Annika Bengtzon (5): Flanelllappen und Konferenzen, nichts als Konferenzen!
Der erste Chefredakteur in Liza Marklunds Journalisten-Krimis, Schymans Vorgänger also, lud die Redaktionsleitung jeden Dienstag- und Freitagnachmittag zu Teilchen, Biskuit und Kaffee, um Kampagnen und Strategien zu besprechen. Alle trugen ein dunkelblaues Flanellsakko – und wurden in der Redaktion „Flanelllappen“ genannt.
Alle in der Redaktionsleitung waren „Fürsten auf ihrem Gebiet“:
Keiner von ihnen wollte dem anderen Macht oder Einfluss abtreten. Deshalb konnte es in extremen Fällen sogar so weit kommen, dass die einzelnen Ressort- und Schichtleiter ihre Nachrichten für sich behielten, um sie als Erste in der eigenen Redaktion zu bringen.
Das verhindert die Zusammenarbeit, stellt Schyman fest, bevor er Chefredakteur wurde. Er will die Macht brechen, die endlosen Konferenzen beenden und stellvertretende Chefredakteure einführen.
Aber es blieb dabei, er saß den ganzen Tag in Besprechungen, bekam schlechte Laune und fragte sich: „Wie schaffte man es bloß, eine Zeitung zu produzieren, wenn alle die ganze Zeit über nur herumsaßen und schwafelten?“ (Paradies 334)
Anders Schyman ging mit dem gleichen Gefühl von Frustration zu seinem Büro zurück, das ihn noch jedes Mal nach den Planungsbesprechungen überkommen hatte. Die schematische Aufteilung der Wirklichkeit durch die redaktionellen Leiter der Zeitung, ihre homogen-inzestuöse Sicht der Dinge, der entsetzliche Mangel an Selbstkritik ermüdeten ihn.
(Paradies 115ff.)
Konferenzen als Zeitfresser – davon handelt auch ein Artikel über Redaktionsgemeinschaften, erschienen auf der Medienseite der Süddeutschen nach dem Scheitern von Frankfurter Rundschau und FTD:
„Da ist ein Riesenapparat mit vielen Reibungsverlusten entstanden“, sagt ein Mitarbeiter. Viele Journalisten säßen seither den halben Tag in Konferenzen und seien derart mit der Organisation beschäftigt, dass sie kaum noch Lust hätten, die Sitzungen mit inhaltlichen Debatten zu verlängern… Man darf sich die Redaktionsgemeinschaft nicht als harmonischen Ort vorstellen.“ (SZ, 23.11.2012)
Schüchtert Spitzenjournalismus ein?
Vielleicht ist richtig gute Küche auch mal gewöhnungsbdürftig. Die Süddeutsche kann man auch nicht einfach mal so lesen, wenn man vorher nur die Bild kannte.
Tim Mälzer in der SZ (28. März 2013) auf den Interview-Einwurf „Die Spitzengastronomie schüchtert doch Menschen ein“.
Was ist korrekt: Selbständig oder selbstständig? (Friedhof der Wörter)
„Wann führt die TA endlich die Rechtschreibreform ein?“, fragt Peter Nolze, ein Leser der Thüringer Allgemeine aus Kranichfeld. Immerhin habe eine Expertenkommission getagt – „und die Vorschläge von klugen Menschen sollte man als verbindlich annehmen“.
Als Beispiel führt der Leser das Wort „selbstständig“ an und lobt die Redakteure: Immerhin schreiben sie „selbstständig“ mittlerweile richtig.
Ein Blick ins Archiv zeigt: Auch in der TA findet man noch die alte Schreibweise „selbständig“ ebenso wie in renommierten Zeitungen wie dem Tagesspiegel aus Berlin oder dem Magazin Spiegel.
Also – „selbständig“ ohne das doppelte „st“. So sprechen wir, so lernen es junge Leute am besten: Geschrieben wie gesprochen.
Wer regelmäßig diese Kolumne liest, kennt meinen Grundsatz: Verständlich und logisch soll die Sprache sein, unmissverständlich und schön – und korrekt. Wer nur korrekt, aber unverständlich schreibt, verwirrt jeden Leser, erst recht „die armen Kinder in der Schule“, an die der Kranichfelder Leser denkt.
Wer bestimmt überhaupt, was korrekt ist? Der Duden? Nein, er registriert, was üblich ist. Sollten die Bildzeitung und die Süddeutsche Zeitung den Analphabeten durchweg in einen „Analfabeten“ verwandeln, dann stünde der „Analfabet“ nach einigen Jahren im Duden – als korrekte Schreibweise.
Thüringer Allgemeine 4. März 2013
Vom Granteln und Pranteln und enttäuschter Recherche
Wer die Bayerische Akademie der Schönen Künste um Auskunft bittet, kann als Journalist diese Antwort bekommen: Wir sind „enttäuscht“ von Ihrer Recherche!
Das widerfuhr jedenfalls Jan Wiele von der FAZ, als er fragte: Stimmt es, dass Sie Anita Albus zu einer Diskussion erst ein- dann ausgeladen haben? Es ging um Martin Mosebachs Thesen zur Blasphemie. Mosebach soll sich laut Wiele geweigert haben, mit Albus zu diskutieren, die eine andere Meinung zur Blasphemie vertritt.
Erstaunlich ist erstens: Warum berichtet Wiele in seinem Bericht erst nach hundert Zeilen, dass die Bayerische Akademie mit dieser erstaunlichen Begründung („enttäuscht“) die Recherche abblockt?
Zweitens: Warum recherchierte Wiele, zumindest erkennbar, nicht weiter? Er schreibt lediglich: „Ist dort schon journalistisches Nachfragen verboten?“
Drittens: Warum fragte keiner in der öffentlichen Debatte nach der Ausladung? Immerhin war Heribert Prantl dabei, der sonst keiner Frage aus dem Weg geht.
Prantl erfährt übrigens in dem Bericht eine große Ehre, die ihn in den Duden bringen könnte: Er wird in ein Verb verwandelt. Mosebach „grantelt“, Prantl „prantelt“.
In der Süddeutschen habe ich keinen Bericht über die Diskussion in München gefunden.
(FAZ, 26. Januar 2013)
(zu: Handbuch-Kapitel 17 Die eigene Recherche + Service H Lexikon journalistischer Fachausdrücke (pranteln)
Eiszeit der Bilder: Sibirische Polarpeitsche und russische Kältepeitsche
Wenn es eisig wird in Deutschland, blühen die Sprachbilder, die an den Kalten Krieg erinnern. Die Süddeutsche zählt im Streiflicht die „rhetorischen Schneekanonen“ auf: „Russische Kältepeitsche“ und „Sibirische Polarpeitsche“, ergänzt durch das amerikanische „Snowmageddon“ oder „Snowpocalypse“ oder „Snowzilla“.
Der sprachlichen Gewaltspirale müssten Grenzen gesetzt werden (was für ein Bild!):
Die Herstellung, Lagerung und Verwendung martialischer Wintermetaphern muss international geächtet werden. Denn Tauwetter ist nicht in Sicht.
SZ, 25. Januar 2013
Der „Stern“ schafft die meisten Ressorts ab
Die Stern-Redaktion zieht die Zugbrücken hoch, beendet die Kleinstaaterei, schließt ihre Ressorts bis auf vier (Deutschland + Welt + Leben + Wissen), erschwert offenbar das Spezialistentum und lässt die Reporter für alle Themen zuständig sein, verbindet Zeitschrift und Internet, sucht neue Chefs. Betrieben hat es der neue Chefredakteur Dominik Wichmann.
Nun herrscht Aufruhr in der Redaktion? Ist Aufstand geplant? Nein, im Gegenteil. „Leichte Aufbruchstimmung“ stellt die Süddeutsche fest (24.Januar 2013), ohne die Quelle zu verraten.
Der Grund sei der Auflagenschwund. Mit dem Rücken zur Wand fällt es halt leichter, selbst eine selbstbewusste Redaktion umzukrempeln.
Schon 2009 sollte es keine Zeitungen mehr geben
So sah David Havermann 1910 in die Zukunft, als er eine Geschichte erfand, die hundert Jahre später spielt:
Zeitungen gab es 2009 nicht mehr. Der gesamte Nachrichtendienst auf der Erde, und auch vom Mars herüber wurde durch ein weit angelegtes System drahtloser Telegraphie vermittelt.
Gerhard Matzig zitiert Havermann in der Titelgeschichte des SZ-Wochenende „“Nach vorne schauen“ (19. Januar 2013). Am Vorabend des Ersten Weltkriegs beherrschte übrigens Optimismus die Propheten. Heute, in friedlichen Zeiten, beherrsche Pessimismus die Propheten, findet Matzig heraus.
Drei Jahre nach Havermann formulierte dagegen Wolfgang Riepl das Permanenz-Gesetz der Medien: Etablierte Formen des Nachrichtenwesens werden von Neu- und Höherentwicklungen nicht verdrängt.
Microsoft-Gründer Bill Gates prophezeite dennoch 1990 für das Ende des Jahrhunderters das Ende der Zeitungen. Monkeyboy Steve Ballmer, der aktuelle Microsoft-Chef, gibt den Zeitungen noch ein wenig mehr Lebenszeit: 2018 soll das Ende drohen.
(zu: Handbuch-Kapitel 53-57 Die Zukunft der Zeitung)
Kurt Kister belebt den „Schwachmaten“, in dessen Verein auch ein „Krawallo“ spielt
Die Brüder Grimm haben nicht nur Märchen gesammelt, sondern auch ein großes Wörterbuch der deutschen Sprache begonnen. Darin kommt der „schwachmaticus“ vor – als „Schwächling“.
Kurt Kister nennt die FDP in seinem Leitartikel vor der Niedersachsen-Wahl einen „Schwachmaten-Verein“. Kister ist Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, ein brillanter Kommentator, ein Journalist deutlicher Worte, der auch Volkes Sprache nutzt, selbst wenn sie derbe ist – nur klar muss sie sein.
Den „Schwachmaten“ haben wahrscheinlich Studenten in Helmstedt vor drei Jahrhunderten erfunden, ehemals eine bedeutende Universitätsstadt, östlich von Braunschweig gelegen. Wer durch die Literatur blättert, findet als Bedeutung nicht nur den Grimmschen „Schwächling“, sondern auch den Idioten, Feigen, Unfähigen oder in der milden, der scherzhaften Form den Zaghaften und Schüchternen. Zwischen Beleidigung und Scherz pendelt die Bedeutung mit deutlichem Drall zu Beleidigung.
Was wohl Kurt Kister meint? Was auch immer er meint: Gut meint er es nicht mit der FDP und ihren Politikern. Wir müssen nicht bei den Grimms nachschlagen, um zu verstehen, was er von dem FDP-Politiker Dirk Niebel hält, den er einen „Gelegenheits-Chaoten“ nennt, oder von Wolfgang Kubicki, den „Krawallo“.
Der „Krawallo“, das Gegenteil des schwächlichen Schwachmaten, ist allerdings ein Liebling des Fernsehens. Im vergangenen Jahr war Kubicki der am häufigsten Eingeladene in den großen Talkshows – vor Ursula von der Leyen, vom Spiegel zur „Quasselkönigin“ gekrönt; Sarah Wagenknecht, die erfolgreichste Ostdeutsche, folgt knapp hinter der Ministerin und darf in diesem Jahr auf den Titel hoffen.
Quelle Kister: SZ vom 19. Januar 2013
Kolumne „Friedhof der Wörter“ geplant für Thüringer Allgemeine 21. Januar 2013
Die „Süddeutsche“ verarscht
Wieviel Umgangssprache verträgt die Zeitung? Die Süddeutsche wird großzügiger. Nico Fried schreibt im Silvester-Leitartikel:
Gleichwohl fühlen sich auch hierzulande viele Bürger schnell und oft von der Politik verarscht.
Damit die Leser merken, dass „verarschen“ kein Ausrutscher war, schreibt Fried wenige Zeiten weiter über das Vertrauen in Politiker:
Oder auch beim Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, zumindest bis herauskam, dass der die Leute schon verarscht hatte, bevor er ein richtiger Politiker geworden war.
Fordern die Leser einer seriösen Zeitung die Umgangssprache, ja Gossensprache? Wer sich in Leserkonferenzen setzt, hört das Gegenteil: Die Sprache ist für viele ein Maßstab für Seriosität; Umgangssprache gilt als Beleg für den Boulevard.
Es kommen schon Leserproteste, wenn ein Redakteur „klaut“ in die Überschrift schreibt statt „stiehlt“ – weil es besser passt. Es ist nutzlose Anbiederung, wenn wir schreiben, wie die Leute sprechen (aber nicht schreiben!).
Wir müssen den Leuten aufs Maul schauen, um zu erfahren, über was sie sprechen und sprechen wollen. Aber wir müssen nicht so derb reden, wie die Leute gerne reden – weil Vertrauen nichts mit „verarschen“ gemein hat.
(zu: Handbuch-Kapitel 53 Was die Leser wollen)
Facebook-Reaktion von Alexander Marinos (Generalanzeiger, Bonn) am 1. Januar 2013:
Naja, es ist gewissermaßen ein indirektes Zitat. Er benutzt die Sprache Peter Strucks. Da die Anführungszeichen wegfallen, fehlt allerdings das unmittelbare Distanzierungssignal. Das ist grenzwertig.
Paul-Josef Raue: Ich kenne die indirekte Rede. Aber ein indirektes Zitat? Mir ist jedenfalls nicht klar geworden, dass der Kommentator zitiert. Und warum zitiert er ausgerechnet „verarschen“?
Alexander Marinos
Er zitiert zu Beginn des Kommentars Struck wörtlich und greift das hier in direkter Rede zitierte böse Wort später wieder auf. Ich verstehe das so, dass er sich einen zunächst fremden Duktus später zu eigen macht, weil ihm die unverblümte Art Strucks zu reden offenbar gefällt. Ihnen gefällt das nicht, mir auch nicht – da sind wir einer Meinung.
Mehr Synonyme: Hopfenkaltschale und Beziehungsüberhang
Synonyme sind nicht nur Verzweiflungs-Wörter für Journalisten, die nicht zweimal dasselbe Wort nutzen wollen. Sie sind auch Spaß-Wörter, ironische Wendungen – wie die „Hopfenkaltschale“, am Sonntag im Münchner Tatort zu hören (30.12.2012),
Das Wort steht für „ein schönes kühles Glas Bier“, schreibt das Spaßwörter-Lexikon „Sprachnudel.de“, eine der nervigsten Pop-Up-Seiten, „die wo einem beim Lesen das Messer in der Hose aufgeht“ (Selbstbeschreibung). Die Hopfenkaltschale scheint nicht so scharf zu sein: Nur Platz 666 der Topliste.
Mehr Verzweiflung als Spaß ist „Beziehungsüberhang“, ein Wort, geprägt von Olaf Glaeseckers Anwalt Guido Frings. Gemeint ist schlicht „Freundschaft“, eine besonders private Freundschaft, also kein Netzwerk als „Geben-und-Nehmen“-Kontrakt mit nachfolgender Abhängigkeit.
Glaesecker war Wulffs Pressesprecher, erst in Hannover, dann im Berliner Schloss Bellevue.
(Quelle: SZ 29.12.2012)
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