Alle Artikel mit dem Schlagwort " Sprache"

„Polnische Todeslager“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 15. Juni 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 15. Juni 2012 von Paul-Josef Raue in Friedhof der Wörter.

„Terroristen lebten in einer konspirativen Wohnung in Zwickau“, so stand es in vielen Zeitungen.

Wie wird eine Wohnung konspirativ? Durch dunkle Möbel, grelle Lampen oder braune Tapeten?

Nein, eine Wohnung kann schön sein und hell, gemütlich und sauber − aber niemals konspirativ; vielmehr ist es eine Wohnung von Verschwörern, also von Menschen, die eine Konspiration planen.

Es gibt auch keinen morgendlichen Spaziergang, sondern nur einen Spaziergang am Morgen; kein elterliches Haus, sondern das Haus der Eltern oder das Elternhaus.

Ein Eigenschaftswort kann kein Hauptwort vertreten, weder die Konspiration, noch der Morgen, noch die Eltern. Wer es dennoch tut, kann im schlimmsten Fall sogar Völker gegeneinander aufbringen.

US-Präsident Obama ehrte einen Polen mit der Freiheitsmedaille und sprach von einem „polnischen Todeslager“, aus dem der Geehrte Berichte geschmuggelt hatte. Doch die Todeslager waren nicht polnisch, sondern von deutschen Nazis gebaut. Polnische Politiker, quer durch alle Parteien, gerieten in Rage und fragten den befreundeten US-Präsidenten:

  • Warum verwischt er den Unterschied zwischen „polnischen Todeslagern“ und „Todeslagern in Polen“?
  • Will er sagen, auch Polen hätten in den Nazi-Lagern getötet?
  • Hat er vergessen, dass mehr als sechstausend „Gerechte unter den Völkern“ aus Polen kamen?

Eine Beleidigung des polnischen Volks!, sagt ein Politiker. Inkompetent!, ein anderer. Sogar der Ministerpräsident schaltet sich ein: „Wer von polnischen Todeslagern spricht, der spricht, als habe es keine Nazis gegeben, keine deutsche Verantwortung.“

Zwei befreundete Nationen streiten sich − nur weil der Präsident ein Hauptwort in ein Eigenschaftswort verwandelte.

Sprechen wir polnisch zur EM? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 8. Juni 2012 von Paul-Josef Raue.
7 Kommentare / Geschrieben am 8. Juni 2012 von Paul-Josef Raue in Friedhof der Wörter.

Wo wohnen die deutschen Fußballer bei der Europameisterschaft? In Danzig? Oder in Gdansk?

Da Sprache verständlich sein muss, sprechen wir von Danzig. So verheddert sich unsere Zunge nicht: Wie spricht man Gdansk? So gebrauchen wir ein Wort, das schon die Großeltern kannten.

Da Sprache auch der Verständigung dient, schwingen in Wörtern bisweilen Bedeutungen mit, die an schwere Zeiten erinnern, an Krieg und Besetzung, Mord und Vertreibung.

Schwingt nicht der Anspruch mit, das schlesische Breslau müsse wieder deutsch werden – wenn wir etwa Breslau sagen statt Wroclaw? Ist das schon Revanchismus? Einige äußern den Verdacht.

In einem deutsch-polnischen Internet-Forum schreibt „Falk“:

„Ich finde ein gewisser Respekt gebietet, gerade bei der deutsch-polnischen Geschichte, dass versucht wird die landesübliche Benennung der polnischen Städtenamen zu benutzen, wenn auch ich finde, man sollte hier nicht päpstlicher als der Papst sein…Wenn der Engländer zum Oktoberfest nach Munich (München!) fährt, oder der Deutsche zum Mode kaufen nach Mailand (Milano) fliegt, dann fehlt halt die historische Brisanz.“

„Tommy“ schreibt dagegen: Wenn man deutsch spricht sollte man auch den deutschen Namen für eine Stadt benutzen; wenn man polnisch spricht dann eben den polnischen Namen. Leipzig heisst auch Lipsk auf Polnisch, da sagt ja auch keiner „jestem z Leipzig“ oder “ jestem z münchen“.“

Also – sprechen und schreiben wir deutsch, wenn der Ball rollt. Und sprechen wir– aus Respekt – polnisch, wenn ein polnischer Freund diese Rücksicht verlangt.

Die letzte Tinte – Metaphern und der Film im Kopf

Geschrieben am 6. Juni 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 6. Juni 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Friedhof der Wörter.

„Es ist schrecklich“, sagt Marcel Reich-Ranicki, Deutschlands berühmtester Kritiker. „Es ist ekelhaft“, sagt er, während er das Israel-Gedicht von Günter Grass liest und ein Journalist zuhört.

Doch an einer Stelle stockt der strenge Mann: „Mit letzter Tinte“. Das sei natürlich gut, sagt er.

Der Journalist ist erstaunt: „Das finden Sie gut?“ „Ja“, antwortet Reich-Ranicki.
„Ist das Bild nicht etwas abgegriffen?“, fragt der Journalist. „Nein! Bestimmt nicht! Das ist doch ein Symbol!“

„Die letzte Tinte“ ist ein Sprachbild. Wer spricht und mit Worten ein Bild zeichnet, der will, dass im Kopf des Lesers ein Film läuft.

Wir sehen den Dichter, wie er an seinem Schreibtisch mit einem Füller ein Gedicht schreibt. Die „letzte Tinte“ verwandelt das einfache Bild in eine Metapher, sie verweist auf eine Bedeutung hinter dem Bild: Der Dichter ist alt, er schreibt sein letztes Werk, benutzt zum letzten Mal seinen Füller.

„Die letzte Tinte“ erinnert noch an eine andere Metapher: Der letzte Blutstropfen; er spricht von der übermenschlichen, gar heldenhaften Anstrengung im Angesicht übermächtiger Feinde und des Todes.

„Die letzte Tinte“ mag kokett klingen, zumal sich der Dichter guter Gesundheit erfreut und keinem Händel aus dem Weg geht. Es ist ein gutes Bild in dem Sinne: Im Kopf des Lesers werden Bilder lebendig, ergeben einen Sinn; ob man ihn teilt, ist eine andere Sache.

Wie schön ist „die letzte Tinte“ im Vergleich zu schiefen Bildern, mit denen wir oft belästigt werden. Welcher Film läuft in unserem Kopf ab, wenn wir beispielsweise lesen: „Wir sollten die Spitze des Eisbergs nicht unter den Teppich kehren“?

(Volker Weidermanns Interview mit Grass, auf das sich der Text bezieht, stand in der FAS am 8. Apri l2012)

(zu: Handbuch-Kapitel 16 „Lexikon unbrauchbarer Wörter“, Metaphern wie Beschreibung (S. 73), sich zu etwas mausern (79), überwältigende Mehrheit (80), aus dem Boden schießen wie die Pilze (82), das Quecksilber kletterte auf 30 Grand  (83), Todesfälle, die von Unfällen gefordert werden („törichte, überreizte Metapher schrecklichen Ursprungs, 86), Wetterfrösche (89) – auch: Klischee (77), abgewetzte Metaphern (80)

Wie schreibe ich eine gute Geschichte? (Zitat der Woche)

Geschrieben am 28. Mai 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 28. Mai 2012 von Paul-Josef Raue in Ausbildung, Recherche.

„Reduzieren Sie Ihre gut recherchierte Geschichte auf weniger Personen und weniger Schauplätze, trennen Sie sich davon, dass die Geschichte ein ausgeschriebener Recherche-Nachweis ist – dann wird sie eine richtig gute Geschichte.“

(Hans Ulrich Kempski – zitiert vom neuen Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke auf die Frage „Welcher berufliche Rat hat Ihnen besonders geholfen?“, Medium-Magazin-Fragebogen, 4-5/2012, Seite 74)

(zu: Handbuch-Kapitel 33 „Wie man eine Reportage schreibt“)

Volo-Werkstatt mit Wolf Schneider: Besser schreiben!

Geschrieben am 15. Mai 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 15. Mai 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Ausbildung.

In der aktuellen Zeit (33/2012) findet jeder Volontärsausbilder eine exzellente Grundlage für eine Sprach-Werkstatt: Eine Deutsch-Stilkunde in 20 Lektionen von Wolf Schneider: „Zählen wir die Silben“ oder „Geizen wir mit Adjektiven“ oder „Mit Satzzeichen Musik machen“.

So  könnte die Werkstatt über ein halbes Jahr arbeiten: In jeder Woche gilt es, eine Regel besonders zu beachten, gute und schlechte Beispiele aus der eigenen Zeitung, den eigenen Texten und anderen Blättern zu notieren.  Nach dem halben Jahr wird sich die sprachliche Qualität der Texte deutlich verbessert haben.

Wer noch intensiver arbeiten will, dem sei Wolf Schneiders Taschenbuch „Deutsch fürs Leben“ empfohlen – mit 50 Regeln, die für eine Jahres-Werkstatt reichen.

Bitte: Mailen Sie mir bitte gelungene und missratene Sätze aus Zeitungen und Magazinen, die Sie in ihren Werkstätten entdecken – an:

PJ@raue.it

 
(zu Handbuch-Kapitel 11-16  „Schreiben und Redigieren“)

Wer ist ein guter Kritiker?

Geschrieben am 14. Mai 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 14. Mai 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Vorbildlich (Best Practice).

„Die Texte sind lebensnah, der Autor hat ein Herz“, so schreibt die FAZ über ihren Filmkritiker Michael Althen, der, nicht einmal 50 Jahre alt, im vergangenen Jahr gestorben ist.

Was macht den Zauber seiner Texte aus? Wer einen Film gesehen hat und die Kritik liest, sagt sich: „Woran liegt es, dass er über Erfahrungen und Empfindungen schreibt, von denen ich dachte, ich wäre mit ihnen allein?“ (FAZ vom 12. Mai)

Was wäre ein weniger guter Kritiker? Einer der „nur in den Betrieb, ins jeweilige Milieu hineingesprochen hätte“.

Selbst die Künstler mochten seine Texte. So sitzen Autoren, Regisseure und Schauspieler in der kleinen Jury, die den Althen-Preis für Kritiker vergeben wird, den die FAZ stiftet. „Es geht um Kritik, die nicht unbedingt recht haben will, um Kritik, die sich die eigenen Gefühle nicht mit wasserdichten Begriffen vom Hals hält, um Kritik, die vom Bewusstsein lebt, dass analytische Schärfe und Wahrhaftigkeit der Emotion einander nicht ausschließen.“

Um von Althen zu lernen, wäre es gut, wenn es ein Buch mit seinen besten Kritiken gäbe. Das Taschenbuch „Warte, bis es dunkel ist“ ist vergriffen. Zu lesen sind darin so schöne Sätze wie diese:

„Das Kino ist keine Wunschmaschine, sondern vor allem eine Folterbank. So lange man jung ist, lässt es uns von all jenen Wünschen träumen, die wir uns erfüllen können, wenn wir erst mal alt genug sind. Kaum ist man erwachsen, schürt es die Sehnsucht nach einer Jugend, die wir so leider nie erlebt haben. Im Kino ist man entweder zu alt oder zu jung, zu reich oder zu arm – oder zu deutsch, um etwa amerikanisch zu sein oder französisch.“

(zu: Handbuch-Kapitel 47 „Newsdesk und Ressorts (Die Kultur)“)

Vor 10 Jahren: Der Amoklauf in Erfurt

Geschrieben am 24. April 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 24. April 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik, Recherche.

Am 26. April 2002 ermordet ein 19-jähriger im Erfurter Gutenberg-Gymnasium sechzehn Menschen: zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Schulsekretärin, einen Polizisten – und sich selbst. Der Amoklauf ist ein Schock für alle, stürzt ein Land in Trauer, bringt Menschen nahezu um den Verstand, weil keiner, bis heute, versteht, wie ein junger Mensch noch am Anfang seines Leben zu diesen Morden fähig ist, sorgfältig geplant, mit Kalkül ausgeführt.

Eigentlich sollte man schweigen, wenn solch Unbegreifliches geschieht. In welcher Sprache sollte man überhaupt sprechen? Schon die Wahl der Worte ist schwer: Darf man von einem Amoklauf sprechen? Das Wort verweist eher auf eine spontane Tat. Darf man von einem Massaker sprechen? Das Wort erinnert eher an tausendfachen Mord, gar Völkermord.

Für die Angehörigen der Opfer wäre Schweigen die beste Lösung. Ihr Schmerz verdoppelt sich durch jedes Bild, jeden Text, der in der Zeitung steht oder jeden Film, der im Fernsehen läuft. Auf der anderen Seite muss auch eine Gesellschaft eine solche Tat zu verstehen versuchen, darf sie nicht verschweigen – zum einen um Vorsorge zu treffen, zum anderen um herauszufinden, was schief läuft im Umgang miteinander, vor allem in der Bildung der jungen Generation.

Die Morde am Erfurter Gymnasium blieben ja auch kein Einzelfall in Europa: 2009 ermordete ein 17jähriger in Winnenden nahe Stuttgart 15 Menschen, zuerst in einer Realschule, dann auf der Flucht; 2011 ermordete ein 32jähriger 94, meist junge Menschen in einem Ferienlager auf der norwegischen Insel Utoya.

Im Editorial zum Buch „Der Amoklauf“, nach einer Serie in der „Thüringer Allgemeine“, ist weiter zu lesen:

Nach den Morden am Gutenberg-Gymnasium haben die Medien zu Recht harte Kritik einstecken müssen. Journalisten haben viele Fehler, zum Teil unverzeihliche Fehler gemacht, vor allem auf der Jagd nach Gesichtern, Bildern und intimen Szenen. Sie haben oft die Trauernden nicht in Ruhe trauern lassen. Dass diese Kritik auch in den Medien selber hinreichend wahrgenommen und diskutiert worden ist, zeigt, dass unsere Demokratie zumindest robust ist und lernfähig.

Das Problem der Journalisten ist, wenn sie nicht nur Sensationen suchen, die Balance zwischen Distanz und Nähe:

• Sie brauchen Distanz, gar kühlen Abstand, um sich nicht von den Emotionen übermannen zu lassen und wenigstens die Tür des Verstehens ein wenig öffnen zu können und Verantwortungen zu klären.
• Sie brauchen Nähe, um in allem Respekt mit den Menschen sprechen zu können, sie in ihrem Schmerz zu begreifen, das Unerklärliche vielleicht doch erklären zu können.

Als Journalisten, die in Erfurt leben und arbeiten, zeigen wir den Respekt, weil wir Tür an Tür mit den Menschen leben, die immer noch trauern und vielleicht ein Leben lang trauern müssen. In diesem Respekt und dem Bewusstsein, die Nähe nicht auszunutzen, denken wir zehn Jahre danach noch einmal intensiv an die Morde im Gutenberg-Gymnasium.

Wir wissen, welche Lehren wir aus der Geschichte ziehen müssen: Wer die Wiederholung des Bösen verhindern will, muss sich erinnern, so schmerzlich sie auch sein mag. Wir Erfurter Journalisten, die dieses Buch schreiben, sind uns bewusst: Wir müssen erinnern, ohne die zu verletzen, die immer noch in der Trauer gefangen sind; wir müssen fragen, welche Details nach zehn Jahren wieder erzählt und welche Fotos noch einmal gezeigt werden sollten.

Die TA-Serie und das Buch wollen erinnern und gedenken. Geschildert werden noch einmal das Geschehen am 26. April 2002 und seine Folgen. Nichts soll vergessen sein. Vor allem aber kommen Menschen zu Wort, die diesen Tag als Angehörige, Augenzeugen oder Helfer unmittelbar erleiden mussten. Es ist ihre Geschichte, ihr Schicksal. Niemand kann besser beschreiben, was damals passierte – und wie es Leben und Alltag veränderte.

Die Ereignisse des Schwarzen Freitags von Erfurt sind nahezu lückenlos ermittelt. Dennoch sind auch zehn Jahre danach die Wunden nicht verheilt, die Verletzungen an der Seele schmerzen weiter. Die größte Last tragen die Angehörigen der Opfer, die den Verlust begreifen und mit ihm leben müssen. Aber auch die, die damals Zeuge der schrecklichen Morde wurden oder jene, die den Weinenden und Trauernden beistanden, müssen mit ihren Erlebnissen und Bildern im Kopf klar kommen.

Vor allem stellen wir Fragen, die bis heute nicht erschöpfend beantwortet sind und vielleicht nie beantwortet werden können:

Wie konnte sich ein junger Mann so in Hass und Wut gegen seine Lehrer hineinsteigern?

Wieso blieb sein Plan für den mörderischen Rachefeldzug unbemerkt?

Wir Redakteure danken allen, die an der Serie und dem Buch mitgewirkt haben. Selbstverständlich akzeptierten wir, wenn viele nicht öffentlich erinnert werden wollen – weil ihre Erinnerungen ein einziger Schmerz sind. Manche haben  die Kraft und den Mut gefunden, doch zu sprechen.

Wir alle dürfen nicht vergessen.

/Editorial von Paul-Josef Raue „Distanz und Nähe und der Schmerz der Erinnerung“ im Buch „Der Amoklauf. 10 Jahre danach – Erinnern und Gedenken“, erschienen im Klartext-Verlag Essen, 12.95 €; in dem Buch sind die Gespräche mit den Menschen abgedruckt, die diesen Tag als Angehörige, Augenzeugen oder Helfer unmittelbar erleiden mussten“. Die Gespräche, zehn Jahre danach, sind auch in einer Serie der „Thüringer Allgemeine“ erschienen“

(zu: Handbuch-Kapitel 48+49 „Presserecht und Ethik“)

Zum FDP-Parteitag: Politiker drinnen – die Bürger draußen

Geschrieben am 22. April 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 22. April 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Friedhof der Wörter.

Birgit Homburger ist drinnen, und wir sind draußen, Sie, die Leser, und ich, der Blogger. Birgit Homburger ist Vize-Vorsitzende der FDP; sie sagte vor dem Parteitag:

„Die FDP muss sich an dem orientieren, was die Menschen draußen interessiert.“

Wenn es ein Draußen gibt, gibt es auch ein Drinnen. Und da sitzen die Politiker, die die Macht haben, die entscheiden, die unter sich bleiben, die wissen, was denen da draußen gut tut – und die vor Wahlen oder bei schlechten Umfrage-Werten mal nach draußen schauen und schaudern.

Wer als Politiker nach draußen schaut, der blickt aus dem Raumschiff in die Wüste des All-Tags. Auch wenn drinnen die Ellbogen spitz sind, die Intrigen besonders schlau und die Kämpfe unvermindert hart, so ist es immer noch kuscheliger als draußen. Zumindest stimmt die Pension, wenn man nicht mehr drinnen ist.

Was die FDP-Vize ausspricht, ist Haltung vieler Politiker  in Berlin oder anderen Raumschiffen des Drinnens, gleich welcher Partei. Nur manchen dämmert, dass ihr Raumschiff eigentlich ein Gefängnis sein könnte; dort ist man lieber draußen als drinnen.

Wie Günter Grass von der Waffen-SS schreibt

Geschrieben am 15. April 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 15. April 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Günter Grass‘ Mitgliedschaft in der Waffen-SS wird nach seiner harschen Israel-Kritik wieder zum Thema – wie schon 2006, als er erstmals davon erzählte in seinen Jugend-Erinnerungen „Vom Häuten der Zwiebel“. „Warum schwieg er 60 Jahre lang?“, fragt noch einmal Mathias Döpfner, der Vorstandsvorsitzende der Springer-AG im Kommentar der Bildzeitung vom 5. April. Er fährt fort: „Beim ,Häuten der Zwiebel‘ ist er jetzt ganz innen angekommen. Und der Kern der Zwiebel ist braun und riecht übel.“

Ein Blick lohnt in seine Autobiografie „Vom Häuten der Zwiebel“. Was er von der Waffen-SS berichtet hat, ist eifrig diskutiert worden. Nur – wie hat Grass erzählt?

„Während einer Pause, schon wieder auf dem Rückzug, bin ich einem Mädchen hinterdrein, das – hier bin ich sicher – Susanne heißt und mit seiner Großmutter aus Breslau geflüchtet ist. Jetzt streichelt das Mädchen mein Haar. Mir war Händchenhalten erlaubt, mehr nicht. Das ereignet sich aufregend im heilen Stall eines zerschossenen Bauernhauses. Ein Kalb schaut zu.“

Dies ist meine Lieblingsstelle in „Vom Häuten der Zwiebel“, aus dem die meisten nur eine winzige Passage kennen: Die Revision der Lüge, Grass sei mit 17 Jahren nicht Flakhelfer geworden, sondern Panzerschütze bei der Waffen-SS.

Zu lesen ist die SS-Beichte dreizehn Seiten vor der Episode mit Susanne. Schon der Sprachstil zeigt, wie schwer sich der Dichter mit der Erinnerung an die Waffen-SS tut.

Zum Vergleich: Die Susanne-Episode fließt, die Schilderung der zärtlichen Szene im zerschossenen Bauernhaus wird im Kopf des Lesers zu einem kleinen Film. Selbst bei einem langen Satz mit 28 Wörtern gerät der Leser nicht ins Stocken.

Die SS-Episode dagegen holpert und wird mit einem verschachtelten Satz eingeleitet. Man muss ihn zweimal lesen, um ihn zu enträtseln:

„Nur zu behaupten und deshalb zu bezweifeln bleibt, daß mir erst hier, in der vom Krieg noch unberührten Stadt, genauer, nahe der Neustadt, und zwar im Obergeschoß einer großbürgerlichen Villa, gelegen im Ortsteil Weißer Hirsch, gewiß wurde, welcher Truppe ich anzugehören hatte.“

Grass verirrt sich in diesem Satz, den Germanistik-Professoren gern als seinen unverwechselbaren Stil rühmen. Aber der Leser spürt, wie der Dichter sich windet, das Verstehen erschweren will. Oder ist es einfach schlechter Stil?

„Erst hier wurde mir gewiß“, das ist der Hauptsatz. Doch zwischen dem „hier“ und dem „gewiß“ schiebt er 23 Wörter mit Ortsschilderungen, die an dieser Stelle keinen interessieren – denn es geht um den Eintritt in die Waffen-SS.

In dem 480 Seiten starken Buch denkt Günter Grass auf knapp zwei Seiten über den Eintritt in die Waffen-SS nach. Aber nicht Günter Grass fragt nach dem „Warum?“, vielmehr entschwindet er in ein nebulöses „Zu fragen ist:“

„Erschreckte mich, was damals im Rekrutierungsbüro unübersehbar war, wie mir noch jetzt, nach über sechzig Jahren, das doppelte S im Augenblick der Niederschrift schrecklich ist?“

Ein Deutschlehrer würde diesen Satz rot unterstreichen als grammatisch fehlerhaft. Was will der Dichter sagen? Das doppelte S war ihm, dem Jugendlichen, schrecklich?

Nein, „eher“ – in der Tat schreibt Grass: „eher“ – „eher werde ich die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen haben“. Und: „Die doppelte Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig.“

Und später? „Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen.“
Und er fügt an, es liest sich, als wolle Grass nach Mitleid heischen:

„Doch die Last blieb, und niemand konnte sie erleichtern.“

Grass wird seine Erinnerung an die Waffen-SS los, so wie er seine SS-Wehrmachtsjacke losgeworden ist (von der er vierzig Seiten weiter erzählt):
Mit einem Obergefreiten flieht Grass in den letzten Kriegstagen. Sein Kamerad sagt ihm:

Wenn uns der Iwan doch noch hopsnehmen sollte, biste dran, Junge, mit deinem Kragenschmuck. So was wie dich knallen die einfach ab. Genickschuß und fertig.“

Der Obergefreite organisiert eine normale Wehrmachtsjacke ohne Einschussloch oder Blutflecken. „Nun, ohne Doppelrune, gefiel ich ihm besser. Und auch ich ließ mir die angeordnete Verkleidung gefallen. So fürsorglich war mein Schutzengel.“

Günter Grass erzählt auf fast fünfhundert Seiten seine Jugend – und die besteht nicht nur aus zwei Runen. Wenn er erzählt, ist er ein großartiger Erzähler, bildreich und verführerisch wie in der kleinen Episode von Susanne, die sein Haar streichelt, oder von dem frommen Jungen im Arbeitsdienst, den sie „Wirtunsowasnicht“ nennen – weil er sich weigert, ein Gewehr anzufassen; eines Tages holen sie ihn ab und bringen ihn ins KZ.

Nur wenn Grass schwadroniert, quält er den Leser, wenn er das Bild von der zu häutenden Zwiebel strapaziert (wer häutet schon eine Zwiebel?), wenn er den schwer verständlichen, schwer verdaulichen Nobelpreis-Dichter spielt.

„Selbst wenn mir tätige Mitschuld auszureden war, blieb ein bis heute nicht abgetragener Rest, der allzu geläufig Mitverantwortung genannt wird“, schreibt Grass am Ende seiner SS-Episode. „Damit zu leben ist für die restlichen Jahre gewiß.“

An diese Gewissheit erinnerte sich Günter Grass offenbar nicht, als er sechs Jahre nach seiner Autobiografie sein Israel-Gedicht schrieb und Journalisten in Deutschland des „Hordenjournalismus“ bezichtigte.

(Der Text folgt der Kolumne „Gedanken zur Zeit“, erschienen am 19. August 2006 in der Braunschweiger Zeitung)

(zu: Handbuch-Kapitel 12 „Durchsichtige Sätze“)

Grass und das „Wörterbuch des Unmenschen“

Geschrieben am 7. April 2012 von Paul-Josef Raue.

Günter Grass ist nicht der erste, der den von den Nationalsozialisten geprägten Begriff der „Gleichschaltung“ nutzt, wenn er von der Presse in einem demokratischen Staat spricht. Vor fünf Jahren sprach Eva Herman schon von der „gleichgeschalteten Presse“. Stefan Niggemeier kommentierte nach Hermanns Auftritt und Rauswurf bei „Kerner“ in seinem Blog:

„Das eigentlich Erschreckende ist, wie dumm jemand sein kann, wie ahnungslos, wie dilettantisch und laienhaft in einer Medienwelt, in der sie sich seit vielen Jahren professionell bewegt.“

Dumm ist Grass sicher nicht, aber auch er hat sich in seiner Opferrolle eingekuschelt (wie es Niggemeier 2007 über Eva Hermann geschrieben hatte).

Nobelpreisträger für  Literatur haben bisweilen groben politischen Unsinn verbreitet, mit der Sprache sollten sie schon schonend umgehen können. Wenn Grass von „Gleichschaltung“ spricht, nutzt er einen Begriff der Nationalsozialisten; Gleichschaltung der Presse war das Diktat des Führers und des Propaganda-Ministers, damit alle derselben Ideologie folgen bis in die Wahl der Wörter hinein.

In einem Interview mit Heribert Prantl, heute in der “ Süddeutschen“ veröffentlicht (7. April 2012), sagt Grass:

„Ich rede nicht von der Gleichschaltung wie in einem totalitären Staat. Wenn in einer Demokratie der Eindruck von Gleichschaltung entsteht, ist das ja noch schlimmer.“

 Dolf Sternberger schrieb mit anderen nach dem Krieg das „Wörterbuch des Unmenschen“,  in das er die Phrasen der Unmenschlichkeit notierte. Auch wenn „Gleichschaltung“ nicht in Sternbergers Sammlung steht, so gehört das Wort zu denen, die typisch sind für die Ideologie der Nazis.

Was treibt den Nobelpreisträger an, die freie Presse in unserem demokratischen Staat mit der Presse im Nationalsozialismus nicht nur gleichzustellen, sondern als „noch schlimmer“ zu verhöhnen?

„Der Verderb der Sprache ist der Verderb der Menschen.“ (Aus dem Wörterbuch des Unmenschen)

Journalisten-Handbuch.de ist ein Marktplatz für journalistische Profis. Wir debattieren über "Das neue Handbuch des Journalismus", kritisieren, korrigieren und ergänzen die einzelnen Kapitel, Thesen und Regeln, regen Neues an, bringen gute und schlechte Beispiele und berichten aus der Praxis.

Kritik und Anregungen bitte an: mail@journalisten-handbuch.de

Rubriken

Letzte Kommentare

  • Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
  • Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
  • Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
  • Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
  • Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...

Meistgelesen (Monat)

Sorry. No data so far.