Alle Artikel mit dem Schlagwort " Thüringer-Allgemeine"

Fotos bearbeiten: Wieviel Manipulation darf sein?

Geschrieben am 6. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.

Wie stark darf man ein Foto digital bearbeiten? Wann wird die Wahrheit eines Bildes verfälscht? Nahezu jedes Jahr wird die Debatte geführt, wenn die besten journalistischen Bilder des Jahres gekürt werden, die Worldpress-Fotos – so auch in diesem Jahr über das Foto, das einen Trauerzug in Gaza zeigt.

Auch im Blog der Nachrichtenagentur AP ist die Fotobearbeitung ein Thema; in den internen Richtlinien von AP ist festgelegt, dass geringfügige Anpassungen in Photoshop erlaubt sind. Allerdings ist verboten: Nachträgliche Änderung von Belichtung, Kontrast, Farbwerten und -sättigung, die die Aufnahme entscheidend verändert.

Wie viel Manipulation darf sich eine Lokalredaktion erlauben, zumal viele Redakteure mit Photoshop arbeiten und im Volontariat die Technik gelernt haben. Die THÜRINGER ALLGEMEINE hat in der Wochenend-Beilage ein Interview mit ihren Fotografen Marco Kneise und Alexander Volkmann geführt über ethische Grenzen bei der Bildbearbeitung:

Den Möglichkeiten zur nachträglichen Bildbearbeitung in der Digitalfotografie sind ja kaum Grenzen gesetzt. Wie aber stelle ich sicher, dass die Fotos in meiner Zeitung authentisch sind?

Volkmann: Bei uns Fotografen der Thüringer Allgemeine gilt ein strenger Kodex, wonach Bildbearbeitung nur in dem Rahmen erlaubt ist, wie er auch in der Dunkelkammer hätte gemacht werden können.

Also beispielsweise die Farbstimmung verändern?

Kneise: Ja genau. Im Fotolabor können wir – anders als bei digitalen Fotos – an dem Negativbild ja keine Details mehr verändern. Möglich ist dort allenfalls Helligkeit, Kontraste oder Farbe über die Wahl von Belichtungszeiten, Fotopapier oder Entwicklungszeiten zu verändern. Auch das so genannte Abwedeln ist im Labor möglich und damit in der digitalen Bildbearbeitung erlaubt.

Was ist Abwedeln?

Kneise: Das bezeichnet eine moderate Veränderung der Kontrastumfänge in einzelnen Bildbereichen. Wenn eine Person im Schatten vor einer hellen Lichtquelle kaum zu sehen ist, kann ich diese Person auf dem Bild sichtbarer machen, wenn ich den Bereich im Labor nicht so stark belichte wie den Rest des Bildes. Das geht natürlich auch in der digitalen Nachbearbeitung am Computer.

Mehr Veränderung ist nicht erlaubt?

Volkmann: Wenn wir bei der Thüringer Allgemeine Veränderungen an den Bildern vornehmen, die darüber hinausgehen, müssen wir das als Fotomontage oder als nachbearbeitet kenntlich machen.

Als Manipulation bekannt geworden ist ja das Bild von der winkenden Bundeskanzlerin Angela Merkel, der die Schweißflecken unter den Achseln wegretuschiert wurden. Sollte so etwas nicht doch erlaubt werden?

Kneise: Nochmal, wenn man das Bild als bearbeitet kennzeichnet, geht das in Ordnung. Aber wo würde Manipulation anfangen und wo aufhören, wenn alle möglichen begründbaren Ausnahmen zugelassen wären. Das Bild mit Achselflecken ist nun einmal die Realität. Und der Wahrheit ist der Journalismus nun einmal verpflichtet.

Zeitungen werden von Agenturen beliefert. Wie kann man sicherstellen, dass die Bilder dort nicht zuvor bearbeitet wurden?

Volkmann: Zum einen gilt solch ein Kodex auch für jede seriöse Nachrichtenagentur. Manch internationale Agentur geht sogar so weit, die stellen nur die Rohdaten der Bilder ein. Ob die Kunden dann an der Farbe, der Helligkeit oder den Kontrasten ändern, liegt dann in deren Ermessen.

Und selbst haben Sie noch nie das Bedürfnis verspürt, etwas wegzuretuschieren?

Kneise: Nein. Manchmal schießt man ein tolles Bild aus der Situation heraus. Und dann läuft im Hintergrund jemand durch das Bild. Das ist dann ärgerlich. Aber nicht zu ändern.
Volkmann: Da denkt man nicht dran. Wenn solche Manipulationen nachträglich herauskommen würden, wären sie sofort Gesprächsthema auf allen Fotografenstammtischen.

So wie das Worldpress-Foto 2012. Das soll ja auch bearbeitet worden sein.

Kneise: Ist es auch. Die Farbe und die Kontraste vor allem. Aber das ist, wie gesagt, erlaubt. Ich denke, das Bild – es zeigt einen Trauerzug durch Gaza-Stadt – wird zu Unrecht kritisiert.

THÜRINGER ALLGEMEINE, 1. Juni 2013 (Thüringen Sonntag)

Piksen oder pieksen? Der Test: Schreiben Sie schwierige Wörter richtig? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 2. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.
2 Kommentare / Geschrieben am 2. Juni 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Friedhof der Wörter.

Rund zweihundert Einträge umfasst die Duden-Liste der schwierigen, also oft falsch geschriebenen Wörter. Schwierig sind sie vor allem, weil der Autor nicht auf die Idee kommt, falsch zu schreiben; er greift erst gar nicht zum Wörterbuch, er verirrt sich ohne eine Spur des Zweifels.

Testen Sie sich: Welche Version ist die korrekte? Ein Tipp: Verlassen Sie sich nicht auf Ihre Computer-Rechtschreibprüfung!

1. Addresse oder Adresse?

2. Asymetrie oder Asymmetrie?

3. Aufwendig oder aufwändig?

4. Deligierte oder Delegierte?

5. Fussball oder Fußball?

6. Gallionsfigur oder Galionsfigur?

7. heute morgen oder heute Morgen?

8. Lybien oder Libyen?

9. piksen oder pieksen?

10. statt dessen oder stattdessen?

11. todlangweilig oder totlangweilig?

12. weißmachen oder weismachen?

Auflösung morgen in diesem Blog. 

Kolumne der Thüringer Allgemeine, geplant für den 3. Juni 2013

Immer mehr Fehler in der Zeitung oder: Die schwierigsten Wörter (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 28. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 28. Mai 2013 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Friedhof der Wörter.

Die täglichen Fehler in der Zeitung werden immer peinlicher. Welche Qualifikation müssen Mitarbeiter, die sich Journalisten nennen, überhaupt nachweisen?

Das fragt ein TA-Leser aus Bad Langensalza. Wir kennen und schätzen die Fehler-Detektive unter den Lesern, die statt der „Kinderkrippe“ die „Kindergrippe“ entdecken und statt „Vergären“ von Früchten das „Vergehren“. Der Spiegelfüllt mit Sprach- und Logik-Schnitzern jeden Montag den „Hohlspiegel“.

Ein TA-Leser, der in einem Versicherungsbüro arbeitet, vermutete gar eine Demenz-WG in der Redaktion, als er von einem „Stehgreifspiel“ las statt vom „Stegreif“.

Den „Stegreif“ führt der „Duden“ in seiner Liste der schwierigen Wörter, die oft falsch geschrieben werden. Warum sind Wörter schwierig? Warum werden sie oft falsch geschrieben?

Der „Stegreif“ zum Beispiel ist ein Bild, das längst aus unserem Bildergedächtnis verschwunden ist und selbst von Reitern kaum mehr verstanden wird. Der Stegreif ist ein tausend Jahre altes Wort aus dem Mittelhochdeutschen und bezeichnete den Reif, also den Ring, um auf ein Pferd zu steigen. Heute nennen wir ihn Steigbügel.

Wer aus dem Stegreif reden kann, der spricht schnell – ohne vom Pferd hinabzusteigen. Goethe mochte die Redensart: „Aus dem Stegreif die Reime zu machen, wie leicht war das!“ Und Lessing brachte den Stegreif und das Sprachgenie zusammen: „Jedes große Genie redet alles aus dem Stegreif.“

Sprachgenies heute, so sie Journalisten sind, sollten den Stegreif meiden, damit sie nicht zum Stehen kommen im „Stehgreifspiel“. Sprachbilder, die im Kopf kein Bild mehr malen, sind unnütz, verwandeln sich in leere Redensarten – eben schwierige Wörter.

Kolumne derThüringer Allgemeine, Montagausgabe 27. Mai 2013

Die „Thüringer Allgemeine“ gewinnt den Deutschen Lokaljournalistenpreis

Geschrieben am 17. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

Die Thüringer Allgemeine hat – zusammen mit dem Hamburger Abendblatt – den Deutschen Lokaljournalistenpreis gewonnen für ihre Treuhand-Recherchen. So danken wir unseren Lesern:

Danke! Wir gratulieren unseren Lesern

Der Deutsche Lokaljournalistenpreis ist der Oscar für Zeitungsredaktionen in der Provinz. Keine Ehrung ist angesehener und bedeutender.

Damit werden Redaktionen geehrt, die Trends setzen, Neues entdecken, Konzepte für die Zukunft schreiben und Maßstäbe setzen für andere. Vor allem bekommen Redaktionen seit über dreißig Jahren diesen Preis, die den Leser schätzen, ihn ernst nehmen, sein Wissen und seine Erfahrung nutzen.

So sehr wir Redakteure uns über diese Ehrung freuen, so sehr wissen wir: Es ist vor allem ein Preis für unsere Leserinnen und Leser. Ohne die Mithilfe der Leser hätten wir die Serie nicht schreiben können.
Es waren mehrere Hundert Leser, die uns ihre Erfahrung schenkten, stundenlang mit uns sprachen, Bilder und Dokumente aus Wohnzimmerschränken und von Dachböden kramten, ihre Bewertungen abgaben. Wir haben darüber hinaus 10 000 Blatt aus dem Bundestags-Archiv gesichtet, 20 000 Seiten in Staatsarchiven und Behörden gelesen und 15 Bände Treuhand-Dokumentation nach Fakten für Thüringen durchwühlt.

Wir haben die ehemaligen Treuhand-Manager aus dem Westen eingeladen, damit sie aus ihrer Sicht das Ende der DDR-Wirtschaft und den Start des Thüringer Wirtschaftswunders schilderten. So ausführlich ist noch nie über die Treuhand geschrieben worden, so differenziert erst recht nicht.

Wir verfolgten den Ausverkauf der Planwirtschaft und fanden die ersten Spuren eines Aufschwungs, der vom Fleiß der Thüringer befördert wurde und vom Mut der Pioniere in den Unternehmen, der oft genug ein Wagemut war. Die Treuhand war schwach, die Treuhand war gut – die Treuhand war von allem etwas. Wie auch immer sie vor dem Urteil der Geschichte bestehen wird, eines ist sicher: Sie hat das Leben von Millionen Menschen in Thüringen bestimmt, ihren Alltag, ihre Zukunft, ihre Verzweiflung und ihre Hoffnung.

Die Treuhand ist das Ur-Thema des Ostens: Sie steht für den Zusammenbruch wie für den Aufbau und für alles dazwischen. Wir haben die Geschichten aufgeschrieben, damit sie nicht vergessen werden – auch nicht von der neuen Generation, die neugierig ist auf die Geschichte ihrer Eltern.

Erst zum dritten Mal bekommt eine ostdeutsche Zeitung diese große Auszeichnung: Direkt nach der Wende bekam sie eine Neugründung in Greifswald, die es schon lange nicht mehr gibt; zur Jahrtausendwende erhielt die Volksstimme in Magdeburg die Ehrung – und in diesem Jahr wir.

Wir danken unseren Leserinnen und Lesern! Wir freuen uns mit Ihnen gemeinsam. Und wir sind nicht bescheiden: Wir haben diesen Preis verdient – Leser und Redaktion.

Ein großer Dank gebührt vor allem unseren Redakteuren Dietmar Grosser und Hanno Müller, die über ein Jahr an der Serie arbeiteten, unzählige Ideen hatten und nie müde wurden, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

NSU-Prozess: Wenn Zschäpe vom Teufel besessen ist, geht sie uns nichts mehr an (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 11. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

„Der Teufel hat sich schick gemacht“ – lautete am Dienstag die Schlagzeile der Bildzeitung. Beate Zschäpe wird als Teufel identifiziert, wobei die Boulevardzeitung die Geschlechtsumwandlung nicht stört: Der Teufel wird zur Frau.

Die Redaktion spielt auf einen erfolgreichen Film an: „Der Teufel trägt Prada“. Meryl Streep spielt die von Macht berauschte und schöne Chefredakteurin, die feine Sache trägt, nicht nur Prada. Der Film ist eine Satire.

Der NSU-Prozess ist Wirklichkeit. Erst Elitz, Kommentator der Bildzeitung, schreibt: „Das Böse hat ein Gesicht. Beate Zschäpe“; der Kommentator war immerhin Intendant von Deutschlandradio Kultur, einem angesehenen Sender in Deutschland.

Dürfen wir einen Menschen einen „Teufel“ nennen? Im Alltag denken wir uns wenig dabei. „Teufel“ ist leicht jeder, der seine Macht offen zeigt. Selbst Kinder, die ihren Willen testen, nennen wir „kleine Teufel“ – und nicht selten lächeln wir dabei.

Aber ein „Teufel“ auf der Anklagebank? Das ist nicht mehr zum Lachen, das ist Vorverurteilung, das ist Zerstörung, Dämonisierung eines Menschen, der nicht verurteilt ist. Das ist eines Rechtsstaates unwürdig.

In seinem Roman „Der Name der Rose“ lässt Umberto Eco seinen Helden, den Mönch William, mit einem Abt über das Wirken des Teufels diskutieren. Kann es sein, so William, dass die Richter und das ganze Volk sehnlichst eine Präsenz des Bösen wünschen? „Vielleicht ist das überhaupt der einzige wahre Grund für das Wirken des Teufels: die Intensität, mit welcher alle Beteiligten in einem bestimmten Augenblick danach verlangen, ihn am Werk zu sehen.“

Wer vom Teufel besessen ist, ist von einer fremden bösen Macht gesteuert. Dann können wir uns zurücklehnen und sagen: Sie ist keine von uns, das geht uns nichts an.

Thüringer Allgemeine, geplant für die Kolumne „Friedhof der Wörter“ am 13. Mai 2013

NSU-Prozess: Warum es eine ostdeutsche Sicht gibt – oder: Die Neonazis sind noch da!

Geschrieben am 8. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

Im Schwurgerichtssaal A101 sitzt auch Thüringen auf der Anklagebank, weil dies nun einmal das Land ist, aus dem die Täter kamen.

Das schrieb mein TA-Kollege Martin Debes vor einigen Wochen, kurz bevor der NSU-Prozess eigentlich beginnen sollte. Er erntete in unserer Thüringer Leserschaft einige empörte Reaktionen: Wir haben doch mit den Neonazis nichts zu tun; es ist eine Frechheit, uns mit denen in einen Topf zu werfen!

Auch in den Kommentaren nach meinem Offenen Brief an die FAZ klang Unverständnis bis Ärger durch: Was soll denn eine thüringische Sicht? Ist „Kollektivschuld“ nicht eine maßlose Übertreibung?

„Tingtong“ beispielsweise schrieb:

Allerdings finde ich befremdlich, dass Sie auf eine “ostdeutsche Sicht” hinweisen.
Was ist in diesem speziellen Fall (NSU-Morde) das Besondere an dieser “ostdeutschen Sicht”?

Martin Debes kommentierte parallel zu meinem „Offenen Brief“ seinen „Zwischenruf“ für die Zeitung, das ist der montägliche Wochenkommentar des TA-Reporters:

„Was der NSU-Prozess immer noch mit Thüringen zu tun hat und weshalb wir nicht verdrängen sollten, was offensichtlich ist“:

Es geht darum, dass wir nicht neuerlich verdrängen, was doch so offensichtlich ist. Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe wurden zu einer Zeit erwachsen, als nahezu wöchentlich Ausländer in Jenaer Straßenbahnen verprügelt wurden, als Neonazis in Süd- oder Ostthüringen national befreite Zonen ausriefen und CDs mit nationalsozialistischem Liedgut auf vielen thüringischen Schulhöfen zu bekommen waren.

Ich lebte damals, vor 15, 20 Jahren, in dieser Stadt, studierte vor mich hin und schrieb für Zeitungen. Einige Kommilitonen wohnten in Lobeda, da passte man bei Besuchen auf. Ansonsten ging man den Glatzen, die eher selten im Stadtzentrum auftauchten, einfach aus dem Weg.

Bis auf die langen Haare, die ich damals noch besaß, hatte ich wohl nichts an mir, was sie provozierte. Ich war ja Deutscher.

Für eine Weile wohnte ich zwei Häuser neben der Evangelischen Jugendgemeinde, die sich mit einem eisernen Tor gegen die Angriffe der Rechtsextremen schützte und die, zumindest zuweilen, auch nicht zimperlich gegen die Neonazis vorging. In manchen Nächten herrschte in manchen Gegenden Kriegszustand.

Doch die Lokalpolitik, vom Oberbürgermeister bis zum Stadtrat, ignorierte das alles, genauso wie der Rest der Welt. Als der Spiegel eine Geschichte über Jena schrieb, titelte er von der „Hauptstadt der Intelligenz“. Niemand wollte sich das von Lothar Späth und anderen gepflegte Image der Boomtown Jena kaputt machen lassen.

1998 flüchteten die Drei, um in Sachsen Terroristen zu werden. Das war auch ungefähr die Zeit, als die Neonazis ihre Strategie änderten. Ralf Wohlleben, dem auch in München der Prozess gemacht wird, ließ sich in den Ortschaftsrat in Winzerla wählen.

In Alt-Lobeda bezog er eine alte Kneipe und machte sie zum Braunen Haus. Die Gewalt nahm ab, die Präsenz zu. Die NPD etablierte sich.

Der Sohn meiner Schwester, er ist 18, geht ab und an in den „Hugo“ in Winzerla. Der Club wurde vor einigen Jahren neu gebaut, an Stelle der alten Baracke, in der Beate Zschäpe ihre Uwes kennenlernte.

Der Neffe sagt, selten, jedenfalls nicht oft, kämen einige, wenige Rechte vorbei. Sie fielen kaum auf, weder optisch noch sonstwie.

Aber sie sind noch da.

Thüringer Allgemeine vom 6. Mai 2013

Wörter haben eine Seele oder: Journalisten sind für die Wirkung ihrer Texte verantwortlich

Geschrieben am 6. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

Wo ist Ihr Mitgefühl?

fragt ein Leser nach der Lektüre einer Kolumne, die sich mit dem Dativ beschäftigte: Ist es richtig, in der Überschrift zu schreiben „Mädchen ertrinkt in Ententeich“ – oder muss es heißen „Mädchen ertrinkt im Ententeich“?

Der Leser weiter:

Ein zweijähriges Mädchen ist durch unglückliche Umstände ertrunken. War es nun im oder in Ententeich, das war Ihnen eine Kolumne wert. Fragen Sie mal die Familie, wie wichtig in diesem Fall der Dativ für sie ist.

Meine Antwort:

Sie haben Recht, und Sie haben auch ein Recht darauf, dass ich um Entschuldigung bitte. Zudem ärgere ich mich. Denn in meiner Kolumne „Friedhof der Wörter“, die montags auf der Kultur-Seite erscheint, schreibe ich mit einer Beharrlichkeit, die manche Deutschlehrer ebenso irritiert wie einige der Gebildeten unter unseren Lesern:

Unsere Sprache ist keine Maschine, die nach einem Takt läuft, der einmal festgelegt wurde. Unsere Sprache spiegelt unser Leben wieder, sie ist die Seele der Gesellschaft.

Es reicht also nicht, korrekt zu schreiben. Wichtiger als jeder korrekte Dativ, wichtiger als die perfekte Grammatik ist die Wirkung, die wir mit den Wörtern erzielen.

Wir sind verantwortlich dafür, dass wir korrekt schreiben, aber wir sind auch verantwortlich dafür, was wir anrichten mit den Wörtern. Wir können mit Wörtern ebenso verletzen wie mit dem Sprechen über Wörter, wie mit dem Sprechen über Regeln der Wörter und Sätze. Wörter fordern den Verstand, aber sie berühren auch unsere Seele.

Unsere Sprache ist uralt, reicht zurück in die Steinzeit des Denkens und Fühlens. Also müssen wir den Wörtern und Regeln misstrauen, den alten und erst recht den neuen. Denn die Sprache ist für die Menschen da und nicht umgekehrt.

Der Teufel trifft sich in der von Goethe ausgeschmückten Hexenküche mit Faust. Es ist dieser neugierige Mensch, der entdecken will, was sein Leben und die Welt im Innersten zusammenhält.

„So schwätzt und lehrt man ungestört“, doziert der Teufel als Sprachkritiker und fügt hinzu:

„Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“

Thüringer Allgemeine, unredigiert, 4. Mai 2013 (Leser fragen)

Der NSU-Prozess: Offener Brief aus der Provinz gegen die hochmütige FAZ

Geschrieben am 5. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

Sehr geehrter Herr Schäffer,
verehrter Kollege (wenn Sie diese Anrede nicht als Anmaßung verstehen, denn ich schreibe nicht für eine überregionale Zeitung, sondern für eine Provinzzeitung),

Sie schreiben in der FAS zum NSU-Prozess:

Wie soll Öffentlichkeit in einem Verfahren, in dem die Grundfeste unseres Gemeinwesens verhandelt werden, anders hergestellt werden als durch eine Berichterstattung in überregionalen Tageszeitungen und Wochenzeitungen?

Sie erkennen, dass dies Hochmut ist gegenüber den Regional- und Lokalzeitungen, und sie geben dies auch zu:

Das ist kein Dünkel gegen regionale und lokale Zeitungen. Sie haben ihre Stärke und ihre Funktion. Sie bieten hohe journalistische Qualität, die unsere deutsche Zeitungskultur prägt. Aber wie der NSU-Prozess verläuft, wird auch und gerade jenseits der deutschen Grenzen beobachtet. Das Bild, das sich die Welt von Deutschland macht, wird durch die überregionalen Zeitungen bestimmt.

Das ist ein vergiftetes Lob: Provinzzeitungen sind für Provinzler da, wir schreiben für die Welt. Also stellt Euch in die Ecke, Ihr Lokalzeitungen und Provinz-Redakteure!

Mit Verlaub, geschätzter FAZ-Redakteur, dies ist ein Prozess für die Provinz,  vor allem für die ostdeutsche Provinz. Aus Jena kommen die meisten der jungen Leute, die des Terrorismus angeklagt sind; sie sind im Osten aufgewachsen und haben in Thüringen und Sachsen ihre Unterstützer gefunden.

Die Menschen in der Ex-DDR, die einer unglaublichen Revolution zum Erfolg verhalfen, sind durch die NSU in den Generalverdacht geraten: Im Osten sei der Nährboden des braunen Terrors! Im Osten lebten die Menschen, welche die Mord-Serie erst möglich machten!

Die Regional- und Lokalzeitungen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg haben intensiv über die NSU und die Neonazis recherchiert, haben viele Details ans Licht befördert. Die Lausitzer Rundschau beispielsweise hat einen der Nannen-Preise gewonnen, weil sie sich den braunen Kämpfern entgegen stellte, sich nicht einschüchtern ließ und weiter recherchierte.

Für solch eine Recherche in der Lausitz braucht ein Lokalredakteur kein klimatisiertes Büro und keinen internationalen Vertrieb: Er braucht Mut, weil die Neonazis seine Gesundheit bedrohen, er braucht Zivilcourage, weil er auch einige seiner Leser überzeugen muss, und er braucht eine Chefredaktion, die ihm den Rücken stärkt.

Wenn die FAZ über den Osten berichtet, dann reitet sie nicht selten auf den Vorurteilen durchs Land, die wir in der Provinz überwinden wollen und auch überwunden glaubten. Ich erinnere mich an eine ganzseitige Reportage in der FAZ, in der ein türkischer Arbeiter aus Rüsselsheim durch den Osten fuhr und in der ihn Ihre Reporterin aufforderte, breit anzuprangern, wie grau, schlimm und abstoßend dieser Teil Deutschlands ist.

Mir graut davor, dass Ihr Bild vom Osten in der Welt verbreitet wird. Es sind die Regionalzeitungen aus Thüringen und Sachsen, die wohl am besten, am genauesten und am fairsten über den Prozess in München berichten können. Wir kennen die Milieus, die Eltern, Verwandten
und Freunde der Angeklagten – und wir schreiben für die Menschen, die in eine Art Kollektivschuld genommen werden.

Ja, Sie haben Recht: Es geht um die Grundfeste unseres Gemeinwesens, die aber nicht für das Ausland verhandelt werden, sondern zuerst für die Menschen in Jena und Eisenach, Zwickau und Oberweißbach und den Rest der Republik.

Die Thüringer Allgemeine wird nicht in „rund neunzig Ländern verbreitet“ wie die FAZ. Sie wird nur von knapp einer Million Menschen in Thüringen gelesen, wenn wir unsere beiden Schwesterzeitungen dazu rechnen, für die wir auch über den Prozess berichten – wie auch für ein paar Millionen Leser im Ruhrgebiet, im Sauerland und am Niederrhein, in Braunschweig und Wolfsburg und in Österreich,wo eine Reihe von Zeitungen um unsere Berichte bittet, weil wir die braunen Terroristen und ihr Umfeld kennen.

Sie, verehrter Herr Schäffer, suggerieren in Ihrem offenen Brief an den Präsidenten des Oberlandesgerichts: Nur überregionale Zeitungen und ihre „erfahrenen Berichterstatter“ können den Lesern „ein vielfältiges Bild verschaffen, können vergleichen, können ihre Schlüsse ziehen“.

Bei allem Respekt vor Ihrer Überheblichkeit: Das können wir in der Provinz auch, und wahrscheinlich in diesem Prozess besser als Sie.

Kommentar per Mail am 10. Mai von
Dr. med.Lutz Langenhan

Sehr geehrter Herr Raue, mit teils ambivalentem Interesse verfolge ich aufmerksam Ihre gelungenen Beiträge mit überregionaler Wertschätzung. Hochmut war im frühen deutschen Wortsinn eine Tugend. Herr Schäffler ist eben schlichtweg arrogant! Hoffentlich erinnern sich die Redakteure der FASZ an ihren Lateinunterricht.

„Unausrottbarer Volksglaube“ oder: Wer macht die Sprache? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 4. Mai 2013 von Paul-Josef Raue.

Auf der Leserseite ist mir ein Fehler aufgefallen, dem ich sehr häufig in der TA, aber auch anderswo begegne. ,Erstmal auf eigene Leute setzen‘, lautet eine Überschrift. Richtig müsste es heißen: ,Erst mal…‘, denn es handelt sich um die Kurzform von „,erst einmal‘, und das schreiben Sie ja auch getrennt.

So schreibt ein Leser aus Erfurt an die „lieben Zeitungsmacher“. Der Leser hat Recht, aber der Redakteur hat trotzdem keinen Fehler gemacht. Der Duden empfiehlt „erst mal“ – also eine Empfehlung, keine Regel; „erstmal“ ist möglich, eine „alternative“ Schreibweise. Zudem setzt der Duden „erstmal“ auf seine Liste der „rechtschreiblich schwierigen Wörter“.

Warum drückt sich der Duden vor einer verbindlichen Regel? Wie der Leser korrekt feststellt, ist „erst einmal“ die hochsprachliche Urform. Im Alltag neigen wir aber dazu, Wendungen aus der Hochsprache zu verkürzen. So wird aus „erst einmal“ ein „erst mal“.

Wenn das Alltagswort oft gebraucht wird, schleicht es sich in die Hochsprache, also in die Sprache der Dichter und Journalisten. An der Universität Leipzig schauen Forscher Tag für Tag in die Zeitungen und die großen Internet-Seiten: Welche Wörter werden heute am meisten benutzt? In den Jahren wuchs eine große Sammlung des deutschen Wortschatzes. Der Wettlauf zwischen „erstmal“ und „erst mal“ hat keinen eindeutigen Sieger, beide Schreibweisen kommen ähnlich oft vor.

Wolfgangs Peters‘ Hinweis auf die Logik reicht nicht hin. Unsere Sprache, die sich auch auf der Straße bildet, ist nicht immer logisch. Das verwandte Adverb „erstmals“ schreiben wir zusammen – verbindlich. Und auf der Straße holen wir zwischen „erst“ und „mal“ keine Luft. Das spricht für die Ein-Wort-Lösung. Die Ursprungsform „erst einmal“ legt die Zwei-Wörter-Lösung nahe.

Ich wage die Prognose: „Erstmal“ setzt sich durch. Das Volk und mit ihm eine ausreichend große Zahl von Journalisten wird dafür sorgen – auch wenn das „Zwiebelfisch-ABC“ des Spiegel, wo die Hohepriester der Sprache richten, zur Volksbeschimpfung greift:

Entgegen einem unausrottbaren Volksglauben wird ,erst mal‘ in zwei Wörtern geschrieben.

Thüringer Allgemeine, geplant für den 6. Mai 2013

Wie die Ziehung der Lottozahlen: Pressekarten zum NSU-Prozeß

Geschrieben am 29. April 2013 von Paul-Josef Raue.

Wir wischen uns die Augen und denken: Das kann doch nur Satire sein – Heute-Show, Scheibenwischer oder Neues aus der Anstalt. Die Anstalt ist ein diesmal Gericht, und die Satire läuft so:

An einem Frühlingsmorgen in München treffen sich ein Richter und eine Aufsichtsperson, gespielt vom Ex-SPD-Chef Hans-Jochen Vogel, zur Ziehung der Lottozahlen, Pardon: zur Ziehung der Pressekarten für den Neonazi-Prozess.

Eine Direktübertragung der Ziehung fand nicht statt, so dass die Frage bleibt: Sind alle Kugeln auch in die Trommel gefallen? Das ist keine abwegige Frage: Vor wenigen Wochen blieben zwei Lotto-Kugeln stecken, trotz notarieller Aufsicht. Die falschen Zahlen wurden verkündet. Ein Gewinner mit sechs Richtigen ging leer aus, weil nochmals gelost werden musste. Zum Trost kam der Gewinner groß in die Bildzeitung.

Wie beim Lotto fand auch im Münchner Gericht die Verkündigung vor laufenden Kameras statt. Man nennt so etwas ein Medien-Ereignis, wohl gemerkt: Nicht der Prozess-Auftakt, sondern die Presse-Lotterie.

So etwas kann die beste Satire nicht leisten. Das unwürdige Schauspiel fand wirklich statt – im Münchner Oberlandesgericht. Aus Ärger über ein Urteil des Verfassungsgerichts verschob das Gericht den Prozess und verordnete eine Lotterie. Dabei wäre das Verfassungsgericht schon zufrieden gewesen, hätte man drei Stühle für türkische Journalisten in den Saal 101 gestellt.

Große Medien mit internationaler Bedeutung wie die FAZ oder die „Welt“ sind durchgefallen, politisch unauffällige wie „Brigitte“ oder „Radio Lotte“ aus Weimar sind dabei. Das Gericht in München hat eine der großen Prinzipien unseres Rechtsstaats lächerlich gemacht: Die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren. So viel Häme hat unsere Demokratie nicht verdient.

Leitartikel der Thüringer Allgemeine für den 30. April 2013 (unredigiert)

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