Variationen der Ausübung des Beischlafs bekannt, die auf einem einzelnen Bett ausgeübt werden können, und zwar zur Zufriedenheit aller Beteiligten.

(Welt, 25. August 2012, Reise)

Amerikaner lieben „bratwurst“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 19. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 19. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Friedhof der Wörter.

Vor allem junge Leute, die bei „I love you“ schmelzen, mögen amerikanische Wendungen, für die sich sogar ein eigenes Wort ins Deutsche geschlichen hat: Anglizismen. Auch Werber mögen die amerikanischen Wörter in der deutschen Sprache, wenn sie den „Sale“ ins Schaufenster schreiben oder „Service Point“ in den Bahnhof.

Nicht nur wir Deutsche mögen Wörter aus Amerika, auch Amerikaner mögen deutsche. Etwa anderthalb Millionen Amerikaner sprechen deutsch sogar in der Familie, ein paar hundert deutsche Wörter gehören zum Sprachschatz der Menschen zwischen Boston und Los Angeles.  

„Bratwurst“ und „sauerkraut“, „leberwurst, schnitzel“ und „schnapps“ –  wenn Amerikaner von Essen und Trinken sprechen, entlehnen sie mit Vorliebe unsere deutschen Wörter. In Alaska und auf Hawaii feiern sie mit bajuwarischer Begeisterung das „oktoberfest“.

Auch Schwermut scheint so typisch deutsch, dass sich „weltschmerz“ und „waldsterben“, „angst“ und „kaputt“ in amerikanischen Zeitungen finden. Und weiter: „plattenbau“ und „kindergarten“ schätzen die Amerikaner so sehr,  dass sie keine eigenen Wörter dafür prägen wollten. Die deutsche Sprache ist eine der schönsten Sprachen der Welt, wie uns die Amerikaner beweisen –  „zigzag“.

(Thüringer Allgemeine, 20. August 2012)

Gänsefüßchen in der Sprache der Nazis (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 13. August 2012 von Paul-Josef Raue.

Wer ein Wort ironisch gedeutet haben will, setzt es in „Gänsefüßchen“; so will er Distanz oder Ironie ausdrücken. Die Nationalsozialisten haben sie oft genutzt, vielleicht sogar erfunden.

Victor Klemperer, Romanistik-Professor in Dresden, schrieb in seinem Wörterbuch des Dritten Reichs:

Chamberlain und Churchill und Roosevelt sind immer nur „Staatsmänner“ in ironischen Anführungszeichen, Einstein ist ein „Forscher“, Rathenau ein „Deutscher“ und Heine ein „deutscher Dichter.“

Die Nazis entzogen Klemperer den Lehrstuhl, da er Jude war; sein „Wörterbuch“ schrieb er abends, wenn er von der Zwangsarbeit zurückkehrte. Seinem Wörterbuch gab er den lateinischen Namen „LTI (Lingua Tertii Imperii), also: die Sprache des Dritten Reichs; so wollte er die Gestapo bei einer Hausdurchsuchung auf eine falsche Fährte locken.

Die Nazis, stellte Klemperer fest, haben keine neuen Wörter erfunden, sie verdrehten einfach den Sinn.

Nach dem Krieg listete der Journalist Dolf Sternberger gut zwei Dutzend dieser Wörter auf: Das „Wörterbuch des Unmenschen“.

Ein Beispiel: „Behandlung“. Das Wort taucht in Hunderten von SS-Dokumenten auf bis hin zur Wendung: Gefangene einer Sonderbehandlung zuführen – „das war ein Euphemismus für den Massenmord“.

„Behandlung“, immer noch ein alltägliches Wort, war für Sternberger ein Begriff der Selbstüberhebung:

„Wer Menschen behandeln will, Menschen schlechthin, wer sich in der Menschenbehandlung üben will, der setzt sich selber über die Menschen. Hier wird ein Über- oder Obermensch postuliert, der sich Untermenschen untertänig macht.“

Wie die Süddeutsche in die Bildzeitung kommt

Geschrieben am 12. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 12. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

BILD am Samstag, 11. August 2012, auf der Titelseite ganz oben rechts:  Foto einer lächelnden Kanzlerin und die Zeile „Promis fragen, Kanzlerin Merkel antwortet“. Eine typische Boulevardzeile, Promi-Zirkus und Politik ins Menschliche übersetzt.

Nur – die „überraschenden Einblicke“ standen am Tag zuvor im Magazin der Süddeutschen Zeitung, füllten dort 16 Seiten – und waren eingeführt mit Sätzen wie in Bild: „Tolle Fragen“; die Antworten „frotzelig, lustig, rührend“; „alle sind knapp und ganz klar. So ist sie halt unsere Kanzlerin“. Oder: „Wie tickt die Frau, die sie die mächtigste Frau der Welt nennen?“

Die meisten Antworten sind allerdings schwächer als die Fragen, nicht selten banal, mehr Bild als SZ, vom SZ-Layout aufgeblasen auf 16 Seiten (46 Kanzlerinnen-Sätze, davon kurze wie „Ja, immer“, 2 Bibelsprüche und nur einen Tipp auf die verschwobelte Frage des Piraten-Politikers Johannes Ponader „Stellen Sie sich vor, ich werde Ihr Nachfolger: Welche drei Dinge geben Sie mir als Tipps mit auf den Weg?“ Und auf eine 50-Wörter-Frage von Olli Dittrich eine 7-Wörter-Antwort.

„Für die Liebe braucht man gar kein Schriftzeichen“, antwortet die Kanzlerin auf Charlotte Knoblauchs Frage, wie sich die Liebe einfach in 160 Zeichen erklären lässt. Wer die besten Antworten lesen will, schaue in Bild, das reicht.

Zur Erinnerung: Die Süddeutsche hat erst vor wenigen Wochen die Annahme eines Nannen-Preises verweigert, weil auch Bild einen bekam.

Noch eine Erinnerung, ein Zitat von Werner Meyer von 1993, auf Seite 214 im Handbuch:

Ein Hauch von Boulevard weht selbst durch die ernsthaftesten deutschen Zeitungen: Die Süddeutsche Zeitung wünscht sich mehr Lese-Spaß…

(zu: Handbuch-Kapitel 35 Der Boulevardjournalismus)

Schlussverkauf beim Segeln (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 11. August 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 11. August 2012 von Paul-Josef Raue in Friedhof der Wörter.

„Salem aleikum“ ist arabisch und bedeutet: „Friede sei mit Euch!“. So begrüßen sich die Menschen von Istanbul bis Mekka. Arabisch zieht auch in die Werbung unserer Kaufhäuser ein, ein bisschen abgewandelt, wie wir es im Vielsprachen-Kauderwelsch unserer Tage gewohnt sind: „Sale“.

Wir verwandeln dabei den arabischen Frieden in einen deutschen Schlussverkauf. Unsinn, sagen Menschen, die der englischen Sprache mächtig sind. „Sale ist englisch und wird ganz anders ausgesprochen, nämlich: sähl.“

Wer des Englischen weniger kundig oder unkundig ist, wird fragen: Was hat der Schlussverkauf mit dem Segeln zu tun? In der Tat liegt die Aussprache von „sale“ wie „kaufen“ und „sail“ wie „segeln“ nahe beieinander. Um die Verwirrung auf die Spitze zu treiben, hat „sale“ im Englischen eine Doppelbedeutung: der ganz normale Kauf zu normalen Preisen ebenso wie der Schlussverkauf.

Bei so viel Verwirrung wundert man sich über den rasanten Aufstieg des Wortes „Sale“ im Deutschen, erst recht in deutsch-arabisch-englischen Kombinationen wie „Sommer-Sale“.

Werbe-Experten begründen den „Sale“ mit der Kürze des Wortes: Es springt den Käufern ins Gesicht, kann in Riesenbuchstaben geschrieben werden − im Gegensatz zu den drei Silben des deutschen „Schlussverkauf“, die zudem so reizvoll zu lesen sind wie ein Bußgeldbescheid.

Beide Wörter taugen nicht: „Schlussverkauf“ ist lustlos, „Sale“ für viele unverständlich. Wem fällt ein Wort ein, verständlich und schön?

Journalisten-Handbuch.de ist ein Marktplatz für journalistische Profis. Wir debattieren über "Das neue Handbuch des Journalismus", kritisieren, korrigieren und ergänzen die einzelnen Kapitel, Thesen und Regeln, regen Neues an, bringen gute und schlechte Beispiele und berichten aus der Praxis.

Kritik und Anregungen bitte an: mail@journalisten-handbuch.de

Rubriken

Letzte Kommentare

  • Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
  • Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
  • Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
  • Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
  • Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...

Meistgelesen (Monat)

Sorry. No data so far.