Wenn Gott promoviert (Friedhof der Wörter zur Schavan-Affäre)
Wer in die Geschichte der Wörter schaut, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Nehmen wir ein Wort, das in der Schavan-Affäre die zentrale Rolle spielt: Promovieren.
Hat die Ministerin promoviert? Oder wurde sie promoviert?
Das ist nicht nur eine Frage für Fachleute, die transitive Verben untersuchen, sondern auch eine Frage der Moral:
- Hat die Ministerin promoviert, also selber den Doktor-Titel erlangt? Dann trägt sie allein die Verantwortung.
- Wurde sie promoviert? Dann ist die Verantwortung zumindest geteilt: Wer jemanden promoviert, muss prüfen, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist – Abschreiben inklusive.
„Promovieren“ taucht in der deutschen Sprache vor einem halben Jahrtausend auf und wird aus dem Lateinischen entlehnt, man dürfte auch sagen: abgeschrieben. In ihrem Wörterbuch erklären die Brüder Grimm: „Einen oder etwas weiter, vorwärts bringen, fördern, befördern.“
Das ist die ursprüngliche Bedeutung des Worts: Jemanden nach vorne bringen – also beispielsweise mit einem Doktortitel.
Die Förderer müssen keine Professoren sein, auch Gott kann förderlich sein. Diesen Satz fanden die Brüder Grimm bei Abraham a Santa Clara, einem berühmten Volksdichter im 17. Jahrhundert:
„Gott wird uns nicht verlassen, sondern unsere Waffen mit seinen göttlichen Segen promovieren.“
Wer historisch korrekt sein will, lässt also promovieren: Gott oder Professoren samt einer kompletten Fakultät. Unter solch mächtigen Instanzen erscheint ein armer Sünder oder eine arme Studentin doch eher klein.
Thüringer Allgemeine, geplant für 11. Februar 2013
Wann beginnt journalistisches Kesseltreiben gegen Politiker?
Manchmal irritiert mich die Selbstgerechtigkeit unserer Zunft: Zu viele klopfen sich auf die Schultern, ja rühmen sich, die Ministerin Schavan fertig gemacht zu haben. Ist es Aufgabe von Journalisten, Politik zu machen, Minister zu stürzen?
Sicher haben Journalisten Macht, vor allem die Macht und die Pflicht, zu recherchieren und den Mächtigen auf die Finger zu schauen und zu klopfen. Wir schreiben im Handbuch dazu im Kapitel „Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht“:
Über Verfehlungen von Politikern lässt sich sagen: Die Presse hat so viele aufgedeckt, dass vermutlich kein hohes Risiko besteht, Verstöße gegen das Recht oder den politischen Ehrenkodex könnten lange unter der Decke bleiben. Zuweilen scheint eher die umgekehrte Sorge berechtigt: dass ihre Macht einige einflussreiche Journalisten dazu verführt, gegen einen Politiker auch wegen einer Lappalie ein Kesseltreiben zu veranstalten.
Ein Kesseltreiben beginnt, wenn
– die Verfehlung nicht ausreichend recherchiert ist (etwa im Fall Schavan: Warum lässt die Uni Düsseldorf keinen externen Gutachten zu? Warum hat die Universität vor Jahrzehnten nicht ausreichend bei der Promotion geprüft?)
– die Verfehlung lange zurückliegt.
Dazu mein Leitartikel zum Schavan-Rücktritt, geplant für die Thüringer Allgemeine 11. Februar 2013 mit dem Titel „Die Gnade des Vergessens“:
Wissen Sie noch, welche Dummheiten Sie mit 25 gemacht haben?
Joschka Fischer zum Beispiel gehörte der Gruppe „Revolutionärer Kampf“ an, die Gewalt als Mittel der Politik gutheißt; er marschierte bei Demonstrationen mit, die in Straßenschlachten endeten.
Joschka Fischer wurde Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.
Annette Schavan war eine fromme junge Frau, die auch Theologie studierte, mit 25 Jahren promoviert wurde mit einem Thema über die Bildung des Gewissens; danach wählte sie katholische Bischöfe zu ihren Arbeitgebern.
Annette Schavan wurde auch Ministerin der Bundesrepublik; sie trat am Sonntag zurück, weil sie mit 25 nicht gewissenhaft gearbeitet haben soll.
Das sind zwei Politiker-Schicksale in Deutschland zu einer Frage, die nicht nur in der Politik gestellt wird: Wie lange dürfen uns unsere Fehler vorgeworfen werden? Wann soll, ja muss das Vergessen beginnen?
Das Bürgerliche-Gesetzbuch nennt als Frist für Verjährung drei Jahre; es gibt einige Ausnahmen. Diese Frist ist vor einem Jahrzehnt radikal verkürzt worden – um aus einer rachsüchtigen Gesellschaft eine tolerante zu machen.
Im Strafrecht darf ein Totschläger nach zwanzig Jahren mit Verjährung rechnen; nur wer mordet, ist von der Gnade des Vergessens ausgeschlossen.
So weit sind unsere Gesetze. Wie weit sind wir, die Bürger eines freien Landes? Müssen wir die Kunst des Vergessens noch lernen?
(zu: Handbuch-Kapitel 3 Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht + 48-49 Presserecht und Ethik)
Was ist korrekt: Selbständig oder selbstständig? (Friedhof der Wörter)
„Wann führt die TA endlich die Rechtschreibreform ein?“, fragt Peter Nolze, ein Leser der Thüringer Allgemeine aus Kranichfeld. Immerhin habe eine Expertenkommission getagt – „und die Vorschläge von klugen Menschen sollte man als verbindlich annehmen“.
Als Beispiel führt der Leser das Wort „selbstständig“ an und lobt die Redakteure: Immerhin schreiben sie „selbstständig“ mittlerweile richtig.
Ein Blick ins Archiv zeigt: Auch in der TA findet man noch die alte Schreibweise „selbständig“ ebenso wie in renommierten Zeitungen wie dem Tagesspiegel aus Berlin oder dem Magazin Spiegel.
Also – „selbständig“ ohne das doppelte „st“. So sprechen wir, so lernen es junge Leute am besten: Geschrieben wie gesprochen.
Wer regelmäßig diese Kolumne liest, kennt meinen Grundsatz: Verständlich und logisch soll die Sprache sein, unmissverständlich und schön – und korrekt. Wer nur korrekt, aber unverständlich schreibt, verwirrt jeden Leser, erst recht „die armen Kinder in der Schule“, an die der Kranichfelder Leser denkt.
Wer bestimmt überhaupt, was korrekt ist? Der Duden? Nein, er registriert, was üblich ist. Sollten die Bildzeitung und die Süddeutsche Zeitung den Analphabeten durchweg in einen „Analfabeten“ verwandeln, dann stünde der „Analfabet“ nach einigen Jahren im Duden – als korrekte Schreibweise.
Thüringer Allgemeine 4. März 2013
Astrid Lindgrens „Neger“ und Walter Ulbrichts „Klopse“ (Friedhof der Wörter)
„Königsberger Klopse“ standen auf dem Speiseplan von Chefkoch Günther Griebel, als 1969 Walter Ulbricht in Oberhof Silvester feierte. Der 78jährige Staatsratsvorsitzende fuhr nicht nur Ski, sondern bereitete sich im Thüringer Wald auf seine TV-Rede zum neuen Jahr vor.
Im MDR-Fernsehen dieser Woche erzählte der Chefkoch von „Ulbrichts Nobelherberge in Oberhof“: Ulbrichts Frau Lotte kam, zeigte auf den handgeschriebenen Speisezettel und krittelte an den Königsberger Klopsen herum; erst dachte der Koch, sie wolle einen anderen Hauptgang, dann merkte er: Lotte mag das Wort nicht – „Königsberg“.
Im April 1945 hatte die Rote Armee die ostpreußische Hauptstadt nach einer erbarmungslosen Schlacht eingenommen, ein Jahr später in Kaliningrad umbenannt. „Königsberg“ gab es nicht mehr.
Um alle Erinnerungen an die deutsche Zeit, vor allem die Nazi-Zeit, zu löschen, kamen sogar die Klopse in Verruf. Wörter sind eben oft auch politische Wörter.
In diesen Tagen ist ein ähnlicher Streit wieder laut geworden: Dürfen wir literarische Texte verändern und Wörter wie „Neger“ und „Zigeuner“ löschen?
Vor vier Jahren verschwand der Neger aus „Pippi Langstrumpf“, geschrieben von Astrid Lindgren, immerhin Trägerin des alternativen Nobelpreises und des Friedenspreises der Deutschen Buchhandels; ein weiterer Liebling der Kinder, Otfried Preußlers „Kleine Hexe“, soll in der Neuauflage negerfrei werden.
Die eine Hälfte der Deutschen findet das nach einer Emnid-Umfrage richtig, die andere Hälfte spricht dagegen; doch je höher die Bildung, desto geringer die Zustimmung zur Löschung.
In der Tat ist der „Neger“ rassistisch, doch ist ein Gespräch mit Kindern über das Wort sinnvoller als seine Beerdigung. Wir können Geschichte verstehen, aber nicht löschen.
Thüringer Allgemeine 28. Januar 2013 (geplant)
Dirk Koch, Ex-Chef des Bonner „Spiegel“-Büros, erzählt vom harten Leben in Irland: Ein Roman so wild wie das Meer
In Irland leben arme, aber stolze Menschen. „Die Iren, ein verdammtes Volk von Dieben, hinterhältige Strandräubern auf einem Felsen im Atlantik. Die Römer wussten schon, warum die hier nicht hinwollten“, sagt Katrin, Murts letzte Liebe, als die beiden zum verbotenen Fischfang in die Bucht ziehen.
Mit Katrin endet nicht nur „Murt“, der Roman, sondern auch Murts Leben. Die zwei Jahrzehnte jüngere Frau hat dem alten Fischer den Kopf verdreht und ihn zum ersten Mal in seinem Leben glücklich gemacht.
„Wenn man jetzt plötzlich stirbt, ist es gut“, flüstert sie ihm ins Ohr, als sie sich aneinander schmiegen und lieben – auf Wolldecken über Jutesäcken, gefüllt mit frischem Heu, dessen Duft das Leben leicht macht.
Doch als Murt stirbt, ist Katrin längst auf und davon gelaufen.
In jeder Krankenschwester sieht der verwirrte Alte seine Liebe, seine Katrin. Und wenn sie ihn fragen, ob er Angst vorm Sterben habe, antwortet er leise lächelnd: „Alte irische Fischer sterben nicht.“
Dirk Koch hat Murts Leben aufgeschrieben, hat viele Geschichten, die er beim Whiskey gehört hat, zum Roman eines stolzen Iren verdichtet – prall voll mit Leben und Tod, mit Liebe und Hass, mit guten wie bösen Geistern; mit Krabben, die Joe den Daumen abschneiden, und Fasanen, die sich berauschen an Weizenkörnern, in Rum getränkt; mit Lehrern, die mit Weidenruten in die Handflächen der Schüler klatschen, und Priestern, die Geld und Gin mehr lieben als ihren Gott.
Dirk Koch ist selber ein Ire geworden, ein halber allemal. Er leitete die Hauptstadt-Redaktion des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ und dann die Brüsseler Redaktion. In Irland, direkt am Atlantik, kaufte er sich damals ein einsames Haus, als die Deutschen noch mit Bölls „Irischem Tagebuch“ auf dem Sofa vom rauhen Leben an rauher See träumten. Im Ruhestand nun fährt Koch mit seinem Boot aufs Meer, geht mit den Nachbarn auf die Jagd und lässt abends am Kamin die Flasche kreisen.
„Woher hat Dein Großvater das? Alles erfunden?“, fragt einer Harry, der von Großvater Murt erzogen wird, nachdem Vater und Mutter gestorben sind. „Nix erfunden“, sagt Harry, „woher der das gewusst hat? Ja, so vom Erzählen, sein Großvater hat es ihm erzählt, und der hatte es von seinem Großvater…“
Und der hat es dem deutschen Reporter erzählt, der keine weichgespülten Geschichten mag, sondern harte Storys ohne romantischen Schnickschnack – aber auch zu viele Adjektive, ohne die ein Spiegel-Redakteur offenbar nicht auskommt.
In den Geschichten wird unentwegt getötet, Kaninchen, Hirsche, Fische und Ehemänner – es wird auf jeden Fall mehr getötet als geliebt. Harry, Murts Enkel, lernt das Töten am Meer, hört schon in jungen Jahren solche Geschichten und „spürt dieses wohlige Gefühl in Brust und Bauch, das Pochen des Blutes, wenn er über Gewalt und Grausamkeiten redet“.
Kochs Roman ist auch ein Bildungsroman, aber nicht im Goetheschen Sinn – „mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden“ -, sondern als Gegenentwurf: Der junge Harry bildet sich mit und gegen die wilde Natur, gegen die Barbarei seiner Umgebung.
Gelesen wird wenig in Harrys junger Welt, erzählt wird viel. Geschrieben wird wenig – und wenn dann schreibt eine geschlagene Frau auf den Seitenrand eines frommen Buchs. Nur so ist sich Kitty sicher, dass ihr Ehemann nichts entdeckt – der reiche Geizhals, der sie vergewaltigt und demütigt.
Kitty verwahrt das Buch, dessen Umschlag ein Herz, ein Kreuz und einen Strahlenkranz zeigt, verwahrt Federhalter und Tintenfass unter dem Bett in ihrer Kammer über dem Hühnerstall. Das ganze Leid ihres Lebens steht am Rand des Buches. Die letzten Eintragungen, bevor sie ihren Mann erschlägt, sind:
„Er hat mich eine fischige Drecksau genannt. Er hat mir wieder kein Geld für Margarine, Brot und Kerzen gegeben… Er will sein Testament ändern und mich enterben… David hat mich wieder getreten.“
Dieser Roman ist so wild wie das Meer, an dem es spielt; so derb, wie die Menschen auf der Insel des Mondes; so dramatisch erzählt – wie eben die Kerle erzählen in den Kneipen, wenn sie vom Fischfang nach Hause kommen und sich bewusstlos trinken.
Dirk Koch: Murt. Books on Demand, 17.90 Euro.
Markiert (Zitate aus dem Roman)
Über dem Dach dreht sich der Tod im Wind. Der Lehrer hat die schwarze Blechgestalt im langen Kapuzenmantel, das Stundenglas in der Hand, die Sense über der Schulter, beim Hufschmied in Auftrag gegeben.
Der Lehrer weiß, dass die Leute sich fürchten. Er hat seinen Spaß daran. Der junge Priester auch, der ihn oft abends besucht und ihm glucksend Beichtgeheimnisse aus der Nachbarschaft zutuschelt, wer Unzucht hatte mit einem Schaf…
*
„Hass ist, wenn Du einen töten kannst, und es tut Dir nicht leid hinterher“, sagt der Großvater. Früher hätte er die Briten gehasst, die gottverdammten Unterdrücker des irischen Volkes, „das Gott auserwählt hat“, so richtig gehasst. Jetzt nicht mehr. „Lohnt sich nicht“.
Thüringer Allgemeine, geplant für 26. Januar 2013
„Kein anderes Medium hat ein besseres Image als die Tageszeitung“
Die journalistische Stärke der Zeitung hebt Inga Scholz heraus, die neue Geschäftsführerin der Zeitungsgruppe Thüringen (zu der die TA, die OTZ und die TLZ gehören). Ein Auszug aus ihrer Rede beim Neujahrsempfang der Zeitungsgruppe:
80 Prozent der Deutschen lesen Zeitung – als gedruckte Version oder im Netz. Die Zeitung ist auch im Netz die Nachrichtenquelle Nummer 1. Und damit ist Zeitung auch weiterhin das erfolgreichste Informationsmedium, schneller und lebendiger als je zuvor.
In dieser Diskussion um die Zukunft gilt es zu unterscheiden zwischen einer Debatte um Verbreitungskanäle und Kommunikationsinhalte.
Die Diskussion beinhaltet etwas ganz anderes: Es geht um den Wert von Verlässlichkeit, um die Glaubwürdigkeit von Information. Mit der ständig wachsenden Informationsflut wird die Verlässlichkeit der Informationsquelle immer bedeutender. Das ist gut für uns Zeitungen, denn damit steigt auch die Bedeutung von seriösen journalistischen Inhalten.
Zeitung ist vertrauenswürdig. Zeitung ist seriös: Sie kennen die Absender und wissen, wer beschreibt, einordnet, bewertet. Unsere Zeitungen geben den Thüringern Verlässlichkeit, Heimat, Zugehörigkeit und Orientierung. Wir sind mit den Menschen im Freistaat untrennbar verbunden, weil wir die gleiche Geschichte haben, wir leben hier, wir sind hier zu Hause, so wie Sie: Wir können Ereignisse aus thüringischer Sicht einordnen, wir sind Verbündeter und auch Spiegelbild des Lebens – ob im Netz oder als gedruckte Version.
27 Millionen Deutsche lesen Zeitungen online im Netz. Damit haben die deutschen Tageszeitungen mehr Nutzer als T-online oder „ebay“…Kein anderes Medium hat ein besseres Image als die Tageszeitung – und unsere Werbekunden profitieren davon: Konsumenten vertrauen Zeitungswerbung von allen Werbegattungen am meisten. Sie vertrauen der Marke Zeitung – das hat mit Papier nichts zu tun, sondern mit dem Absender der Botschaft.
(zu: Handbuch-Kapitel 5 Die Internet-Revolution + 57 Wie können Zeitungen überleben)
„Das Führen einer Redaktion ist keine basisdemokratische Veranstaltung“ (Peter Gehrigs Interview zu seinem Abschied)
„Ich hätte mir einen erfreulicheren Schluss meines Berufslebens gewünscht“, sagt Peter Gehrig nach über vierzig Jahren bei der deutschen AP, davon zwei Jahrzehnte als Chefredakteur. Sang- und klanglos ließ ihn seine Agentur, die dapd, in den Ruhestand ziehen.
Erst war in Berlin ein großer Abschied im November geplant, dann ein kleiner, am Ende fehlte sogar das Kleingeld für ein stilvolles Abendessen. Dabei war Peter Gehrig einer der besten Chefredakteure Deutschlands, wahrscheinlich der beste, wenn es ums Handwerk ging, um Professionalität.
Aus seiner Agentur AP in Frankfurt kamen Texte, die so gut redigiert waren wie keine anderen Agenturtexte – ohne die Aktualität aus den Augen zu verlieren. In seinem Zimmer in der Moselstraße stand ein Stehpult, an dem er jede Stunde die Texte las, die über den Draht gegangen waren: Er holte das Team kurz zusammen und verteilte die Noten.
Regelmäßig gab er für seine Redakteure eine Übersicht heraus mit misslungenen und manchmal auch gelungenen Textpassagen. Die waren gefürchtet, er war respektiert, ja geschätzt. Keiner in unserer selbstverliebten Branche hat von seinem Ausscheiden Kenntnis genommen, keine Medienseite hat ihn geehrt.
Die Volontäre der Thüringer Allgemeine, die er regelmäßig ausbildet, führten ein Interview mit ihm, das sie zwar überarbeiten mussten, das aber am 5. Januar ganzseitig in der Samstagausgabe erschien.
Fünf Sätze hebe ich heraus:
1. Wie führe ich eine Redaktion? „Das Führen ist keine basisdemokratische Veranstaltung. Am Ende muss einer sagen, wo es langgeht – und die Verantwortung dafür übernehmen.“
2. Was ist notwendig in den Redaktionen der Zukunft? „Mehr Spezialisierung und auch mehr wirtschaftliches Denken. Jeder Journalist muss heute daran denken, dass die Zeitung ein Produkt ist, dass dieses Produkt verkauft werden muss. Der Journalist ist also zugleich Marketingmanager seiner Zeitung.“
3. Welche journalistischen Elemente werden wichtig bleiben? „Die Einordnung und die Erzählung werden bedeutender, die Nachrichten verlieren an Gewicht.“
4. Was ist das A & O des Journalismus auch in der Zukunft? „Recherche – nur wer gut recherchiert, kann auch gute Geschichten schreiben. Wer glaubt, alles schon zu kennen oder vorher zu wissen, ist kein Journalist.“
5. Was muss ein Journalist unbedingt lernen? Man muss etwas selber herausfinden! Als Peter Gehrig in seinem ersten Artikel einen Fehler gemacht hatte, ließ sein Chef ihn lange zappeln. Als der ihm doch seinen Fehler offenlegte, fragte ihn Gehrig: „Hättest du mir das nicht gleich sagen können? Er hat geantwortet: Nein, wenn du das alleine herausgefunden hättest, wäre das besser gewesen.“ – Das ist eine alte Methode, die sokratische.
Das ist das komplette Interview in der TA, überschrieben „Der Nachrichten-Mann“:
Wie sind Sie 1972 ins olympische Dorf von München gekommen? Es war doch alles gesperrt, nachdem Palästinenser die Israelis als Geiseln genommen hatten?
Peter Gehrig: Ich bin morgens um sechs mit einer Gruppe von amerikanischen Schwimmern einfach durchgeflutscht. Die kamen vom Training aus einer Halle, die außerhalb des Dorfes lag. Ich kam mit den Athleten ins Gespräch und irgendwie muss mein Presseausweis für die Kontrollen wie eine Eingangsberechtigung ausgesehen haben. Und dann war ich einfach drin im olympischen Dorf.
Für einen jungen Reporter eine Situation, wie man sie sich wünscht. Möglichst nah am Geschehen . . .
Im Laufe des Tages hieß es ja, alle Geiseln hätten überlebt. Ich verfasste meine Berichte tagsüber und gab sie alle drei, vier Stunden an unsere Zentrale durch. Per Telefon, was damals nicht so einfach war, denn ich musste eine Telefonzelle nutzen und mir war das Kleingeld ausgegangen. Ellen Titel, eine damals sehr bekannte Mittelstreckenläuferin der Bundesrepublik, half mir mit Kleingeld und gab mir eine Mark fürs Telefon. Wir arbeiteten den ganzen Tag unter Hochspannung und hatten uns gegen Mitternacht gerade etwas entspannt, als ein amerikanischer Kollege kam und sagte: They are all dead. Sie sind alle tot. Ich musste weinen; es hat mich so berührt wie wenig anderes in meinem Berufsleben.
Hart, gerecht, korrekt, fachlich exzellent. Das sagen Weggefährten über den Journalisten Peter Gehrig – Was haben sie vergessen?
Die Milde des Alters ist noch hinzugekommen. Aber im Ernst: Das Führen einer Nachrichtenagentur oder einer Redaktion überhaupt ist keine basisdemokratische Veranstaltung. Das habe ich meinen Leuten immer gesagt, denn am Ende muss einer sagen, wo es langgeht und die Verantwortung dafür übernehmen. Das schließt Teamarbeit ausdrücklich ein, aber nur bis zu bestimmten Grenzen.
Seit einem Monat sind Sie nun im Ruhestand. Gibt es einen Masterplan für den Rentner Gehrig?
Sobald man auf die Pensionierung zugeht, wird man von allen Leuten gefragt: »Was machst du denn danach?« Wenn ich dann sage, »das weiß ich nicht« »Das musst du doch wissen, du kannst doch nicht einfach nichts tun!« Natürlich kann ich nichts tun, ich kann auch irgendetwas tun. Es wird sich schon etwas finden. Aber ich habe keinen Entwurf für die nächsten 40 Jahre meines Lebens.
Haben Sie Angst vor Stillstand in Ihrem Leben nach dem stressigen Agenturleben?
Angst ist übertrieben; es könnte schon sein, dass ich in ein Loch falle. Aber ich habe eine liebe Frau und genug Bücher, um mich aus diesem Loch herauszuholen. Außerdem habe ich zwei Enkel, die mir viel Freude machen. Und ich werde bestimmt auch weiter schreiben.
Was denn?
Einen Roman möchte ich gerne schreiben. Es gibt verschiedene Dinge der letzten drei, vier Jahre, die ich mir von der Seele schreiben muss. Und da ich keinen Therapeuten in Anspruch nehmen möchte, werde ich das auf die einzig mir zur Verfügung stehende Art und Weise tun.
Welche Dinge sind das?
Mit einem Freund werde ich ein e-book, also eine digital abrufbare Buchversion, über Nachrichtenagenturen und Medien schreiben. Und danach möchte ich über das Ende der AP in Deutschland und die Übernahme durch die Herrschaften von dapd schreiben. Und über die Entwicklung nach der Übernahme.
dapd ist 2010 groß ins Agenturgeschäft eingestiegen und hat »Ihre« AP übernommen und mit der Agentur ddp verschmolzen. Vor drei Monaten ist alles geplatzt. dapd hat Insolvenz angemeldet. Für Sie persönlich muss diese Insolvenz doch besonders tragisch sein am Ende eines bewegenden und erfolgreichen Berufslebens?
Die Insolvenz macht mich sehr traurig. Die zwei Investoren aus Bayern, die Herren Löw und Vorderwülbecke, haben einfach den Geldhahn zugedreht. Das ist vor allem sehr, sehr traurig und beschämend für viele Weggefährten, die nicht wie ich das Rentenalter erreicht haben. Aber auch ich hätte mir einen erfreulicheren Schluss meines Berufslebens gewünscht.
Zurück zu den Momenten, die Ihnen sonst in Erinnerung geblieben sind. Sie haben da mal eine ziemlich hohe Telefonrechnung eingereicht …
Als im Jahre 1977 der von deutschen Terroristen ermordete Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer nahe dem französischen Mülhausen gefunden wurde, bin ich hingefahren. Da gab es bekanntermaßen noch keine Handys; also bin ich, um meinen Text an die Zentrale durchzutelefonieren, in die nächstliegende Kneipe gegangen. Die hieß »Le crocodile vert«, also »Das grüne Krokodil«. Nun, es war mehr ein Bordell, denn eine Kneipe. Ich bat den Wirt, ob ich kurz telefonieren könnte. Er sagte, er habe keinen Zähler, aber ich könnte pauschal mit einer Lokalrunde bezahlen. Gesagt, getan. Ich brauchte einige Überredungskünste hinterher in meiner Firma, um die 700 Francs, also etwa 120 Euro, erstattet zu bekommen für das kurze Telefonat.
Als jahrelanger Chefredakteur einer Agentur gehörten die Zeitungen immer zu wichtigen Kunden. Wo sehen Sie die Tageszeitung in zehn Jahren?
Die Tageszeitung wird sich weiter am Internet entlanghangeln müssen. Lokaljournalismus ist meist etwas für ältere Menschen. Der demografische Faktor spielt eine große Rolle dabei. Es gibt aber noch kein gut gemachtes lokales Angebot im Internet. Und solange es gut gemachte lokale Angebote im Print gibt, werden diese sich behaupten können.
Also kann eine Zeitung nur im Lokalen überleben?
Im Großen und Ganzen ja. Das Informationsangebot für internationale, nationale und überregionale Themen gibt es im Internet. Außerdem wird es weniger Menschen geben, die sich für das interessieren, was in Brüssel passiert. Die, die die Debatte des Bundeshaushalts als ein Muss-Seite-1-Thema sehen, werden stetig weniger.
Aber warum? Die Leute sind doch nicht dümmer geworden?
Nein, aber die haben andere Informationsquellen. Die gehen ins Internet oder schauen die Tagesschau. Solange der Lokaljournalismus nicht im Internet mit der gleichen Qualität stattfindet, kann man nur auf einer lokalen Ebene überleben.
Würden Sie sich angesichts dieser Entwicklung noch mal für den Beruf des Journalisten entscheiden?
Auf jeden Fall. Die Arbeit als Journalist hat mir ein Leben lang Spaß gemacht. Ich habe 44 Jahre und vier Monate weitgehend mit Freude gearbeitet in einem Spaßberuf und habe noch Geld dafür gekriegt. Viel mehr kann man vom Berufsleben nicht verlangen.
Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Beitrag?
Und wie! Ich habe in der Auslandsredaktion der AP gearbeitet. Mein erster Beitrag war ein Bericht über eine Explosion irgendwo in Frankreich mit 14 Toten. Den Bericht hat mir mein Vorgesetzter vier Mal mit der Bemerkung »falsch« wieder auf den Tisch gefeuert. Ich war verzweifelt, weil die Nachricht von der Konkurrenz schon im Rundfunk war und habe den Bericht wieder und wieder neu geschrieben. Ich wusste einfach nicht, wie ich da noch anders schreiben sollte. Dann habe ich die Geduld verloren und gesagt: »Was ist denn falsch daran?« Da hat er gesagt: » Als verbindet zwei zeitgleiche, voneinander unabhängige Ereignisse. Die Menschen sind nicht gestorben, als die Gasleitung explodiert ist, sondern weil die Gasleitung explodiert ist.« Da habe ich gefragt: »Hättest du mir das nicht gleich sagen können? Er hat geantwortet: Nein, wenn du das von alleine herausgefunden hättest, wäre das besser gewesen.«
Müssen Journalisten heute andere Dinge können als vor 30 Jahren?
Heute wird mehr Spezialisierung und auch mehr wirtschaftliches Denken gefordert. Jeder Journalist muss heute daran denken, dass die Zeitung ein Produkt ist, dass dieses Produkt verkauft werden muss. Der Journalist ist also auch zugleich Marketingmanager seiner Zeitung. Auch das Handwerk hat sich verändert. Lange Texte sind in der Zeitung kaum noch gefragt. Außer in Blättern wie der »Zeit« oder dem »Spiegel«. Bei Tageszeitungen ist eine Meldung kaum über 150, 200 Wörter lang. Das wird sich aber wieder ändern. Und zwar je eher die Zeitung ein eigenständiges, hoffentlich gegen Bezahlung funktio-nierendes, Internetmodell auf die Beine stellt.
Es wird immer Journalisten geben?
Der Mensch an sich ist neugierig. Er will wissen, was passiert. Nicht nur auf der hohen politischen Ebene, sondern der will auch unterhalten werden. Die Leute wollen von ihrer Umgebung genauso wissen wie von fernen Ländern. Die wollen nicht unbedingt wissen, ob der Herr Laurent Dagbo an der Elfenbeinküste irgendetwas macht, sondern die wollen wissen: Wie ist es an der Elfenbeinküste? Also Lesestoff wird das sein, was die Zukunft bestimmt. Den Beruf des Aufschreibers wird es immer geben. Irgendjemand muss es ja tun, damit es andere lesen können.
Mehr erzählen, weniger nüchtern berichten?
Nachrichten werden weiter an Gewicht verlieren, die Einordnung und die Erzählung werden noch bedeutender.
Was raten Sie jungen Journalisten?
Nehmt viel auf! Wer viel aufnimmt und viel weiß, kann auch viel wiedergeben. Wir alle sollten neugierig und mit offenen Augen durch die Welt gehen. Recherche bleibt das A und O. Nur wer gut recherchiert, kann auch gute Geschichten schreiben. Wer glaubt, alles schon zu kennen oder vorher zu wissen, ist kein Journalist.
(Das Gespräch führten die TA-Volontäre Lavinia Meier-Ewert, Julius Jasper Topp, Christian Gehrke, Mira Mertin, Friedemann Knoblich und Chefreporter Dirk Lübke)
(zu: Handbuch-Kapitel 46 Wer hat die Macht? + 57 Wie können Zeitungen überleben + 19 Die Nachrichtenagenturen + 2-4 Die Journalisten)
Schon Gregor Gysi war vor 18 Jahren gegen den „Ehrensold“ (Friedhof der Wörter)
„Ehrensold“ wählten die Leser der Thüringer Allgemeine zum Unwort des Jahres. Aber wie bei den meisten Wörtern, die zum Unwort werden, meinen die Leute die Sache – oder einen Menschen, den sie verachten – und weniger das Wort.
- Was spricht gegen den „Ehrensold“ für rund fünfhundert Künstler in Not, denen unser Staat jährlich rund drei Millionen Euro schenkt?
- Wer gönnt ehrenamtlichen bayrischen Bürgermeistern nicht die siebenhundert Euro, die sie nach ihrem Ausscheiden als „Ehrensold“ erhalten?
- Wer schüttelt den Kopf über Mozart, der als „kuk-Kammerkompositeur“ einen „Ehrensold“ bekam?
Christian Wulff dagegen wollen viele ehrbare Bürger den Ehrensold verweigern, weil er als Bundespräsident weder vorbildlich war noch vertrauenswürdig. Zwar gab es auch andere, die in der Kritik „etwas Hämisches, geradezu Rachsüchtiges“ entdeckten, doch sie blieben eine Minderheit.
Erstmals kam der „Ehrensold“ vor achtzehn Jahren in Verruf durch Gregor Gysi und Bundestagsabgeordnete der PDS. Auch sie meinten einen Menschen, dem sie den „Ehrensold“ wegnehmen wollten: Der Dichter Ernst Jünger diente, so ihre Begründung, schon vor der Nazi-Diktatur einer „faschistischen Ideologie“ und habe 2000 D-Mark im Jahr nicht verdient.
Der Ehrensold für Christian Wulff erledigte sich übrigens nicht mit seinem Ableben. Seiner Witwe, so es eine gäbe, stünden bis zu ihrem Lebensende rund 120.000 Euro zu.
Ob das Bettina Wulff weiß?
„Ehrensold“ ist Thüringer Unwort des Jahres
„Ehrensold“ ist für die Leser der Thüringer Allgemeine das Unwort des Jahres. Das von Christian Wulff in Verruf gebrachte Wort lieferte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit „Schleckerfrauen“.
Auf den Plätzen drei bis fünf folgen „Nazi-Trio“, „Gehbahn“ und „Mobilitätseingeschränkt“. Die TA-Leser brachten auch eigene Vorschläge wie „Vertafelung“, „Feldrandhygiene“ oder „Patientendisziplin“.
Die FAZ-Leser wählten Anfang Januar mit weitem Abstand „Migrationshintergrund“ zum Unwort des Jahres vor „Work-Life-Balance“, „Burnout“, „Powerfrau“ sowie abgeschlagen „Studentenberg“ und „Zickenkrieg“.
Professor Nina Janich, Sprecherin der großen „Unwort“-Jury“, sagte der TA: Ehrensold ist auch bei den bundesweit eingegangenen 2232 Vorschlägen unter den fünf am häufigsten genannten. Am Dienstag gibt die Jury ihre Entscheidung bekannt.
(zu: Handbuch-Kapitel 56 Service und Aktionen + 11 Verständliche Wörter)
Migrationshintergrund ist auch Thema in der Kolumne „Friedhof der Wörter: http://www.journalismus-handbuch.de/faz-leser-wahlen-unwort-des-jahres-migrationshintergrund-friedhof-der-worter-2657.html
FAZ-Leser wählen Unwort des Jahres: Migrationshintergrund (Friedhof der Wörter)
Am 15. Januar erfahren wir, welches Wort die Jury zum „Unwort des Jahres“ gewählt hat. Rund fünftausend Leser der „Frankfurter Allgemeine“ haben schon abgestimmt, ein Drittel hat „Migrationshintergrund“ abgewählt: Diskriminierend, fast beleidigend, zutiefst rassistisch – so lauteten einige der Begründungen.
Das Wort war schon im Dezember 2007 in dieser Friedhofs-Kolumne beerdigt worden, damals noch in der Braunschweiger Zeitung. Es ist vor allem eins: überflüssig und unscharf.
Was sind das für Menschen, die Menschen mit Migrationshintergrund? Ist es der Flüchtling aus Syrien? Der Auswanderer von der Wolga? Die Gastarbeiterin aus dem Baskenland? Die Asylantin aus Bangladesh? Die Vertriebene aus dem Memelland? Der Wanderarbeiter aus Kleinpolen? Die Einwanderin aus Anatolien mit türkischem Namen und deutschem Pass?
Jedes dieser Wörter verweist auf eine eindeutige Eigenschaft wie Flüchtling oder Gastarbeiter; jedes dieser Wörter ist jedermann verständlich. Allenfalls Soziologen mögen einen Oberbegriff nützlich finden für Menschen auf Wanderschaft.
Doch selbst der Tübinger Professor Karl-Heinz Meier-Braun von der „Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen“ schrieb schon 2004: „Der Begriff Migration ist schillernd.“
In einem „Positionspapier“ – auch ein Kandidat für den „Friedhof“ – schreibt das „Forum Menschenrechte“: Die „zirkuläre Migration“ ist ein Begriff „der für sich genommen noch nicht viel aussagt und der sich wohl auch deswegen politisch einer gewissen Beliebtheit erfreut“; so kann er auch von Politikern als „Schlagwort“ verwendet werden.
Also lassen wir ihn schillern, überlassen die „Migration“ den Soziologen und nutzen klare Begriffe – ohne jeden Hintergrund.
Thüringer Allgemeine, geplant für 7. Januar 2013
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