Der Teesack-Schlepper oder: Wenn die Wörter ihre Unschuld verlieren (Friedhof der Wörter)
„Du Teesack-Schlepper, du!“ Man muss Amerikaner sein, um den eintönigen Beruf zum Schimpfwort zu erwählen. „Tea-bagger“, also Teesack-Schlepper – so nennt der älteste Politiker im US-Senat, der 87-jährige John Dingell, seine ärgsten politischen Gegner bei den Republikanern. Und im Streit um den Haushalt und die drohende Pleite des Staates ist jedes Schimpfwort recht.
Wer das Tee-Baggern verstehen will, muss in die amerikanische Geschichte reisen: 1773 warfen Bostoner Bürger, verkleidet als Indianer, 350 Tee-Säcke von einem britischen Schiff ins Hafenwasser – aus Protest gegen Steuern, die die Kolonialherren in London erhöht hatten, und gegen die Besatzer überhaupt. Die Bostoner „Tea-Party“ ging in die Geschichte ein, das Museum gehört zu den meistbesuchten in Boston, und die radikalsten Konservativen in den USA nennen sich nach den alten Widerstandskämpfern stolz: Tee-Partei, „tea-party“.
Dieser kleine radikale Flügel der Republikaner mag weder einen starken Staat noch Steuern und blockiert den Haushalt der Weltmacht. Diese Geschichte aus der Geschichte liegt in dem Schimpfwort „Teesack-Schlepper“.
Aber damit nicht genug: Der „Tea-bagger“ ist auch schlüpfrig geworden, gibt neuerdings einer eher ungewöhnlichen sexuellen Praxis den Namen; sie in einer Zeitung zu beschreiben, die eine Kinderseite anbietet, verbietet sich.
So verliert die Sprache immer wieder ihre Unschuld: Erst mühen sich die Leute mit den Teesäcken ab, um Frau und Kinder zu ernähren; dann verwandelt sich ihr ehrenwerter Beruf in ein Schimpfwort – und am Ende kommt eine Sauerei heraus.
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 5. Oktober (aus einer lesenswerten Reportage von Nicolas Richter über die ungeliebte Hauptstadt Washington im Haushaltsstreit)
Thüringer Allgemeine, geplant für den 14. Oktober 2013 (Kolumne „Friedhof der Wörter“)
Ministerpräsidentin lobt Anzeigenblätter
„Anzeigenblätter sind schlichtweg besser als ihr Ruf“, sagt Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht und reagiert auf Dieter Golombek, dem Jury-Chef des „Deutschen Lokaljournalistenpreises“. Dieser antwortete in einem Interview auf die Frage „Gibt es einen Trend im aktuellen Lokaljournalismus?“:
Die Guten werden immer besser. Die weniger Guten geraten immer mehr in die Gefahr, sich auf das Niveau von Anzeigenblättern hinzubewegen.
Zu lesen war das Interview in der Thüringer Allgemeine und in diesem Blog.
Ministerpräsidentin Lieberknecht spricht auf der BVDA-Tagung in Erfurt über die Bedeutung der Anzeigenblätter und lobt im Textintern-Interview:
Zwischen viel bunter Werbung finden sich viele lesenswerte und interessante Beiträge. Anzeigenblätter nehmen zudem in ganz besonderer Weise Ereignisse aus der Heimat in den Blick. Zudem haben Anzeigenblätter eine wichtige soziale Komponente. Denn viele Bürgerinnen und Bürger müssen bei ihren täglichen Einkäufen auf jeden Euro achten.
Lieberknecht geht in dem Interview auch auf die „Dominanz der Funke Gruppe in Thüringen“ ein und antwortet auf die Frage, ob es Probleme für die Pressevielfalt gebe:
Anbietervielfalt ist keine Garantie für Inhalte- und Meinungsvielfalt. Es ist Sache der Verlage, wie sie sich redaktionell aufstellen. Durch die Entwicklung des Online-Bereichs ist dem herkömmlichen Zeitungswesen eine Konkurrenz entstanden, die zu Umbrüchen in der Zeitungslandschaft geführt hat und noch weiter führen wird.
** FACEBOOK-Debatte
Anton Sahlender
… sie wird wissen, wo ihre Pressemitteilungen 1:1 abgedruckt werden…
Hardy ProthmannV: Seine Facebook-Kommentare entfernt nach Intervention („unerlaubt“)
Paul-Josef Raue
Verehrter Herr Prothmann, das ist mir ein wenig zu wirr. Die „kritische Einordnung“ ist mir recht oberlehrerhaft: Die Leser meines Blogs können einordnen, ich muss ihnen das nicht einordnen.
Ich wollte festhalten, dass sich eine Ministerpräsidentin von einem Interview distanziert, in dem davor gewarnt wird, dass Lokalteile aufs Niveau von Anzeigenblättern sinken. Die Ministerpräsidentin kam nicht zum Festakt zur Verleihung des Deutschen Lokaljournalistenpreises, obwohl er in Thüringen auf der Wartburg stattfand; aber sie geht zum Treffen der Anzeigenblätter und lobt sie. Da kann man sich schon einen Reim drauf machen. –
Und „Hauptsache Print“, der Kampf gegen das Papier ist mir zu einfältig: Gegen wen oder was kämpfen Sie da eigentlich unentwegt? Und wann haben Sie den Kampf gewonnen? Aber: Sie loben einige Anzeigenblätter, die deutlich besser sind als die Tagespresse. Aber die werden doch auch auf Papier gedruckt – oder?
Und zuletzt: Genau darum geht es in dem Interview, auf das die Ministerpräsidentin reagiert: Es gibt zu viele Lokalteile, die sich dem Niveau von Anzeigenblättern nähern. Da haben Sie dann Ihre kritische Einordnung.
Stefan Hans Kläsener
mein kleines nachtgebet: möge der herr hirn regnen lassen, damit politiker von format endlich erkennen, dass ihr eigenes geschäft am ende auch leidet, wenn sie keinen niveauvollen counterpart mehr haben. wo immer es den noch gibt, funktioniert auch die politik deutlich besser, und die strippenzieher haben es schwerer.
Paul-Josef Raue
Ich schließe in mein Nachtgebet auch die Journalisten von Format ein.
„Wo eine gute Lokalredaktion ist, verändert sich die Politik einer Stadt“ – Interview, Deutscher Lokaljournalistenpreis
Für die Serie „Die Treuhand“, einer Geschichte über die friedliche Revolution auf dem Arbeitsmarkt, wird die Thüringer Allgemeine neben dem Hamburger Abendblatt in diesem Jahr mit dem Deutschen Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet.
Vor der Preisverleihung am 30. September auf der Wartburg hat der Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen, Paul-Josef Raue, im Interview mit der Online-Redaktion der KAS das Konzept hinter der Serie vorgestellt und sich über die wachsende Bedeutung des Lokalen geäußert.(Podcast auf kas.de)
Herr Raue, herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Lokaljournalistenpreis, den Sie sich mit dem Hamburger Abendblatt teilen. Sie erhalten den Preis für die Serie „Treuhand in Thüringen“, die vorbildlich zeigt, wie ein brisantes politisches Thema lokal und regional umgesetzt und damit eine lebendige Debatte entfacht wird. In einem Leserbrief an die Thüringer Allgemeine heißt es: „Die Serie ‚Treuhand in Thüringen’ ist sehr interessant, bringt sie doch zum Ausdruck, was in der Zeit des Umbruches so gelaufen ist oder auch nicht’.“ Bitte schildern Sie uns, welches Konzept hinter der Serie steckt.
Raue: „Die Treuhand“ ist im Grunde die Geschichte der friedlichen Revolution auf dem Arbeitsmarkt. Da die DDR-Wirtschaft völlig zusammengebrochen ist, waren mit einem Schlag Millionen von Menschen arbeitslos. Man musste also zusehen, dass man die Unternehmen aus der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft bekommt, den Menschen möglichst viele Arbeitsplätze anbietet und viele Firmen in die neue Zeit hinein retten kann.
Wenn man allein das schon sieht, ahnt man, wie viele Millionen menschliche Schicksale sich dahinter verbergen. Es gab kein historisches Vorbild. Es gab eine friedliche Revolution, dann ist ein System zusammengebrochen und es musste ein neues Wirtschaftssystem etabliert werden – das hat vorher keiner geschafft und es war vorher auch noch keiner in dieser Lage.
Diese Zeit hat sehr viel Elend über die Menschen gebracht, aber auf der anderen Seite ist eine Wirtschaft entstanden, die sich mittlerweile mit den meisten Volkswirtschaften in Europa messen kann. Thüringen ist das wirtschaftlich stärkste der fünf neuen Bundesländer.
Aber die drei, vier Jahre nach der Wende sind seltsamerweise aus dem Bewusstsein der Menschen ausgeklammert. Man kann sogar sagen, es ist ein Tabu geworden. Die am lautesten ihre Kritik äußern, sagen, alles was schlecht an der Wiedervereinigung war, ist Treuhand. Auf politischer Ebene wird dies von den Linken als Beweis dafür genommen, dass der Westen den Osten bis heute nicht ernst nehmen würde.
Zwischen diesen beiden Positionen schwanken die Meinungen. Die Menschen sehen diese Zeit rückblickend als nicht besonders positiv. Wir wollten das Thema aus der Tabu-Zone holen und haben nachgeforscht – was bisher keiner getan hat – wir wollten wissen, was wirklich in der Zeit passiert ist.
Welche Abläufe gab es? Stimmen die Vorurteile? Müssen wir die Vorurteile revidieren? Wer hat was getan? Wir haben gemerkt, dass wir dazu mit den Menschen reden und in die Archive gehen müssen. Und schlussendlich auch aufschreiben müssen. Das hat uns etwa anderthalb Jahre gekostet.
Daraus ist eine 60-teilige Serie entstanden, die weitergeführt wird und ein Buch, dass sich auch im Westen sehr gut verkauft. Hinzu kommt noch der Preis, über den wir uns sehr gefreut haben.
Der Deutsche Lokaljournalistenpreis gilt als einer der renommiertesten Preise seiner Branche. Kulturstaatsminister Bernd Neumann hat einmal gesagt, der Preis sei einer der bedeutendsten Auszeichnung für Regionalzeitungen im deutschsprachigen Raum. Den Preis erhält man nicht einfach so, sondern man muss sich bewerben und vor einer fachkundigen Jury um Dieter Golombek bestehen. Was war für Sie initiativ, um sich für den Preis zu bewerben?
Es ist das dritte Jahr, in dem wir uns mit einer historischen Serie beworben haben. „Treuhand“ ist Teil einer Trilogie. Wir wollten die Zeit der Revolution und der davor aufarbeiten und für die Menschen lebendig machen. Wichtig ist dabei, sie nicht Historikern zu überlassen, sondern Menschen zu Wort kommen zu lassen.
Der erste Teil hieß „Meine Wende“ und hatte auch einen Spezialpreis beim Lokaljournalistenpreis vor zwei Jahren erhalten. Darin haben Menschen geschildert, wie sie seelisch die Wende – wobei ich das Wort nicht mag – diesen Umschwung mitbekommen haben. Es war nicht die Frage, wann ich in Eschwege das erste Mal einkaufen war, sondern was ist mit mir seelisch passiert. Ein höchst bewegendes und auch widersprüchliches Buch.
Der zweite Teil der Trilogie war die Grenzwanderung. Wir sind den größten Teil der alten Grenze von Thüringen abgewandert. Meter für Meter sind wir wochenlang gelaufen und haben geschildert, wie es den Menschen heute und zur Zeit der Wende ging und natürlich auch das geschildert, was vorher passiert ist. Wir haben die Geschichte der Grenze beschrieben, worüber kurioserweise zuvor keiner geschrieben hatte.
Der dritte Teil behandelt das Tabuthema Wirtschaft. In der Serie wird die friedliche Revolution noch einmal in der Erfahrung der Menschen gespiegelt, die ihre Arbeit verloren oder wiedergewonnen haben. Was man in dem Zusammenhang nicht vergessen darf, ist, dass sehr viele sich selbständig gemacht haben. Thüringen ist ein Musterbeispiel für mittelständische Industrie und sogar Weltmarktführer in einigen Nischenprodukten.
In der Serie haben wir die Frage gestellt: Wie ist das entstanden und was hat es mit den Menschen gemacht? Weil wir die Trilogie damit abgeschlossen haben, haben wir uns damit beworben und auf einen der kleineren Preise gehofft. Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir den ersten Platz beim Deutschen Lokaljournalistenpreis erhalten.
Was bedeutet Ihnen persönlich diese Auszeichnung und was bedeutet Ihrer Redaktion dieser Preis?
Ich habe nicht zum ersten Mal diesen Preis gewonnen, aber es war der, über den ich mich am meisten gefreut habe. Es war auch der, der am schwersten erarbeitet worden ist. Als ich nach Erfurt kam, folgte ich einem Chefredakteur, der fast 20 Jahre die Redaktion geleitet hat. Hinzu kam, dass ich der erste Westdeutsche in leitender Position war. Da hat die Redaktion auch mit sich und dem Chefredakteur gerungen und es gab Auseinandersetzungen, die zum Teil auch öffentlich waren.
Ich will es so sagen: Es hat der Redaktion gut getan, denn sie hat gemerkt, dass diese Kämpfe nicht nur innere oder Abwehrkämpfe waren, sondern die Redaktion hat auch gezeigt, welche Kraft in ihr steckt – was sie an Recherche schafft, an journalistischer Potenz und Professionalität besitzt. Dieser Preis ist für die Redaktion enorm wichtig.
Wir merken gerade jetzt, dass wir im Vergleich zu anderen Lokalzeitungen die intensivste und durchdachteste Berichterstattung vom NSU-Prozess haben. Wir sind jeden Tag mit mindestens einem Redakteur im Gerichtssaal dabei und sehr stark online. Dieser Preis unterstreicht die Professionalität der Redaktion und er hat Kräfte freigesetzt, die die Thüringer Allgemeine zu einer der großen Zeitungen machen wird.
In Zeiten von Globalisierung und weltweiter Mobilität erlebt Heimatverbundenheit eine Renaissance. Die Lokalzeitungen stellen sich mit unterschiedlichem Erfolg auf das Bedürfnis nach noch mehr Berichterstattung über lokale Ereignisse ein. Ist diese Entwicklung eine Gegenreaktion auf die Vielfalt und Unübersichtlichkeit einer globalisierten Welt?
So wird es immer dargestellt. Man muss sich mal die Geschichte dieses Preises anschauen. Vor gut 30 Jahren hat man angefangen dem Lokaljournalismus die Bedeutung in Deutschland zu geben, die er verdient. Damals wusste man noch gar nicht, dass irgendwann das Internet kommt. Lokaljournalismus ist für eine Demokratie extrem wichtig, weil so die Menschen verstehen, wie ein Gemeinwesen tickt, wie es funktioniert – und dass man sich engagieren kann. Dafür braucht es aber einen funktionierenden Journalismus und eine Zeitungslandschaft.
Damals war es der Sprecher der Jury, Dieter Golombek, der das Lokaljournalistenprogramm aufgesetzt hat. Ich glaube, in den vier Jahrzehnten hat sich der Lokaljournalismus von einer Honoratioren-Berichterstattung hin zu einer wirklich ernstzunehmenden Professionalität entwickelt.
Wenn Sie sich die Entwicklung des Preises anschauen, sehen Sie das ziemlich gut. Ich denke, dass die Entwicklung unserer Demokratie sehr viel damit zu tun hat, und der Lokaljournalismus sehr viel stärker geworden ist. Er ist kritischer in den Städten geworden.
Ich bin davon überzeugt, wo eine gute Lokalredaktion ist, verändert sich auch eine Politik in einer Stadt. Wenn ich einiges nicht mehr in meinem Hinterstübchen machen kann und damit rechnen muss, dass die Öffentlichkeit davon erfährt, mache ich eine andere Politik. Erstmal hat das mit dem Internet relativ wenig zutun.
Aber es hat damit zutun, dass Menschen sich für ihre Nachbarschaft und ihre unmittelbare Umgebung interessieren, denn da können sie etwas bewirken.
In Brüssel oder in New York bei der Uno etwas zu bewirken – da muss man schon sehr euphorisch sein. Aber in seiner eigenen Stadt oder Dorf etwas zu bewegen, dafür muss man nicht euphorisch sein, das kann man lernen und dazu braucht es die Lokalzeitungen, um seine Chancen zu erkennen.
Dieter Golombek sagte einmal in einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen: „Es reicht für die Zeitungen nicht mehr aus, die Leser mit Neuigkeiten zu versorgen.“ Wie sieht für Sie die Zukunft des Lokaljournalismus’ aus?
Das ist richtig. Aktualität spielt allerdings auch noch im Lokalen eine Rolle. Man sollte das nicht unterschätzen. Die Zeitungen haben das Privileg des aktuellsten Mediums endgültig an das Internet und Fernsehen abgegeben. In der Stadt ist es noch ein bisschen anders. Zumal es auch Zeitungen sind, die das Neue erst herausbekommen und recherchieren müssen. Sie glauben gar nicht, was hinter alten Rathausmauern alles passiert und was alles keiner mitbekommen soll. Das ist das eine.
Das zweite ist, den Menschen zu erklären, was dort passiert. Nehmen Sie die Serie „Treuhand“. Es muss jemand Zeit, Geduld und das Können besitzen, um in 30.000 Dokumenten zu suchen und zu schauen, was damals passiert ist. Einen Großteil dieser Dokumente sollten wir eigentlich gar nicht erhalten. Die liegen noch irgendwo verschlossen. Darum geht es: Du musst den Menschen das Fundament des Gemeinwesens zeigen, in dem wir leben und das unsere Heimat ist.
Dies ist die Hauptaufgabe von Lokalzeitungen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Ob dies auf Papier oder im Internet geschieht, wird sich zeigen. Ich denke aber, dass das Papier im Lokalen noch sehr wichtig sein wird. Weil, wenn man länger und intensiver lesen möchte, ist das Papier das bessere Trägermedium.
Immer wieder wird den Zeitungen insgesamt vorgeworfen, nicht genügend neue Ideen für kreative Geschäftsmodelle zu haben. Stimmt das? Wenn ja: Was sind die Gründe? Gibt es Geschäftsmodelle mit denen der Lokaljournalismus überleben kann? Zum Beispiel aktuell das Leistungsschutzrecht für Presseverlage?
Ich denke, das Leistungsschutzrecht zeigt den Weg an, in den das Ganze gehen muss. Das wir unsere Inhalte verschenken, ist unsinnig, denn jemand muss unseren Journalismus bezahlen. Guter Journalismus ist sehr teuer. Das funktioniert im Augenblick noch, indem quer subventionieren. Aber die Diskussion scheint mir beendet zu sein. Wir wissen, dass wir unsere Inhalte im Print- und Onlinebereich verkaufen müssen.
Die entscheidende Frage, die nun kommen wird, ist: Sind es dieselben Formate, mit denen wir Zeitungsleser und Onlineleser gewinnen können? Dazu kann ich ein Beispiel aus der vergangenen Woche geben. In Erfurt gibt es ein großes Festival namens „Domstufenfestspiele“. Wir haben zum ersten Mal einen Liveticker von einer Opernpremiere gemacht. Das war eine Mischung aus Erlebnisschilderungen, Bildern und Videos. Die Menschen vor Ort haben sich dazu eingeschaltet, und es gab einen Dialog mit den Lesern. Das sind Formate, mit denen wir experimentieren müssen.
Was sich dann schlussendlich in Geld verwandeln lässt, wird sich zeigen. Der Lokaljournalismus war in den vergangenen Jahren sehr innovativ, und wir werden auch in der Onlinewelt viel Neues entdecken. Die Treuhand-Serie ist mittlerweile ein großes Archiv, in dem viele Firmen zu finden sind. Die Serie werden wir sicherlich irgendwann bezahlbar machen.
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Wir haben den Preis zusammen mit dem Hamburger Abendblatt gewonnen. Die Kollegen haben den Preis für die Vermessung Hamburgs bekommen. Auch wir haben zurzeit eine Serie laufen, die heißt „Thüringen vermessen“, aber sie unterscheidet sich ein wenig von den Hamburgern.
Sie werden sämtliche Orte Thüringens dort wiederfinden. Das wird natürlich ein Angebot für jemanden, der nach Thüringen zieht oder geschäftliche Beziehungen knüpfen will, sein. Er kann es dann nutzen und bezahlt dafür.
Am 30. September erhalten Sie in einem Festakt die Urkunde für den Deutschen Lokaljournalistenpreis. Wissen Sie schon, wo die Urkunde einen festen Platz bekommen wird?
Die Redaktion ist in einem Loft mit Blick auf den Thüringer Wald untergebracht, dort haben wir eine große Wand. An dieser wird sie dann als dritte Auszeichnung der Konrad-Adenauer-Stiftung aufgehängt. Doch der diesjährige Preis ist uns der liebste, weil er der erste Preis ist. Darauf sind wir sehr stolz.
Was die Leser immer wieder stört: Das Elend der Fremdwörter
Die Leser klagen, die Leser zürnen, die Leser wenden sich ab – wie Silke Müller aus Erfurt, die seit 29 Jahren die Thüringer Allgemeine liest und sich immer wieder über die Fremdwörter ärgert. In einem Leserbrief schreibt sie:
In einer Kolumne habe ich bei „Allochthonen“ das große Fremdwörterbuch bemüht, heute bin ich in der Publikumskritik(!) zu „Don Carlo“ über „evoziert“ und „inauguriert“ gestolpert. Muss denn so etwas sein?
Ich habe nach dem Abitur studiert, kenne also etliche Fremdwörter. Aber die hier genannten Fremdwörter finde ich nicht mehr lustig, sondern nur noch ärgerlich und völlig fehl am Platz. Ich habe keine Lust, in der Zukunft ständig das Fremdwörterbuch oder „Google“ in der Nähe haben zu müssen, wenn ich Ihre Zeitung lese.
In seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“ antwortet TA-Chefredakteur Paul-Josef Raue:
Die Kenner der Schriften von Karl Marx werden die „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation“ von 1864 gelesen haben, die mit dem Satz beginnt: „Es ist Tatsache, dass das Elend der arbeitenden Massen nicht abgenommen hat.“
Die meisten werden die Schrift weder gelesen noch von ihr gehört haben. So unbekannt wie diese Schrift von Marx ist auch das Wort: Inaugural meint schlicht „Einführung“; inauguriert meint „eingeführt“ oder „angekündigt“.
Sie haben Recht, verehrte Frau Müller, es ist ein Elend mit den Fremdwörtern. Sie gehören nicht in eine Zeitung, die von allen verstanden werden will – und nicht nur von Bildungsbürgern mit Abitur, die beim „Allochthonen“ auch nur noch den Kopf schütteln.
Es gibt Zeitgenossen, besonders zahlreich in der Kultur, die wollen nicht verstanden werden: Sie wollen sich abheben vom einfachen Volk, sie sind stolz auf ihre Bildung und freuen sich, wenn nicht jeder sie versteht. Wir Redakteure denken anders – aber schreiben nicht immer so, leider.
Bisweilen scheut man sich, etwa „Ausländer“ zu sagen, und flüchtet in Begriffe wie „Allochthonen“, mit denen Sozialwissenschaftler Ausländer bezeichnen, die in Deutschland leben.
Wer „evoziert“, der beschwört oder ruft hervor. Es gibt also gute und verständliche deutsche Wörter statt der fremden. Wir müssen nur den Mut haben, uns der deutschen Sprache zu bedienen.
Thüringer Allgemeine, 28. September 2013
Ist man zum Lokalreporter geboren? (Dieter-Golombek-Interview, Teil 2)
Herr Golombek, Sie engagieren sich seit über 40 Jahren für den Lokaljournalismus – was fasziniert Sie bis heute daran?
Als ich in den Siebzigerjahren das Lokaljournalistenprogramm der Bundeszentrale für politische Bildung auf den Weg brachte, waren Lokaljournalisten in den Redaktionen von Tageszeitungen nicht gut angesehen, die Kollegen aus den anderen Ressorts blickten auf sie herab. Diese Geringschätzung stand in keinem Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Bedeutung. Heute schauen Verleger und Chefredakteure zu ihnen auf, weil die Qualität ihrer Arbeit über die Zukunft der Tageszeitung entscheidet
Ist man zum Lokalreporter geboren oder eben nicht?
Ich erweitere die Frage: Ist Journalismus ein Begabungsberuf? Ja und Nein. Ohne Talent werde ich es nicht schaffen, gute Reportagen oder Glossen zu schreiben. Wenn ich nur auf Begabung vertraue, kann ich meine Talente nicht entwickeln, sie verkümmern. Wer Journalist wird aus Leidenschaft, weil er gut und gern beobachtet, neugierig ist, Menschen mag und gern Geschichten erzählt, der ist im Lokalen gut aufgehoben. Dort kann er noch Reporter sein, in den anderen Ressorts der Zeitung geht es mehr um die Verarbeitung von Nachrichten.
Der Begriff der Nähe ist gefallen – Lokaljournalisten trinken auch mal mit dem Bürgermeister oder Polizeichef ein Bier. Bei anderer Gelegenheit müssten sie die dann aber möglicherweise wieder kritisieren. Wie bringen sie das auf einen Nenner?
Der Lokalredakteur muss Nachrichten trotz Nachbarschaft herstellen. Er darf nichts unter den Teppich kehren. Er muss Dinge, die nicht gut laufen, genauso öffentlich machen wie er Erfolge zu berichten hat. Das kann ein hartes Brot sein – wenn etwa der Sohn des Bürgermeisters und der eigene Sohn die gleiche Klasse besuchen. Für einen nicht so freundlichen Kommentar braucht der Lokaljournalist jedenfalls mehr Mut als der politische Korrespondent für eine Kritik an Angela Merkel, die die Bundeskanzlerin vermutlich nicht einmal lesen wird.
Im Journalismus gibt es einen Trend zum Leserredaktionen, Leser-Reportern oder Leser-Fotografen – schaffen sich Journalisten damit selbst ab?
Nicht, wenn sie es vernünftig einsetzen. Wenn sie Bündnisse mit dem Leser eingehen und die Leistungen des Lesers da abrufen, wo er Einzigartiges bieten kann. Leser, die ebenfalls mit wachen Augen durch das Leben gehen, können Themen sehen, die ein Lokalredakteur nicht sieht. Zeitungen tun gut daran, sich dieses Leserwissen zugänglich zu machen, sie als Partner einzubinden. Leser-Reporter halte ich allerdings für eine Überforderung. Dieser Idee fehlt es an Respekt vor der journalistischen Professionalität. Schreiben, Recherchieren, Zusammenhänge herstellen, Texten die richtige Länge zu verpassen und noch einiges mehr, das ist schon eine eigene Kunst
Vor allem junge Leser finden es mitunter interessanter, was der Freundeskreis bei Facebook postet. Diese „Bürgernähe“ können Zeitungen kaum bieten – wozu raten Sie?
Die Redaktionen müssen überlegen, wie sie diese Nachrichtenflüsse auch für ihre eigenen Belange ausnutzen und wie sie sich in diese Debatten einklinken können. Nachrichtenfetzen können ja unterhaltsam sein, die so genannte Shitstorms machen die Welt nicht lebenswerter. Was wir weiterhin brauchen werden, sind Journalisten, die Zusammenhänge erklären und die uns helfen, sich in dieser ebenso aufregenden wie komplizierten Welt zurechtzufinden.
Thüringer Allgemeine, 28. September 2013 (in der Beilage zum Deutschen-Lokaljournalistenpreis)
Manche Lokalteile bewegen sich auf das Niveau von Anzeigenblättern zu (Dieter Golombek im Interview)
Wie gut sind die Lokalteile der deutschen Zeitungen? Welchen Wert haben Serien in der Zeitung? Wieviel Geschichte gehört in den Lokalteil?
Diese und andere Fragen stellte Hanno Müller von der Thüringer Allgemeine Dieter Golombek, dem Chef der Jury des Deutschen-Lokaljournalistenpreises; der Preis wird am Montag auf der Wartburg verliehen. Dieses Jahr gibt es zwei Sieger: Das Hamburger Abendblatt für die Serie „Die Vermessung Hamburgs“ und die Thüringer Allgemeine für eine lange Serie über „Die Treuhand in Thüringen“.
Am Montag werden auf der Wartburg in Eisenach die Gewinner des Lokaljournalistenpreises 2012 geehrt. Wie beurteilen Sie den aktuellen Preisträger-Jahrgang?
Sehr positiv. Auch positiv, dass unter den 711 Bewerbungen weitere 40 Kandidaten vertreten waren, die die Jury ebenfalls mit gutem Gewissen mit einem Preis hätte auszeichnen können.
Gibt es einen Trend im aktuellen Lokaljournalismus?
Die Guten werden immer besser. Die weniger Guten geraten immer mehr in die Gefahr, sich auf das Niveau von Anzeigenblättern hinzubewegen.
Die Thüringer Allgemeine konnte mit dem Thema Treuhand gewinnen – wieso ist das ausschließlich ein Ostthema?
Die Menschen im Westen sind davon nicht existenziell betroffen. Im Osten hingen daran Millionen von Arbeitsplätzen. Die Treuhand entschied über das Schicksal vieler Menschen. Alle Themen, die Menschen bewegen, sind auch Themen für die Zeitung. Wenn sie die nicht annimmt, wird sie ihrem Auftrag nicht gerecht, sie schadet sich selbst.
Worin besteht Ihrer Meinung nach der lokaljournalistische Wert dieser Beschäftigung mit der Treuhand?
Die Zeitung greift ein verdrängtes Thema auf. Verdrängungen sind im privaten Leben nicht gut, mindestens genauso problematisch sind sie bei Themen, die viele Menschen betreffen. Für mich ist es das große Verdienst der Serie „Treuhand in Thüringen“, dass sie dieses verdrängte Thema öffentlich gemacht hat. Nicht mit dem großen Zeigefinger, sondern mit der Möglichkeit, dass sich die Menschen aussprechen und ihre Beobachtungen und Erfahrungen austauschen. Wichtig dabei: Die Serie differenziert, sie vermittelt die Erkenntnis, dass es die einfache Wahrheit nicht gibt.
Diese Art von Rückschau ist nicht unumstritten. Die Thüringer Allgemeine bringt es nach „Meine Wende“ und der „Grenzwanderung“ mit der Treuhand-Serie sogar auf eine Art Trilogie. Wie viel Geschichte vertragen Lokalzeitungen?
In den genannten Fällen ist es eine Aufarbeitung von Themen, die noch wehtun. Es ist die Aufgabe von Zeitungen, solche Themen aufzugreifen. Eine historische Serie über Erfurt im 18. Jahrhundert wäre sicher nett, kratzt aber an keinem Lack. Mit Wende, Grenze und Treuhand werden aber Themen aufgearbeitet, zu denen viele Zeitzeugen noch etwas zu sagen haben. Sie sollen es sagen und Diskussionen auslösen. Die Zeitung liefert dafür das Forum, eine ihrer vornehmsten Aufgaben. Sie macht so das Selbstgespräch der Gesellschaft möglich.
Manche Leser sagen: Ja, das interessiert uns, auch weil wir dabei waren und mitreden können. Andere wollen nichts mehr davon hören und fragen, ob die Zeitung nicht wichtigere und aktuellere Themen zu beackern hätte. Nach wem soll sich eine Redaktion richten?
Es wird immer Leute geben, die einen Schlussstrich ziehen wollen. Das haben wir ähnlich auch bei der Verarbeitung der Geschichte der Nazi-Zeit erlebt. Meiner Meinung nach darf man diesen Schlussstrich nicht leichtfertig ziehen, zumindest so lange nicht, wie Menschen leben, die damals gelebt haben.
Kann es ein Zuviel an Geschichte für eine Lokalzeitung geben?
Eindeutig ja. Es gibt Journalisten, die sich in ihre historischen Themen verlieben. Es wird vor allem dann zu viel, wenn der moralische Zeigefinger zu groß wird. Journalisten sind keine Wissenschaftler, sie sollen also immer auch an die Dosierung denken. Sie sollen auch bei historischen Themen nicht langweilen und nicht selbstverliebt sein. Sie müssen auch der Selbstverliebtheit von Zeitzeugen Grenzen setzen und ihnen nicht jede Geschichte abnehmen. Auch Zeitzeugen können irren.
Die Jury des Lokaljournalistenpreises besteht aus Ost- und West-Mitgliedern. Wie leicht oder schwer sind die bei der Urteilsbildung unter einen Hut zu bringen – zumal es ja offenbar weiter Ost- und West-Themen gibt?
Die Unterschiede sind nicht mehr so dramatisch wie noch vor 15 oder 20 Jahren. Die „Treuhand“ ist seit Langem mal wieder ein richtiges Ost-Thema, das wir ausgezeichnet haben. Ansonsten haben sich Themen wie Problemlagen sehr angenähert.
Die Jury wurde übrigens unmittelbar nach der Wiedervereinigung um ostdeutsche Kollegen erweitert. Ihre Stimmen haben verständlicherweise mehr Gewicht, wenn es um Ost-Themen geht.
Müssen sich Ost und West gelegentlich zusammenraufen?
Die Jury muss sich generell immer zusammenraufen. Zusammengesetzt ist sie aus Journalisten, Verlegern und Kommunalpolitikern, da treffen sehr unterschiedliche Erfahrungen aufeinander. Bei den beiden ersten Preisen in diesem Jahr gab es allerdings absoluten Konsens, was bei weitem nicht immer der Fall ist.
Die Serie als journalistisches Mittel bietet die Möglichkeit, tief in ein Thema einzusteigen. Sie birgt aber auch die Gefahr der Übersättigung und wachsenden Desinteresses – gibt es da einen Königsweg?
Die richtige Mitte finden: Schreiben, was geschrieben werden muss, damit das Thema rund wird, aber nicht Überdruss und Langeweile erzeugen. Es darf nicht so sein, dass nur noch die unmittelbar Beteiligten und Betroffenen die Serienteile lesen.
Thüringer Allgemeine, 28. September 2013 (in der Beilage zum Deutschen-Lokaljournalistenpreis)
Harald Klipp via Facebook:
Ein aufschlussreiches Interview zum Selbstverständnis von Lokaljournalisten. Schade, dass das Thema Weiterbildung ausgespart bleibt, das ich für sehr wichtig halte. Denn: Wissen ist Voraussetzung für profesionelles Arbeiten.
Antwort: Das war ein Interview für Leser einer Zeitung.
Präsenz – ein einfältiges, unbrauchbares Wort (Friedhof der Wörter)
Das hat Reich-Ranicki nicht verdient! „Seine Präsenz“ überschreibt TV-Weggefährte Hellmuth Karasek einen Nachruf in der Literarischen Welt. Präsenz ist ein Allerweltsbegriff wie Bereich oder Massnahme, bedeutet alles und nichts und verweist nur auf die Denkfaulheit des Autors, sich genau auszudrücken.
Präsenz, dem Lateinischen und Französischen entlehnt, bedeutet: Anwesenheit, Gegenwart – mehr nicht. „Die Gewerkschaft fordert mehr Präsenz der Polizei auf den Straßen“, ist ein Mode-Satz in einer Pressemitteilung, gerne auch von Zeitungen übernommen; so wäre er trefflich übersetzt: Polizisten sollen mehr Streife fahren.
In einem anderen Pressetext steht:
Dieses Wissen soll dazu führen, Schnelltests zu entwickeln, mit denen die Präsenz solcher Gifte nachweisbar ist.
In diesem Satz kann man „die Präsenz“ einfach streichen, und der Satz wäre kürzer und der Sinn klarer. Denn: Was nachweisbar ist, auch auch anwesend.
Und wer sich schämt, einen Körper erotisch zu nennen, der schwadroniert so:
Die sinnliche Präsenz der Körper hat auch eine erotische Note.
Kehren wir zu Karaseks Nachruf zurück: Der Autor mag dem Redakteur die schändlich einfallslose Überschrift „Seine Präsenz“ anlasten. Allerdings steht im Text:
Reich hat eine Präsenz in der deutschen Kultur, die aus seiner Entschiedenheit, aus seiner produktiven Streitlust und aus seinen Bühnentalenten besteht…
Im Nebensatz stehen die starken Wörter: Entschiedenheit, Streitlust, Bühnentalent; im Hauptsatz das schwache Wort Präsenz. Was meint Karasek damit? Stellenwert (auch schwach), Bedeutung (noch schwach), Größe (besser), Ausstrahlung (empfiehlt der Duden). Hat Reich-Ranicki nicht Größeres verdient?
Im Duden ist auch der „Präsenzdiener“, ein österreichisches Wort, zu finden: Der Soldat, der den Grundwehrdienst leistet. Früher nannte man ihn „Schütze Arsch“ – derb, aber klar.
Thüringer Allgemeine, geplant für den 30. September
Kommentare auf Facebook:
Anton Sahlender gefällt das:
„Kann es nicht sein, dass Präsenz im Laufe der Zeit im Sprachgebrauch eine stärkere Wirkung entwickelt hat als z. B. Anwesenheit? Ich empfinde es so…“Petra Breunig: …Präsenz im Sinne von Ausstrahlung…
Paul-Josef Raue: Wörter, die immer allgemeiner gebraucht werden, dürften nicht stärker, sondern schwächer werden. Präsenz hat immer eine spezifische Bedeutung, die wir dann auch benennen sollten – etwa Ausstrahlung. Klare Bedeutung, klarer Sinn, klare Wörter. Und oft genug kannst Du Präsenz einfach ersatzlos streichen.
Gibt es einen Grund, nicht zu wählen? (Leitartikel zur Wahl)
Paul-Josef Raue über das Recht zu wählen, das in vielen Ländern dieser Welt Hoffnung bedeutet:
Rotznasen, überall laufen Rotznasen herum: Kinder in übergroßen Badelatschen spielen im Abwasser, stöbern im Plastikmüll der Straße. Und allen läuft die Nase in dem schwer bestimmbaren Dunst aus Brand und Kloake, der über dem Slum von Nairobi hängt.
Es gibt auch eine Schule: In dem dunklen geduckten Häuschen stehen ein paar Tische, grob und schief gezimmert; die Tafel ist ein dunkel gemaltes Rechteck an der Wand. Unweit der Schule, im schönsten Gebäude, sitzt die Verwaltung.
An der Hauswand hat ein Maler das Bild einer Frau im roten Kleid angebracht. Sie hat einen Stimmzettel in der Hand. „Es ist Deine Pflicht zu wählen“ steht darüber, in Englisch und Kisuaheli.
Für die Menschen in den Slums sind Wahlen die große Hoffnung.
Sie wünschen fließendes Wasser, damit ihre Kinder nicht so oft krank werden; sie wünschen sich eine Toilette und nicht nur ein Loch im Boden; sie brauchen Medikamente und günstigere Mieten – und die Aussicht, den Slum eines Tages verlassen zu können.
Sie gehen wählen, weil sie Hoffnung haben auf ein besseres Leben für sich und ihre Kinder.
Im Vergleich zu diesen Ärmsten leben wir in einer glücklichen Welt. Zwei Drittel der Thüringer schauen optimistisch in die Zukunft.
Gibt es wirklich einen triftigen Grund, nicht wählen zu gehen? Ist es Überdruss an der Welt, Langeweile oder die Lust am Meckern und Nörgeln? Lust daran, Widerstand gegen sich selber zu üben und nicht wählen zu gehen?
Thüringer Allgemeine 21.9.2013
Wann wird ein Gesicht gepixelt? (Frage eines Lesers)
Warum werden Straftäter, auch wenn sie eindeutig gesucht werden und entlarvt sind, in Videos und Fotos oft verpixelt dargestellt?
Ein Leser fragt, in der Samstag-Kolumne antwortet der TA-Chefredakteur:
Solange ein Bürger nur angeklagt und nicht verurteilt ist, gilt die Vermutung der Unschuld. Also dürfen weder Polizei noch Zeitungen die Gesichter zeigen, es sei denn die Angeklagten sind öffentlich bekannte Persönlichkeiten wie beispielsweise der ehemalige Bundespräsident Wulff, der sich bald vor Gericht verantworten muss.
Wäre Wulff ein einfacher, kaum bekannter Bürger, käme sein Bild nicht in die Zeitung – bei einem relativ geringen Vorwurf wie der Vorteilsnahme.
Wer nur für kurze Zeit ins Gefängnis geht, hat auch ein Recht, dass sein Gesicht nicht öffentlich gezeigt wird: Hat er seine Strafe abgesessen, soll er ein normales Leben führen dürfen. Kennen viele Menschen sein Gesicht, wirkt ein Foto wie ein lebenslanger Pranger und eine lebenslange Strafe.
Sucht die Polizei einen mutmaßlichen Gewaltverbrecher, der auf der Flucht ist, gibt sie zur Fahndung ein Foto heraus, das auch von unserer Zeitung gedruckt wird ohne eine Verfremdung des Gesichts.
Unproblematisch ist dies nicht: Im Internet wird dies Foto für alle Zeiten sichtbar sein, auch wenn sich die Unschuld herausstellen sollte.
Dankbar bin ich Ihnen für diese Zeilen am Ende Ihres Briefs:
Die TA schreibt meinen Namen unter meinen Leserbrief, weil ich mit meinem Namen auch zu dem stehe, was ich sage. Das aber beweist meine Naivität. Schlaue Kommentatoren schreiben nämlich unter Pseudonym oder verfassen böse Briefe mit falschem Namen. Leider ist in solchen Fällen eine ehrliche mutige Diskussion nicht möglich.
Ich versichere Ihnen: Sie sind nicht naiv, Sie beweisen im Gegenteil Zivilcourage! Wer sich in die öffentliche Diskussion einmischt, sollte sein Gesicht zeigen – von wenigen Ausnahmen abgesehen, wenn sich ein Leser sorgt um Leib und Leben.
Auch wenn uns ein Leser informiert über Machenschaften, beispielsweise in einer Behörde, dann garantieren wir ihm Anonymität – auch gegenüber Staatsanwalt und Polizei.
Leser, die unter falschem Namen schreiben, sind nicht schlau, vielmehr betrügen sie die anderen Leser unserer Zeitung. Doch kommt dieser Betrug nur sehr selten vor, weil wir in der Regel die Identität prüfen.
Dass Leser mir ihrem guten Namen für ihre Meinung einstehen, ist der große Vorzug der Zeitung vor dem Internet. Dort wird zu oft beleidigt, beschimpft, besudelt – von Menschen, die sich hinter einem Pseudonym verstecken. Ich stelle mir eine Demokratie anders vor, eben so wie wir in der Zeitung miteinander umgehen und diskutieren.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 7. September
Wer hat das längste Wort im Wahlprogramm? Mehr als 42 Buchstaben? (Friedhof der Wörter)
Findet jemand ein längeres Wort in den Wahlprogrammen? Die Grünen setzen ihren Lesern das „Bundes-Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz“ mit 42 Zeichen vor – ein schwer zu brechender Rekord in einem Rekord-Programm, das doppelt so dick wie bei den anderen Parteien, aber nicht mehr so gut geschrieben wie vor vier Jahren.
Dabei beschweren sich Politiker im Wahlkampf gern über die Medien: Ihr macht den Bürgern nicht klar, was wir wollen! Aber gelänge das besser mit Wortungetümen, die offenbar die Parteien schätzen?
Schauen wir in die Wahlprogramme der Parteien: Sind die Politiker verständlicher? Klarer? Nein, sagen die Verständlichkeits-Forscher der Universität Hohenheim, die sich durch Hunderte von Seiten gelesen haben.
Schauen wir auf die langen Wörter: Je kürzer ein Wort, desto einprägsamer und verständlicher ist es. Lange Wörter müssen, vor allem beim schnellen Lesen, mühsam auseinander genommen werden; oft resigniert ein Leser und verlässt den Text – zum Schaden der Politiker, die mit ihren Botschaften nicht an den Wähler kommen.
Die Grünen scheinen unschlagbar. Wie bemühen sich die anderen Parteien um den Buchstaben-Rekord?
>Die Linke kommt auf 26 Buchstaben:
Hochwasserrückhalteflächen
> Die SPD kommt auf 32 Zeichen, wobei man schon streiten kann, ob gekuppelte Wörter nicht einzeln zu zählen sind:
Patchwork- oder Regenbogenfamilien
>Die CDU hält ihren Rekord mit 34 Zeichen
Öffentlich-Private-Partnerschaften
>Die Piraten legen das am schwersten verständliche Programm vor und kommen beim Wort-Rekord auf 37 Zeichen:
EU-Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie
>Die FDP ist zwar schmächtig im Wahlergebnis, aber rekordverdächtig mit einem 38-Buchstaben-Wort:
Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz
Der Wort-Rekord im aktuellen Duden liegt gerade mal bei 37 Zeichen: „Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung“ gefolgt von der „Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft“ mit 35 Zeichen. Da haben FDP und Grüne ja große Chancen, zumindest den Sprung in den Duden zu schaffen.
Thüringer Allgemeine 2. September 2013
Manfred Günther per Faceb ook:
Ein weiteres Beispiel: Für wen oder was werden eigentlich Wahlprogramme gemacht?
Für Wähler und als Entscheidungshilfen anscheinend nicht!
An dieser Stelle ein Rat von Ernst Ferstl – Jahrgang 1955, Lehrer, Dichter und Aphoristiker – an die Schreiberlinge solcher Programme: „Wer weiß, welche Rolle er im Leben anderer spielt, braucht ihnen nichts mehr vorzuspielen.“
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